Die letzte Sphäre

Benutzeravatar
Meister
Beiträge:916
Registriert:22 Dez 2006, 22:48
Die letzte Sphäre

Beitrag von Meister » 17 Aug 2014, 02:19

Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

Benutzeravatar
Meister
Beiträge:916
Registriert:22 Dez 2006, 22:48

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Meister » 17 Aug 2014, 03:07

Die Letzte Sphäre


Auszüge aus bekannten, weniger bekannten und seltenen Schriften, Apokryphen und Werken. Zusammengetragen von Hieronymusz Klammberg, Diener des Meeres.

~~~


Der Brudermord

Im Land Cüd, wohin der Eine das Menschenvolk getrieben hatte, nachdem Arth und Levia den Baum der Quelle gesehen und seine Frucht probiert hatten, so wie es der Meshiha Deghala ihnen gewiesen hatte, da lebte ein Mann, und er hatte zwei Söhne. Der Name des einen Sohnes war Kenan. Der Name des anderen Sohnes lautete Abil. Beide Söhne wurden von ihrem Vater gleichsam geliebt. Er stellte den einen niemals über den anderen, denn es war eine Sünde in den Augen des Einen, einen Menschen zu verachten - gleich was er getan hätte, gleich ob er für die Arbeit auf dem Feld oder andere Dienste weniger geeignet wäre als der andere.
Kenan war sehr fromm; er sprach am Tag drei Gebete und achtete Mann wie Frau. Er schaute kein Weib unsittlich an und schwor, erst neben einem Mädchen zu liegen, wenn es sein Ehweib wäre. Abil hingegen sprach nur ein Gebet - immer, wenn er der Arbeit fernbleiben wollte, denn er war nicht so fleißig und geschickt wie Kenan. Aber der Vater liebte beide Söhne. Denn Blut wiegt alles andere auf, so sagt es der Eine.
(...)
Am fünften Tag der Woche sah Kenan eine Frau, und die Frau sah ihn. Sie erkannten sich. Fromm wie Kenan war, bat er den Vater des Mädchens um Erlaubnis. Fromm wie er war, bat er den eigenen Vater um Erlaubnis. Beide Väter sahen, dass Fruchtbarkeit das Paar segnen würde. Am siebten Tag der Woche tauschten sie die Ringe und wurden Ehmann und Ehweib. Wie es die Schrift sagt, versprach er, sie zu umsorgen. Wie es die Schrift sagt, versprach sie, ihm zu dienen. Wie es die Schrift sagt, liebten sie sich in der ersten Nacht, begleitet von den Bettfrauen des Weibes.
(...)
Aber so oft sie danach strebten, es gelang ihnen nicht. Jarna konnte ihm kein Kind schenken. In seiner Verzweiflung lief Kenan eines nachts hinaus auf das Feld und sprach zum Einen: "Herr, ich diene dir und ich bete. Ich bestelle die Felder und arbeite, damit mein Weib und meine Familie satt werden. Ich bin ein frommer Mann. Bitte schenke mir einen Sohn, der meinen Namen tragen kann."
Aber der Eine schien ihn nicht zu hören.
Wie die Jahre vergingen, verlor Kenan seinen Mut. Auch sah er sein Weib kaum noch an. Die Arbeit ruhte, und Kenan trank, um zu vergessen.
(...)
Doch eines Tages, die Hoffnung war ganz aufgegeben, da kam ein Mädchen zur Türe hinein und sprach zu Kenan: "Mein Herr, mein Herr, ein großes Glück ist geschehen. Euer Ehweib, es erwartet ein Kind!"
Aber Kenan freute sich nicht. Er wusste, dass ein anderer sie gebettet haben musste - denn er hatte sein Weib lang nicht mehr berührt.
"Sprich, wer hat dich in sein Bett geholt, Weib?", fragte er.
Sein Weib antwortete ehrlich, denn sie fürchtete noch größeren Zorn, würde sie die Wahrheit verschweigen. "Es war dein Bruder Abil. Er hat dein Unglück gesehen und meines."
(...)
Und Kenan nahm einen Stein und erschlug seinen Bruder.
(...)
"Du hast meinen Sohn ermordet. Ich verbanne dich, ich verfluche dich!", rief der Vater. Und er brandmarkte Kenan, dass jeder ihn als Mörder erkennen würde."
(...)
Nachdem sein Vater ihn verbannt hatte, irrte Kenan vierzig Tage durch eine endlose Nacht - wenn es für andere hell war und der Himmel leuchtete, war es für ihn kalt und schwarz. Sangen die Vögel, hörte er nur das Krächzen der Harpyien. Bat er anderswo um Obdach, weil der Regen wie Feuer brannte, sah man das Brandzeichen und fluchte, bis er das Weite suchte und wie ein Wurm in die Erde kroch.
(...)
"Herr, mein Bruder Abil hat zuerst gegen deine Gebote verstoßen, als er mir mein Weib genommen hat. Ich habe immer gebetet, ich war fleißig und dir ergeben. Warum hast du mich verlassen?"
Da verschwand das Brandzeichen, und der Herr schenkte ihm ein Mal auf der Stirn. "Ich gebe dir dies Zeichen. Es soll dich beschützen vor der Rache der Menschen. Aber du wirst immer rastlos sein, bis an dein Lebensende, das noch fern ist."
(...)
Im hohen Alter suchte Kenan einen stillen Ort, um die letzten Tage in Ruhe und Einsamkeit verbringen zu können. Jahre war er gewandert, ohne je länger als einen Tag irgendwo zu verweilen. Nun war er müde und schwach. Er fand einen alten Baum, an den er sich lehnte. Dann schloss er die Augen und sah dennoch die Lebensgeister, die ihn verließen. Er fand die ewige Tür mit seinem Namen darauf. Als er sie öffnete, da war ihm ganz warm. "Für immer und ewig", flüsterte er, als er sein Weib sah, wie es seinen Sohn in den Armen hielt.
(...)
Doch wie er die Augen öffnete, da stand er auf dem Feld. Und die Arbeit war schwer. Er sprach seine Gebete, und er schwor, sich erst dann mit einem Weib zu vereinen, wenn sie seine Ehfrau wäre. Abil hingegen sprach nur ein Gebet - immer, wenn er der Arbeit fernbleiben wollte, denn er war nicht so fleißig und geschickt wie Kenan. Aber der Vater liebte beide Söhne. Denn Blut wiegt alles andere auf, so sagt es der Eine.

--- aus den heiligen Schriften Tectarias, überliefert von Cerdano von Giltheas
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

Benutzeravatar
Meister
Beiträge:916
Registriert:22 Dez 2006, 22:48

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Meister » 17 Aug 2014, 03:15

Über das Mysterium

Das Wesen des Unbegreiflichen ist das, worüber hinaus nichts größeres gedacht werden kann.

Ad Primo:
Das Chaos ist gesichtslos. Was wir an bösen Erscheinungen kennen, sind lediglich geformte Ideen von Chaos.

Ad Secundo
Die Finsternis ist daher die Essenz des Chaos, das Prinzip an sich.

Ad Tertio:
Es ist wahr, das Chaos existiert seit Anbeginn der Zeiten, aber die Ordnung auch. Denn das Mysterium ist alles, was möglich ist. Und Kheldron alles, was wirklich ist.

Ad Quarto:
Durch die Synthese von Mysterium und Akasha ist so eine feste Enklave der Harmonie und Ordnung entstanden, die das sogenannte Böse zu vernichten trachtet.

Ad Quinto:
Wahr ist, ohne die Dunkelheit könnten wir das Licht nicht erkennen. Erst durch die Dunkelheit lernen wir das Licht zu schätzen. Insofern ist die Dunkelheit ein Impuls für uns.

Ad Sexto:
Des Menschen Pflicht ist es, die Ordnung zu bewahren. Denn er hat von den Göttern den Verstand als göttlichen Funken erhalten, sich zwischen Chaos und Ordnung zu entscheiden.

Ad Septo:
Der Mensch bewahrt die Ordnung, in dem er seine Seele, den Pfand der Götter, zu ihnen zurückbringt auf das sie nicht dem Chaos anheimfalle.

Ad Octo:
Das Chaos ist darauf aus, uns die heiligen Urkräfte des Mysteriums zu stehlen. Denn mit jedem Verlust wird die Ordnung und die Existenz schwächer.

Auf dass diese Worte den Weg zu den Verblendeten finden!

--- aus: "Mysteriengesänge", unbekannter Verfasser aus Tectaria, etwa 200 v.G.B.
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

Benutzeravatar
Meister
Beiträge:916
Registriert:22 Dez 2006, 22:48

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Meister » 17 Aug 2014, 03:22

Über das Mysterium und andere Dinge / Die Elemente und anderes

Und wer Unsterblichkeit erlangen will, der füge sich denen, welche sie schon erreicht haben.

§ 1
Unendlichkeit

Der Anfang war unendliches Chaos. Und weder Raum noch Zeit beherrschten den Kosmos. Unendliches Werden und Vergehen kennzeichnet den Beginn, wie wir armen Geister ihn fassen mögen. Fremdartigste Wesen formten sich und vergingen wieder, nur um wieder zu entstehen und zu verschmelzen, um dann zu zerspringen in Myriaden von Splittern. Es war ein System ohne jeglichen Sinn, es gab kein Gut und kein Böse. Sinnloses Sein war es, und es glich dem Nichtsein.

§ 2
Kataklysmus und Ordnung

Diese kataklystischen Ereignisse brachten sich aber unweigerlich in einen Zusammenhang. Aus den unendlichen Möglichkeiten formte sich Amur. Dies war vor einer Million Jahren. Und er streifte durch die Unendlichkeit. Er formte aus den Splittern eine neue Ordnung, der er als einzig lebendes Wesen von Dauer vorstehen wollte.

§ 3
Der Jäger und seine Geschwister

Der Jäger aber war voller Zorn, als er die schlafende Riesin fand. Neben ihm sollte doch kein Wesen von Dauer sein, darum griff er sie an, denn sie sollte sterben. Ein Äon dauerte der Kampf der Urwesen. Bevor ihr Leib starb, konnte sie ihn verwunden.

(...)

§ 27
Das Siebte Element

Neben den bereits in den Paragraphen 15 bis 20 genannten Elementen und deren Hexalogien gibt es auch ein siebtes Element, was die Hexalogie in eine heptalogisch angeordnete Weltformungstheorie umwandelt. Dieses Element ist die arkane Kraft. Da sie aber in der Lage ist, als Meta-Element zu agieren, also die anderen Elemente manipulieren kann, ist es vielleicht eher eine Energieform, welche elementare Transmutationen begleitet.

(...)

§ 156
Kronos

Manch einer hält Kronos für einen Nachfahren der Urriesen, ein anderer glaubt, er sei mit Amur identisch. Ein anderer mag denken, er sei ein Dämon, und die Männer des Nordens nennen ihn den Allvater.
Was immer stimmen mag: Er ist der Lenker der Zeit, er blättert in seinem Buch, er segelt über das Meer im Mathricodon.
Wohl dem, der nicht unsterblich ist, hat er doch geringere Last auf kleineren Schultern zu tragen.

--- aus: "Mythologische Paragraphen aus dem Tractatus Sphaerologica", unbekannter Verfasser aus Samariq, der diesen Decknamen auch in anderen Werken verwendet: Maldur Marduk Et Kavurik.
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

Benutzeravatar
Meister
Beiträge:916
Registriert:22 Dez 2006, 22:48

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Meister » 03 Sep 2014, 14:01

Die gefährlichen und unglaublichen Forschungen des Jonathan Klamm
(Unbekannter Verfasser, nur in Auszügen erhalten.)

~~~


1
Auf Reisen

Derweil die Kutsche über die holprige Straße polterte, prüfte er seine Uniform. Einen Knopf musste er verloren haben, aber mit etwas Glück war Lord Briol ohnehin wieder betrunken. Seit des Zwischenfalls vor einigen Monaten trank Briol sehr viel. Er hatte dem Alkohol vor Jahren abgeschworen, doch der Tod seiner geliebten Ehefrau, das Fieber der Kinder und der Krieg hätten wohl aus jeder Askese schnell etwas anderes gemacht.
Jonathan Klamm, Offizier Ihrer Majestät und Archäologe, trank selbst nur sehr wenig. Nicht etwa weil er besonders um seine Gesundheit besorgt wäre, immerhin hatte er verschiedene andere Laster.
Nein, vielmehr hatte er in den letzten Monaten kaum Gelegenheit gehabt, auf eine Gesellschaft zu gehen oder mit seinen wenigen Freunden eine Spelunke aufzusuchen, denn vor zwei Jahren hatte er eine zufällige Entdeckung gemacht. Es war auf seiner ersten großen Forschungsreise gewesen, weit weg vom Königreich, mitten in der Wüste. Heute würde er kaum noch an einen Zufall glauben, hatte ihn das seltsame Grabmal doch bis in diese Kutsche geführt:
"Jonathan, du solltest dir etwas ansehen", sagte Peter, einer seiner Studenten. Sie verzichteten auf Förmlichkeiten, seit sie mit den Nomaden getrunken hatten.
"Wieder ein seltenes Mineral?", fragte er und schaute zur Kiste, in der sie die Kristalle gesammelt hatten, die Hassan ihnen gestern gezeigt hatte. Die Steine waren fast durchsichtig, hatten keinen besonderen Schliff, aber schienen dennoch von Menschen bearbeitet zu sein.
"Nein, das hier ist größer. Die Karte deines Vaters stimmt. Wir sind hier richtig."
Jonathans Herz schlug höher. Nachdem sein Vater vor Kriegsbeginn gestorben war, hatte er ihm seinen gesamten Besitz vermacht. Das Haus, den Landsitz südlich der Stadt und ein Lagerhaus an der Werft. Und ebendort hatte er eine Karte entdeckt. Sie war versehen mit einer unbekannten Keilschrift und zeigte einen Platz in der Wüste. Er hätte sie nicht weiter beachtet und einfach einem Professor in der Akademie gegeben, wenn die Schriftzeichen in der Nacht nicht geleuchtet hätten. Keine besondere Tinte oder Papier - und doch glänzte jedes Zeichen heller als die Sterne. Die Archäologische Gesellschaft hatte in diesem Jahr eine Ausschreibung ausgerichtet, aber Jonathans Chancen waren gering gewesen; aus keinem guten Hause, noch keinerlei Erfahrung und gerade erst den Abschluss geschafft, alles hatte gegen ihn gesprochen. Als er eines abends Xins Höhle verlassen hatte, den Geist und die Gedanken durch Rauch vernebelt, war ihm ein Mann gefolgt. Als junger Offizier hatte Jonathan fast immer eine Waffe bei sich, doch bevor er überhaupt hatte handeln können, hatte man ihm einen Sack über den Kopf gestülpt und in eine Kutsche gerissen. "Was geht hier vor?"
Keine Antwort, bis die Kutsche angehalten hatte und noch jemand eingestiegen war. Dann fuhren sie wieder. "Wer ist da?", fragte er, nicht ohne einen Hauch ordentlichen Protestes in der Stimme. So viel hatte er sich gar nicht in die Pfeife stopfen lassen, dass er jetzt halluzinieren würde. Nein, alles passierte wirklich.
"Entschuldigung. Dieses Theater ist leider notwendig. Ich möchte Sie ungern in Verlegenheiten bringen, wenn Sie mit mir gesehen werden. Sie können das jetzt abnehmen."
Neben ihm saß der Mann, die Waffe steckte er wieder in die Koppel. Auf der anderen Bank sah er eine Frau. Sie trug einen großen Hut mit Federn darin, ihr Gesicht war durch einen dunklen Schleier verborgen.
"Wer sind Sie, was wollen Sie?"
Sie stellte sich vor. "Ich habe ein Angebot. Da ich denke, dass Sie es annehmen werden, habe ich diesen Aufwand auf mich genommen. Sie sind die richtige Person."
Er hatte von ihr gehört. Ihre theosophischen Auslegungen waren berühmt und berüchtigt. "Ich glaube nicht an das, woran Sie glauben."
Sie kicherte. "Das spielt keine Rolle. Glauben Sie an frühere Leben? Glauben Sie daran, dass Geschichte sich wiederholen kann? All das spielt keine Rolle. Halten Sie Akasha für wahr oder nicht? Glauben Sie daran, dass wir ewig leben? Glauben Sie an den Jungbrunnen, an Gnome und Geister? All das ist unwichtig, denn Sie haben die Karte gesehen."
"Woher wissen Sie davon?"
"Sie haben die Schrift gesehen und was geschieht, wenn es dunkel ist. Es ist kein Beweis für irgendetwas. Lediglich dafür, dass Sie die Ausschreibung gewinnen müssen."
Er nickte langsam. Damit lag sie richtig. Die Zeichen hatten seine Neugier geweckt, und die Forschungsreise wäre ein Sprung nach vorn. Er konnte es sich nicht leisten, aber durchaus träumte er davon. "Was haben Sie davon?"
"Beweise. Ich verzichte auf jeden Gewinn. Ich will nur dabei sein, wenn Sie Ihre Funde präsentieren."
"Weil es Ihre Theorien bestätigen würde?", fragte Jonathan.
"Nicht nur das. Alles wird sich ändern, mein Freund. Ich werde Sie finanzieren, wenn Sie mich lassen. Sie werden Zeichen und Wunder sehen."
Damals hatte er gedacht er wäre verrückt, als er zugestimmt hatte. Heute war es die beste Entscheidung seines Lebens gewesen, die ihn in die Wüste geführt hatte.
"Dort, unter der zweiten Düne", sagte Peter und zeigte auf die Grabungsstätte. Hassan und die anderen hatten ein etwa drei Schritt tiefes Loch ausgehoben.
Als Jonathan hinab sah, traute er seinen Augen nicht. Eine Stiege aus einem glänzenden völlig unbekannten Metall führte nach unten. Er nahm eine Laterne zur Hand und folgte Hassan und Peter hinein. Ein schmaler Gang endete in einer kleinen Halle. Der Fund war vielleicht nicht vergleichbar mit den großen Pyramiden, aber immerhin schien es ein kleines Grabmal zu sein. Er suchte sofort nach einem Sarkophag. Stattdessen fanden sie in einer Ecke eine Statue.
"Erstaunlich gut erhalten, oder? Aber welche Gottheit ist das?", fragte Peter.
Hassan schüttelte den Kopf. "Das ist keine, die ich kenne."
Die Statue war ungefähr zwei Schritt hoch. Es handelte sich um einen zweibeinigen Löwen, der eine Art Tiara in der Mähne trug. Aber was Jonathan und die anderen noch mehr überraschte, war das Skelett, das dahinter zu sehen war. "Es ist ebenso gut erhalten... ganz erstaunlich", murmelte Hassan.
War es ein Kind? Selbst die Kleidung war gut erhalten. Ein grünes Gewand, auch die Stiefel hatten diese Farbe. Neben der rechten knöchernen Hand lag ein Stab, halb in Sand und Staub verborgen. Jonathan nahm einen Pinsel und befreite das Artefakt von den Spuren der Vergangenheit, dann zog er sich Handschuhe an und berührte den Stab vorsichtig, um nichts zu beschädigen.
"Vorsicht!", rief Hassan, als das obere Ende begann zu leuchten. Ein heller Strahl ging davon aus und endete an der linken Wand des Grabmals. Ein paar Steine lösten sich, und als der Staub verflogen war, entdeckten sie dort eine weitere Karte, mit Farben auf das Gestein gemalt.
"Unglaublich...", flüsterte Peter, während Hassan schnell Stift und Papier zur Hand hatte, um die neue Karte abzuzeichnen.
Am gleichen Abend noch hatte Jonathan eine Nachricht an die Archäologische Gesellschaft geschickt, denn die Karte stimmte überein mit der Hügellandschaft nördlich von Delabole. Eine zweite kleinere Karte, die sie an der anderen Wand entdeckt hatten, zeigte einen noch unbekannten Steinkreis in der Nähe von Amesbury, westlich vom großen Kreis.
Dass es in der Wüste Hinweise auf Orte in der Heimat gab, tausende Meilen entfernt, hatte die Professoren einhellig entscheiden lassen, Jonathan auch diese Reise anzuvertrauen. Eine Reise, die - so fühlte es sich an - gerade erst begonnen hatte.
Und heute, am 4. April 1893, spürte Jonathan Klamm, Offizier und Archäologe Königin Victorias, dass die Wohltäterin ihn zu seiner Bestimmung geführt hatte. "Zeichen und Wunder", hatte Madame Blavatsky gesagt.
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

Benutzeravatar
Tharon
Beiträge:4108
Registriert:22 Dez 2006, 20:06
Wohnort:Iserlohn

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Tharon » 18 Jun 2015, 14:19

2
Amesbury, westlich von Stonehenge

Jonathan betrachtete sein kreidebleiches Gesicht im Spiegel. Übel war ihm nicht mehr, aber es dauerte wohl noch eine Weile, bis er wieder Farbe im Gesicht haben würde. Das passierte ihm immer, wenn er auf Reisen war. Früher hatte es ihn wesentlich stärker mitgenommen; noch zwei Tage darauf konnte er nicht aufhören, sich zu übergeben. Mit der Zeit hatte er sich weitgehend daran gewöhnt. Er sah zu Hassan, der schmunzelnd im Zelteingang auf ihn wartete. "Kommst du? Ich dachte, du konntest es kaum erwarten?", fragte der dunkelhäutige Begleiter.
Er nickte und folgte Hassan hinaus. Am anderen Ende des kleinen Lagers, das sie am Fuße des Hügels aufgeschlagen hatten, warfen die Steine dunkle Schatten auf das feuchte Gras. "Ich frage mich, wieso niemand vorher dieses Grab entdeckt hat. Ich meine, schaut es euch an", sagte Jonathan zu Hassan und den anderen. Er zeigte auf das Loch, das sie noch unterhalb des eigentlichen Steinkreises ausgehoben hatten. "Es war doch selbst für ungeübte Augen nicht zu übersehen, dass der Boden an der Stelle anders ist."
Tatsächlich war es einer der Arbeiter gewesen, dem es zuerst aufgefallen war. Er hatte die Wachhunde in der Nähe angebunden und wollte gerade an einer der Zedern seine Notdurft verrichten. Jonathan hatte bemerkt, dass der Arbeiter plötzlich angefangen hatte, den Boden abzuklopfen. "Du musst es nicht vergaben", hatte ein anderer gesagt und gelacht. "Halt's Maul Spinner. Das hab' ich nicht vor. Der Boden, der Boden sieht einfach komisch aus." Sofort hatte Jonathan alle anderen Arbeiten unterbrochen.
In der Tat kam es ihm vor, als wäre die Erde hier im kleinen Zedernwäldchen nicht nur trockener, sondern überhaupt nicht aus der Gegend. Die üblichen Schichten aus Lehm oder Ton gab es zwar auch hier, aber das Sandgemisch schien ihm viel höher zu sein. Etwas fing das Regenwasser auf. Nachdem sie erst mit grobem Werkzeug und dann mit feineren Instrumenten Schicht um Schicht abgetragen hatten, hatte sich ihnen ein mit Sandstein und Obsidian ausgekleidetes Grab präsentiert. "Wieder unerwartet...", murmelte er. "Was meinst du... wie kam es hierher?", fragte Hassan, der offenbar dieselben Schlüsse gezogen hatte wie er. Selbst die Arbeiter, die bereits auf Jonathan und Hassan warteten, schienen es zu denken: Das Grab wurde mit Materialien ausgestattet, die es hier nie gegeben hatte. Zumindest nicht nach allem, was man sicher zu wissen glaubte.
"Den Sandstein könnte man noch erklären. Es ist nicht gerade unwahrscheinlich, dass wir irgendwo in der Region dieses Material auffinden würden. Vielleicht in Zwischenschichten, vielleicht auch tiefer. Aber Obsidian? Niemals. Das Material wurde hierher gebracht. Es muss einen Zweck haben, einen Grund. Man hätte das Grab auch mit hiesigem Gestein abdichten und stabilisieren können, aber man hat sich für Vulkanglas entschieden. Seht ihr hier Anzeichen für Vulkane? Ich nicht." Er sah in die Runde der aufmerksamen Zuhörer, dann fuhr er fort. "Wir wissen, dass die Steinkreise ebenfalls mit großem Aufwand errichtet wurden, dass das Gestein über hunderte von Meilen hierher transportiert worden ist. Von wo es gekommen ist... dort hat es auch keine Vulkane. Um ehrlich zu sein: Es ist dermaßen unwahrscheinlich, diese riesigen Mengen an Vulkangestein hier zu finden, dass es eine Sensation ist."
Und sie hatten den Sarkophag noch gar nicht geöffnet. Wie auch die Wände war der Sarg aus Sandstein und Obsidian geformt worden. Die Verzierungen auf dem Deckel zeigten einen Kreis, der senkrecht unterbrochen war von einer geraden Linie. In beiden Hälften waren Figuren abgebildet, die sich entweder versuchten, zu umarmen oder anzugreifen - je nach Perspektive des Betrachters. Unter diesem Bildnis war eine Schrift, die von Pilzen und Erde bedeckt wurde. Vorsichtig nahm Jonathan einen Pinsel und legte die Gravierung frei.
"Ich werd' verrückt!", rief der Arbeiter, der beinahe auf das Grab gepinkelt hatte. Hassan atmete aus. Jonathan hörte ungläubiges Gemurmel aus den Reihen der Arbeiter. Die Schrift bestand aus Buchstaben, die den lateinischen Buchstaben so ähnlich war, dass man sie lesen konnte. Ein paar Umstellungen im Aufbau, und es handelte sich schließlich um verständliche Sätze, die Jonathan laut las: "Der Mensch bewahrt die Ordnung, indem er seine Seele, den Pfand der Götter, zu ihnen zurückbringt, auf dass sie nicht dem Chaos anheimfalle."
Es kam Jonathan vor, als würde jeder das Vorgelesene auf sich wirken lassen - ob er es begriff oder nicht; denn keiner sprach. Er selbst verstand vielleicht am wenigsten davon, obwohl er den Satz einordnen konnte. Vor ein paar Jahren - er hatte gerade Xins Etablissement verlassen - war er durch die Straßen geschlendert und auf eine kleine Menschenmenge gestoßen. Ob es das Opium war, das ihn wie einen Lurch durch das Gedränge schlängeln ließ, vermochte er nicht zu sagen. Vorn angekommen, hörte er wie die Stimme Madame Blavatskys gerade einen Vortrag mit genau diesen Worten schließ. Von ihren merkwürdigen Lehren und Ansichten hatte er natürlich gehört: Wiedergeburt, heilige Urkräfte und Mysterien, Theosophie eben. Er hielt wenig davon. Aber diesen Satz hatte er nicht vergessen. Madame Blavatsky glaubte an eine seltsame Erscheinung, die sie Akasha nannte. Eine Art Raum ohne Grenzen, materialisiert in einem Buch, das sie Buch des Lebens nannte. "Das Element aller Elemente", hatte sie es bezeichnet.
"Wo bist du mit deinen Gedanken?", fragte Hassan und unterbrach eben diese.
"Es ist ein Mysterium...", murmelte Jonathan. Dann fasste er sich wieder: "Bereitet alles vor. Wir müssen den Sarkophag bergen."
Nach einer Stunde hatten sie das Objekt in die Mitte des Lagers transportiert und eine große Plane darüber gespannt, um es vor dem einsetzenden Regen zu schützen. Die Abenddämmerung hatte schon begonnen.
Mit einer kleinen Laterne leuchtete Hassan jede Stelle des geschlossenen Sarges aus. "Willst du ihn jetzt öffnen?", fragte er.
"Na, was denkst du...?"
Gemeinsam mit Hassan und den Arbeitern, jeder hatte ein Brecheisen zur Hand, hob Jonathan den Deckel an. Erst war er sehr schwer zu heben, dann ging es immer leichter. Sie schoben ihn auf eine Seite, dann gingen einige herum und packten ihn so, dass sie ihn vorsichtig absetzen konnten. Alle starrten in das Innere. Wieder ungläubiges Raunen. Der Leichnam darin war nicht mumifiziert oder in irgendeiner Form konserviert worden. Es war, als hätte sich der Mann mit dem langen schwarzen Haar zur Ruhe gelegt und würde jeden Moment aufwachen. Er trug ein Gewand, Handschuhe und ansonsten keinerlei Schmuck bei sich. Die Arme waren gekreuzt auf die Brust gelegt worden. Den Gesichtszügen nach war der Tote ungefähr vierzig bis fünfzig Jahre alt gewesen, als er starb. Als Hassan ihn näher betrachtete, zeigte er auf die Hände: "Er hat etwas bei sich." Vorsichtig entnahm Hassan dem Leichnam einen kleinen Stein aus Obsidian, demselben Material, welches das Grab auskleidete.
"Wer ist das?", fragte ein Arbeiter.
"Eine ausgezeichnete Frage", antwortete Jonathan.
Dann bellten die Wachhunde. Sofort liefen einige der Männer von der Mitte des Lagers zum Zedernwäldchen, andere zur anderen Seite. Der Mond war schon aufgegangen, und der Regen hatte dichten Nebel hinterlassen. Aus dem alarmierten Gebell wurde ein Jaulen, dann Stille. Hassan zog seine Pistole, Jonathan tat es ihm gleich. Auch sie liefen jetzt zu den Zedern, wo die Wachhunde angebunden waren. Die Männer waren nicht zu sehen. Einige hörte man rufen, aber die Nebelwand verbarg Entfernung und Sicht wie ein grauer Schleier. "Die Hunde...", flüsterte Hassan. "Sie sind weg."
Jonathan schaute auf zum Mond. Keiner der Arbeiter war noch zu hören. Die geladene Waffe in der einen Hand, die Laterne in der anderen lief er in Richtung des Hügels, wo die Steinkreise waren. Der Regen musste heftiger gewesen sein als er gedacht hatte, denn er stapfte durch tiefe Pfützen. Einer seltsamen Ahnung folgend leuchtete er den Boden aus. Es waren Blutlachen, durch die er watete. Abgetrennte Arme und Beine der Arbeiter lagen am Fuße des Hügels herum. "Hassan", rief er leise. Keine Antwort. Er hatte ihn aus den Augen verloren. Dann ein Knurren. Er leuchtete wieder in Richtung des Steinkreises.
Wölfe. Da waren Wölfe. Vorsichtig machte er einen Schritt rückwärts. Und stolperte.
Wie er zwischen den Körperteilen lag, sah er die Wölfe. Sie näherten sich. Durch das fahle Mondlicht und den Nebel sahen sie aus wie behaarte Schatten, versehen mit riesigen Zähnen und grünen Augen, die durch das Laternenlicht zu glühen schienen. Jonathan zitterte am ganzen Leib, als er die Laterne losließ und - immer noch liegend und den Kopf angehoben - mit beiden Händen die Pistole hielt und auf den größten der Wölfe zielte. "Nein...", flüsterte er. Er zögerte. Der Wolf stand nun auf zwei Beinen. Die Gestalt veränderte sich. Verschwommen wie durch Glas sah Jonathan, wie nun ein nackter Mann vor ihm stand. Er wirkte trotzdem nicht weniger wie eine Bestie.

Benutzeravatar
Tharon
Beiträge:4108
Registriert:22 Dez 2006, 20:06
Wohnort:Iserlohn

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Tharon » 17 Jun 2017, 01:42

3
Jonathan und die Tür

"Zeichen und Wunder, nicht wahr?", flüsterte Madame Blavatsky, nachdem Jonathan seinen Bericht beendet hatte. In seinen Gedanken war er immer noch in jener Nacht, sah die Leichen der Arbeiter, den verstümmelten Körper Hassans und die Körperteile, die - kaum noch zu erkennen - einst Peter gehört hatten. Und er dachte an das, was der Mann ihm erzählt hatte. Der Mann, der ein Wolf war. Die alten Mythen, Werwölfe, Feen und Gnome, wie konnte das alles nur wahr sein? Keiner würde ihm glauben. Keiner, nur die Madame.
"Zeichen, ja. Wunder? Es ist alles belegt. So unfassbar es auch ist. Trotzdem wird man mich im besten Fall ausschließen aus der Akademie. Im schlechtesten Fall werde ich verantwortlich gemacht werden für den Tod derer, die mich begleitet haben."
"Und ist das in irgendeiner Form wichtig?" Madame Blavatsky lächelte. Es war das Lächeln einer Frau, die genau gewusst hatte, was er finden würde. Eine Person, die keinen einzigen Gedanken den Opfern ihres Feldzuges widmete. Ihrer Queste gegen jene, die all diese Geheimnisse nicht kannten und bestenfalls ignorieren - im schlimmsten Falle abstrafen würden.
Und ein Teil in Jonathan verstand sie. Das erlangte Wissen schien einen Preis zu fordern. Zu erwarten. "Es ist wichtig, weil man mich verhaften könnte. Ich habe gedankenlos gehandelt. Ich habe sie nicht retten können."
"Das wird nicht passieren", sagte sie.
"Wie können Sie da sicher sein?"
"Weil Sie auf eine weitere Reise gehen werden. Niemand wird wissen, wo Sie sind. Niemand wird verstehen."
Jonathan nahm noch einen Schluck Brandy. Mit seiner Rückkehr kamen auch die Freuden des Alkohols wieder. "Ich verstehe nicht... jetzt? Jetzt wollen Sie mich wieder an das Ende der Welt schicken? Damit ich noch mehr erfahre, das ich nicht begreifen kann?"
"Sie verstehen sehr wohl. Sie haben mir erzählt, was der Wolf gesagt hat. Was er ihnen beschrieben hat."
Wieder kehrte er in diese Nacht zurück. Die Nacht, in der sich sein Leben verändert hatte. Ob zum Guten oder Schlechten, es war nicht mehr deutlich. Der Mann, der nun vor ihm gestanden hatte, trug keine Kleidung. Er hatte sich von der Gestalt eines bestialischen Wolfes in einen Menschen verwandelt:
"Dich verschone ich. Denn dich kenne ich", sagte er.
"Sind... sind sie alle tot?", fragte Jonathan. Sein Herz pochte so laut, es war, als würde es den Klang seiner Stimme verschlucken, zusammen mit dem, was an Seele und vielleicht Unschuld - wenn es so etwas wirklich gab - noch übrig geblieben war.
"Sie haben gesehen, was niemand sehen soll. Niemand außer dir."
"Was bist du?", fragte Jonathan endlich.
"Alle Geschichten, die du kennst, sie sind alle wahr. Ich bin ein Mann. Ich bin ein Wolf. Ein Wolf und ein Mensch."
Jonathan wollte sich selbst Lügen strafen, indem er an einen Traum dachte. "Das kann nicht sein... es ist nicht wahr, nichts ist wahr."
"Du erinnerst mich an einen alten Freund. Auch er wollte nicht glauben, bis er selbst die Zeichen und Wunder gesehen hat."
"Zeichen und Wunder...", wiederholte Jonathan. Dann spürte er, wie seine Knie nachgaben. Das musste wohl der Schock sein. Er sank auf den Boden und saß einfach da.
Der Mann näherte sich, nahm sich eine halb zerfetzte Decke und schlug sie um seinen nackten Leib. "Es ist wohl etwas zu viel für dich, hm?"
"Was ist das hier für ein Ort?", fragte Jonathan.
"Offensichtlich ein Grabmal", antwortete der Mann und schien amüsiert.
"Wer wurde hier begraben, wer ist dieser Mann?"
"Einst war er ein Feind aller Menschen. Dann änderten sich die Dinge, und er wuchs über sich hinaus. Wie viele andere in diesen Tagen. Wie so viele auf dem Leib Varathessas."
"Varathessa?" Jonathan hatte den Begriff noch nie gehört.
"Das ist der alte Name für die Kontinente, als sie noch eins waren. Vor dem großen Vergessen. Bevor die Feen und Gnome, Geister und Helden fort gingen."
Jonathan akzeptierte die Antwort einfach. "Und hat er einen Namen?"
"Oh ja. Sicher hat der Tote einen Namen. Aber viel interessanter ist, was damals geschehen ist, vor so langer Zeit."
"Vor dem Vergessen...", sagte Jonathan und wollte ironisch wirken. Er bemerkte jedoch, wie sein Tonfall etwas ganz anderes ausdrückte. Er begann, dem Fremden zu glauben.
"Das war, als der letzte Zyklus sein Ende gefunden hatte. Aber ich sollte von vorn beginnen..."
Jonathan sah Madame Blavatsky einen Moment an. Dann leerte er sein Glas, atmete tief ein und aus. "Was er mir erzählt hat, es war unfassbar. Von Varathessa... von Ländern mit fantastischen Namen, Fabelwesen, Heldentaten. Von Opfern und Freundschaften. Er sprach von einem Ort, den er das Mysterium nannte. Der Ort von Wahrheit und Licht, von Lüge und Dunkelheit. Die letzte Sphäre. Dort, wo unsere Seelen gerichtet werden und wo die Träume leben. Er hat mir von der Seuche erzählt und wie sie besiegt wurde. Er hat vom Erzähler berichtet und vom Verbotenen Buch. Es war so viel, was ich nicht begreifen kann. Und doch zieht es mich weiter hinein, wie eine unsichtbare Hand, der ich nicht entgehen kann."
"Wo ist der Sarkophag nun?", fragte die Madame.
"Nachdem der Mann seinen Bericht beendet hatte, hat er mir geholfen, den Leichnam zu bergen. Er befindet sich jetzt in einem verlassenen Haus in Cornwall. Das Anwesen gehört meiner Familie. Niemand geht dort hin."
"Ausgezeichnet. Wollen wir dann?"
"Was meinen Sie?", fragte er.
Und ehe er sich versah, erreichten sie zwei Tage später das Anwesen. Wie ein Hund folgte er Madame Blavatsky. Ob es die Trunkenheit oder die Neugier war, er vermochte es nicht zu sagen. "Was jetzt?", fragte Jonathan, als er ihr den Leichnam, aufgebahrt im Keller, zeigte.
"Er ist noch nicht fertig", antwortete sie knapp.
"Was meinen Sie?"
"Seine Reise ist, wie Ihre, noch nicht an ihrem Ende. Er mag tot sein, aber seine Aura lebt fort. Ich kann ihn spüren. Und er spürt uns..."
"Hat es etwas mit dem anderen zu tun? Dessen Name mir der Mann nicht nennen wollte?"
"Ja. Der Andere. Wir wollen hoffen, dass er immer noch in seinem kalten Grab liegt, wo man ihn einst zurückgelassen hat."
Jonathan erinnerte sich, wie der Mann ihm von dem Anderen erzählt hatte. Dem Hüter des Blutes, dem ersten Vampir. Wie er namenlose Schrecken verbreitet hatte und das Licht der Sonne verschwunden war. Wenn selbst der Leichnam, den sie hier im Keller versteckt hatten, sich vor ihm gefürchtet hatte...
"Was tun wir jetzt?", fragte er sie schließlich.
"Schließen Sie Ihre Augen. Wir wollen ihn befragen."
Madame Blavatsky führte ihre Hände an die Stirn des Leichnams. Dann wurde es dunkel, als Jonathan die Augen geschlossen hielt. Er hörte, wie die Madame unbekannte Worte sprach. Die Sprache klang wie ein lebendiger Albtraum, eine Beschwörung verbotener Götzen und Bestien. "Kannst du mich hören?", fragte sie in die Düsternis.
Lange geschah nichts. Gerade wollte Jonathan seine Augen öffnen, da wich er ungewollt zurück und stieß an ein Regal. Die Einmachgläser und Werkzeuge darin klapperten, als würden Skelette sich aus ihren Gräbern erheben, und so kalt war es auch geworden.
"Ich höre dich, Fremde..."
Die Stimme war dunkel, alt und erschöpft. Wie ein langer Schlaf, der unterbrochen wurde, obwohl er noch tausend Jahre hätte andauern können. "Und ich sehe dich... dich und deinen Begleiter... wer hat mich gefunden?"
Jetzt öffnete Jonathan die Augen. Der Leichnam rührte sich nicht, und Madame Blavatsky stand da, die Hände am Kopf des Toten. "Sein Name ist Jonathan", sagte sie. "Er und seine Freunde fanden dich. Und er kennt deine Geschichte. Er weiß vom Mysterium, vom Erzähler und allem, was geschehen ist. Aber deine Reise ist noch nicht vorüber. Du hast einen Platz im Mysterium. Und du verdienst diesen Platz."
"Ich brauche... einen neuen Leib."
Madame Blavatsky nickte. Dann hob sie ihren Kopf und sah Jonathan in die Augen. Das Geheimnisvolle war immer noch da. Doch ihr Blick war nun weniger der eines Gönners oder gar einer Freundin. Sie lächelte, aber ihre Augen schienen Jonathan zu durchbohren.
"Was haben Sie vor?", fragte er und presste sich dichter an das Regal.
Sie wiederholte die dunklen Worte von vorhin, zeigte auf Jonathan und krächzte: "Er ist es, ihn habe ich auserwählt!"
Bevor Jonathan reagieren konnte, erinnerte er sich an die letzten Worte des Wolfes: "Vertraue nur dir selbst."
Doch es war zu spät. Bevor er sein Selbst verlor und für immer ein anderer wurde, bevor die Aura und der Geist des Toten in seinen Körper fuhren, dachte er an die Zeichen und Wunder, die er gesehen hatte, an die Tür zum Mysterium, die ihm der Wolf Maestlin beschrieben hatte. Er dachte an das, was er ihm berichtete hatte auf dem Weg zum Landsitz: "Mit dem Ende des Erzählers und dem, der ihn beherrschte, änderte sich alles. Der Jäger aus der Kälte hatte gewonnen. Die Quelle Blyrtindurs zerbrach, die Sonne verließ die Welt, und das Vergessen war gekommen."
Zuletzt hörte Jonathan, wie Madame Blavatsky seinen Namen rief. Es war nicht sein Name. Es war der Name des Toten, der nun einen neuen Körper gefunden hatte. Den Wechsel spürte er noch. Im ersten Moment wollte er verneinen und rufen: "Ich bin nicht er, ich bin Jonathan!"
Stattdessen antwortete er: "Ich bin es. Ich bin Lazarus. Und es gibt viel zu tun."

Benutzeravatar
Tharon
Beiträge:4108
Registriert:22 Dez 2006, 20:06
Wohnort:Iserlohn

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Tharon » 17 Jun 2017, 14:49

Das Mysterium von Cüd

(Auszüge aus dem "Verbotenen Buch". Überlieferte und erhaltene Schriften des sogenannten Erzählers. Die Schriften, teils auf Pergament, andere wiederum auf Papyrus beschrieben, wurden im Juni 1912 im Koffer einer Verstorbenen entdeckt. Die Tote gehörte zu den Opfern eines großen Schiffsunglücks, das sich zwei Monate zuvor zugetragen hatte. Wie die junge Frau an diese Dokumente gelangt ist, konnte nie abschließend geklärt werden. Einhellige Meinung ist aber, dass sie über besondere Gaben verfügt haben musste: Die Frau beschrieb das Unglück, welches das Schiff in die Tiefe gerissen hat, in allen Einzelheiten in ihrem Tagebuch - und dies Wochen vorher. Für den Eisberg jedoch hatte sie eine ungewöhnliche Beschreibung. Im Tagebuch heißt es, "der Jäger aus der Kälte" werde seinem Zorn freien Lauf lassen, denn die "Menschen haben den alten Glauben verloren und huldigen neuen Göttern, die aus Geld, Eisen, Feuer und Blitzen bestehen".
Vielleicht werden wir auf diese Weise herausfinden, wie die Postmoderne Pest und die Neue Eiszeit bekämpft werden können. Das Überleben der Menschheit liegt in unserer Hand.
--- Lethan Samuel Klamm, Erforscher der Meere, aufgezeichnet in Kristall 47-A, im Jahre 378 nach der Flut, 10312 nach alter Zeitrechnung Terras.)

~~~

Tractatus I

Der Mann hinter der Stimme Oder: Zeichen und Wunder


Wehe dem Tag, an dem der Jäger sie entdecken würde

Er spürte die Kälte nicht, trotzdem sie sich ausbreitete wie der Nebel in einer warmen Sommernacht, wenn der Regen und Sturm wieder dicht hinter dünnen Wolken verschwanden, um an anderer Stelle das Land zu verheeren. Hier jedoch gab es kein Land. Zumindest keines, das sichtbar gewesen wäre. Hier herrschte nur das Eis. Und der Jäger aus der Kälte. Auch wenn Dholon der Winterkönig war, so hätte man ihn ebenso Hofnarr oder Herold nennen können; zwar entsandte er die Krieger und Eiswesen in den Süden, doch dies geschah nur, um den Willen des Jägers zu erfüllen. Denn der Jäger aus der Kälte war der eigentliche Herr über Eis, Schnee und Düsternis. Der Thron des Winters, das Erbe Fimbuls, schmerzte Dholon. Die Eiskristalle bohrten sich Tag um Tag tiefer in seinen kalten Leib. Auch wenn er die Kälte nicht zu fühlen vermochte - die Dornen der Dunkelheit spürte er umso mehr, wenn sein fahles Fleisch wie in Fetzen immer weiter zerschnitten wurde, wenn er seine eigenen grauen Knochen sah, die langsam mit dem Thron zu verwachsen schienen.
In diesen Augenblicken wünschte Dholon sich zurück in die unbeschwerte Zeit, zurück in die Tage des Sommers, als er Khelain gefunden hatte und sie liebte; weit weg in die Monate der Sicherheit und des Zusammenseins, noch weiter zurück, in die wärmenden Arme Mellwens. Aber all das war nun vorüber. Da waren nur noch das Eis und die Furcht, der Hass und das Ziel. Immer wenn sich sein Herz zu erweichen drohte und er die Aufgabe ablegen, den Mantel der Nacht abstreifen und die Kristallkrone zerschmettern wollte, erinnerten ihn die Dornen daran, dass er nicht mehr Dholon war. Nicht mehr der junge Elaya, der die Lieder gesungen hatte - er war der Winterkönig, der Ormurs rechtmäßigen Platz gestohlen hatte. Und seit er herrschte, im Namen des Jägers, herrschte auch der Winter in diesem Land. Ein Winter, den sein gesichtsloser Meister wie eine Decke aus Tod und Furcht über alle Lande zu werfen gedachte. Fort waren die Tage Ormurs, des wahren Winterkönigs. Fort waren die Eisfeen und Schneegnome, die den Kindern Geschenke brachten, wenn die Feste des Winters nahten; fort war der leichte erste Schnee, der die Menschen nach warmen Sommertagen erfreuen konnten - nein, da war nur noch Frost, und der Schnee war schwer wie Blei und das Eis scharf wie Stahl. Nichts von Schönheit war geblieben, und Dholon weinte, wenn er fühlte, dass sein Herz sich daran erfreuen wollte - so wie der Jäger aus der Kälte es ihm jeden Tag befohlen hatte, nachdem er ihn an den Thron geschmiedet hatte. Sein Herr und Meister war ein Wesen ohne Gesicht, ohne Herz, ohne Leib. Und doch war er überall, denn er war das Eis selbst. Er war auch die Schwärze, die hinter Dholons Thron lauerte. Und jetzt hatte der Jäger Gefangene. Gwayan Einohr und die Alte Krähe der Vestfold. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis er auch sie zu seinen Dienern machen würde.
Und wer dem Jäger aus der Kälte dient, der verliert seinen Willen, sein Herz und all die Liebe, die er vielleicht für die Welt und ihre Bewohner empfunden haben mochte. Denn der Jäger aus der Kälte war nicht nur ohne Gesicht, er war auch ohne Seele. Es gab nichts, das ihn erfreuen konnte. Nichts, das er noch lieben konnte. Einst war er ein Gigant und Sohn einer lieblichen Mutter gewesen. Aber mit ihrem Tod verschwand all dies. Er war wie Dholon. Allein, einsam, verbittert. Aber Dholon trug noch einen Hauch seines alten Lebens in sich, und er beschützte dieses Kleinod wie einen Schatz. Er verschloss diese Erinnerungen tief in seinen Gedanken, wenn er die Nähe seines Herrn spürte. Wehe dem Tag, an dem der Jäger sie entdecken würde. Aber noch war es nicht geschehen, noch war Zeit. Aber wie lange noch? Wann würde es zu spät sein? Der endlose Heerwurm der Winterlande näherte sich seinem Ziel, der Quelle Blyrtindurs. Wenn sie eines Tages verschwinden würde unter der Düsternis von Eis und Schnee, dann gefröre die Welt. Dann würde alles, was schön war, vergessen werden.
Als der Jäger ihn versucht hatte, da war Dholon der Macht näher als je zuvor. Er wurde gekrönt, bekam einen Hofstaat und Armeen. Schätze alter Tage gehörten ihm nun. Aber jetzt, als König des Winters, war er nicht mehr als ein Gefangener. "Ich war frei...", flüsterte er. "Frei..."


Verzage nicht, Volk der Nephyr

Das Refugium Xibalbas war schwer verwundet worden; Steine zerschmettert, Säulen gespalten. Nephyrim spürte den Schmerz der Gigantin Xibalba, die ihm so lang schon als eine zweite Heimat gedient hatte, wenn die Stimme des Erzählers ihn zu sehr quälte und er ein paar Stunden der Ruhe gebraucht hatte. Der Kampf gegen die Menschen aus Skjöldbur hatte Xibalbas Rippen gebrochen, und ihr Blut tränkte die Risse im Gestein. Nephyrim hob beide Arme und sprach die alten Worte Nephyrs, wie sie die Priester seines Volkes vor Ewigkeiten vergeblich gesungen hatten, um die Heimatwelt nach der Invasion der Dunklen Alten zu heilen. Am Ende, nachdem der Krieg gegen dieses Volk vorüber gewesen war, hatte es noch dreizehn Nephyr gegeben.
Ein besiegtes sterbendes Volk, vertrieben aus einer grünen Welt, die nun nicht mehr als ein schwarzer Fels im Nichts der Äußeren Welten war. In den schweren Stunden, die sie berieten und das Ende beschlossen hatten, so erinnerte er sich nun, hatte er zuerst alle Hoffnung fahren lassen. Die anderen waren zuversichtlich, irgendwo in den Kolonien unverletzte Brutstätten ihres Volkes zu finden. Aber die wenigen Späher hatten nichts Gutes zu berichten. Da war nichts mehr, alles war untergegangen. Der Tod durch ein schnelles Gift schien der Ausweg zu sein. Es gab keine Weibchen mehr, die eine neue Kolonie hätten gründen können, keine Sammler, keine Nester. Gerade als Nephyr den Urmohn zu sich nehmen wollte, und als die anderen ebenso bereit waren, den letzten Schritt in die ewige Nacht des Todes zu gehen, erschien ein glühender Feuerball am Himmel. Aus ihm entstieg ein Mann von jugendlicher Schönheit, und seine Augen glänzten wie feuriges Gold.
"Verzage nicht, Volk der Nephyr. Ich bin gekommen, um euch zu retten. Vergesst den Tod und das Ende, dies ist ein neuer Anfang für euch und für mich", sagte er, und er sprach wie ein Kind und weiser Mann zugleich.
Nephyr hielt inne, und er betrachtete den Jüngling. "Bist du einer der alten Götter?"
"Ich bin der Hüter des Blutes. Lang bin ich gereist auf der Suche nach einem würdigen Volk, das die Ehre bekommen soll, das letzte Geheimnis zu sehen und zu schützen", antwortete er.
Sie wussten von dem letzten Geheimnis, der letzten Sphäre, unerreichbar und fern. Der Ort der Träume, der Seelen und Legenden, das Mysterium von Cüd. "Niemand kann es sehen, aber es ist immer da. Es bestimmt das Schicksal eines jeden. Und es hat zugelassen, dass unser Volk stirbt", sagte Nephyrim.
Der Jüngling lächelte. "Ihr seid auserwählt. Ja, ich bin einer der alten Götter. Doch wegen meiner Schönheit haben sie mich verbannt in ein elendiges Land namens Kheldron, das ich verachte. Von Ungeziefer und Blut musste ich mich nähren, und ich war immer allein. Ihr seht, wir haben viel gemeinsam. Wollt ihr mir folgen? Es erwarten euch Zeichen und Wunder, jenseits all eurer Vorstellungen."
Als Beweis seiner Worte machte er Nephyrim ein Geschenk. Er spürte, wie die Seele seines Volkes in ihm aufzugehen schien, und wie er die Erinnerungen an all die verstorbenen Gefährten erwecken konnte. Auf dem einsamen Plateau, wo sie sich zum Tode getroffen hatten, erschienen nun all die, die sie im Krieg gegen die Dunklen Alten verloren hatten.
"Du kannst sie neu erschaffen, so viele wie du dir denken kannst. Sie sind du und du bist sie. Dein Name ist nun Nephyrim. Denn du bist die Nephyr", sagte sein Wohltäter und zeigte auf den Himmel. "Wir werden Großes erreichen, du und ich. Dort oben in der Weite ist das Mysterium. Aber es wird beschützt von widerwärtigen Kreaturen, die wir Zenthyr nennen. Sie stammen von einer Welt wie die eure war, dann haben sie das Mysterium eingenommen. Es ist nur gerecht, dass wir sie vertreiben."
So hatte ein neuer Krieg begonnen. Und die Nephyr waren dank der Hilfe des Hüters des Blutes siegreich gewesen. Das Mysterium von Cüd, hinter der Gigantin Xibalba gelegen, war eine neue Heimat geworden. Dort waren sie auf Kenan getroffen, den man den Erzähler nannte. "Er liest aus dem Verbotenen Buch", erklärte der Hüter, "und was er niederschreibt, das geschieht." Wer aber der Mann hinter der Stimme war, das herzlose unsichtbare Wesen, das Nephyrim jeden Tag spürte, vermochte der Hüter nicht zu sagen.
Nachdem er die Worte gesprochen hatte, wuchsen die Felsen wieder zusammen, und Xibalba war geheilt. Eine Heilung auf Zeit, denn wie alle Giganten war auch sie dem Verschwinden nahe. Seit dem ersten Frevel, dem Brudermord, starb das Geschlecht aus. Nephyrim war immer von Traurigkeit erfüllt, wenn er daran dachte, wie die Riesen zwischen den Sternen alle langsam vergingen: Es erging allen gleich. Ob es nun Varathessa war, Nephyra oder Xibalba. Und wenn eines Tages auch die Große Schildkröte Blyr fallen würde, dann wäre alles Leben vergessen. Es war nicht zu verstehen, warum der Uralte, der Jäger aus der Kälte, seinen eigenen Brüdern und Schwestern dies antun wollte.
"Sie haben den Urmohn. Das Gift, das wir einst beinahe getrunken hätten, bevor der Hüter uns gerettet hat", sagte Nephyrim, nachdem er den Rat der Nephyr herbeigerufen hatte. Ein ungläubiges und furchtsames Raunen ging durch den Rat der Tausend. "Es ist anzunehmen, dass sie ihn nach Skjöldbur gebracht haben. Auch glaube ich, dass Lazarus und Remigius nicht länger gegeneinander kämpfen. Damit ändert sich alles. Der Hüter des Blutes muss befragt werden."


Deine Fäden schneiden ins Fleisch

Die Hexe Morrighans flog durch den kalten Nachthimmel. Von dort sah sie, wie die Armee Bretonias und ihre eigenen Kreaturen ein feuriges Inferno über die Mauern Bregorns hinaus bis in die Kerlande Bretonias warfen. Als Krähe stürzte sie einige Male hinab, näher zum Schlachtfeld, um mehr zu sehen. Viele ihrer Bestien waren schon gefallen. Wenigstens nahmen die Dämonen der Anderwelt so viele Soldaten der Menschen mit in den Tod, dass es ein großer Verlust für das Reich sein würde, gleich wie die Schlacht auch ausgehen mochte. Dort unten sah sie Baelon, den Kanzler der Bretonen. Khelain sprach einen leisen Zauber, sodass ihr Geist für einen Moment in das Streitross Baelons fuhr. Ein schneller Schritt, eine plötzliche Bewegung, und das Pferd drehte sich zur Überraschung seines kämpfenden Reiters herum, damit ihn die Lanze eines Gnollkriegers treffen konnte. Zufrieden erhob sich die Krähe wieder in die Lüfte, dann schenkte sie dem Lauf der Schlacht keine Beachtung mehr - denn ihre Pläne, das Land zu verrotten, um Seelen für die Göttin zu sammeln, sie waren ohnehin gescheitert; und überdies nicht mehr von Belang. Zwar glaubte sie immer noch an die Herrschaft Morrighans, aber Khelain war nun mehr geworden als eine willige Dienerin. Erst die Entführung durch Lazarus hatte ihr die Augen geöffnet. Sie konnte so viel mehr sein als sie war. Lazarus hatte sie geholt, um ihre Kräfte nutzbar zu machen.
"Immer wenn das Feld der Wünsche eine Legende Blyrtindurs erschafft, entsteht eine Energie, die alle anderen übersteigt, die alle anderen vernichten kann. Und du wirst mir helfen, sie zu sammeln", hatte Lazarus gesagt.
"Und was wird mit mir geschehen?"
"Du wirst vernichtet", hatte er kühl geantwortet. "Du bedeutest nichts. Das Mysterium ist alles. Ich muss hinein, um den Erzähler zu töten. Er ist es, der alles bestimmt. Wir sind Marionetten. Tröste dich damit, dass du geholfen haben wirst. Schließlich hast du auch dies hier nur ihm zu verdanken."
Eine weitere Person war dort gewesen, eine Frau. Vom Aussehen her eine Hun, aber sie war bedeutend größer. "Und wer bist du?", fragte Khelain.
"Sie versteht unsere Sprache noch nicht. Ihr Name ist Sarcanai, ich habe sie erweckt. Sie und ihr Ehemann Kadir herrschten einst über Blyrtindur. Sie sind vom Ersten Volk", erklärte Lazarus.
"Und das hast du sicher nicht aus reiner Güte heraus getan, nicht wahr?", fragte Khelain.
Lazarus schien zuerst amüsiert, dann wieder ernster. "Sie und Kadir werden mir eine Armee geben. Die Malstromwesen können nur wenig gegen das Heer des Winterkönigs ausrichten. Er ist auf dem Weg zur Insel, um alles mit Eis zu bedecken. Das darf nicht geschehen."
Nun lachte Khelain amüsiert. "Was macht dich so sicher, dass ich nicht entkommen werde?"
"Das Konstrukt, in dem du dich befindest, ist aus derselben Quelle wie die Energie, die ich sammeln werde. Es bindet deine Macht. Du kannst nichts tun."
Sie lachte. "Ich habe dich gefragt, weil du mir deinen Plan verraten hast. Stell dir vor, ich würde entgegen aller Wahrscheinlichkeit fliehen. Ich könnte deinen Feinden alles verraten."
"Du hast von mir alles erfahren, weil du ein Anrecht darauf hast. Du sollst wissen, wofür du dich opferst. Immerhin tue ich das für uns alle."
Khelain nickte langsam. Die Frau, Sarcanai, schien wirklich kein Wort verstanden zu haben. "Vom Ersten Volk, sagst du?"
Lazarus sah rüber zu Sarcanai. "In der Tat. Bemerkenswert, was sie erreicht haben. Umso erstaunlicher, dass sie nicht überdauert haben. Aber das ist wohl der Lauf der Welt: Dinge enden."
Die Hexe Morrighans beachtete Lazarus nicht weiter. Ihr Seelentier, die Krähe, hatte sie vieles gelehrt. Dinge der Gegenwart, der Zukunft - und vor allem der Vergangenheit. Lazarus hatte einen schweren Fehler gemacht. Khelain lächelte und sprach die alten Worte des Ersten Volkes, die Dholon und sie gelernt hatten. Dholon, der ihr einst alles bedeutet hatte und dann vom Jäger aus der Kälte zu dem gemacht worden war, was Lazarus Marionetten nannte. "Sarcanai, es ist eine Ehre dich zu treffen."
"Die Ehre ist meinerseits. Du bringst ein großes Opfer", antwortete die Frau.
"Nicht so groß wie deines", sagte Khelain.
"Schweigt!", befahl Lazarus dann. Er sah strafend zu Sarcanai und sprach nun auch wie das Erste Volk. "Sie will dich beeinflussen. Höre nicht auf sie."
"Aber auf ihn musst du hören, Sarcanai. Er weiß, was das Beste für uns ist. Mich macht er zur Marionette, aber deine Fäden liegen enger. Deine Fäden schneiden ins Fleisch", sprach Khelain unbeirrt weiter.
Sarcanai sah rüber zu Lazarus. "Wenn du dein Heer willst, wenn ich Kadir umgarnen soll für deine Wünsche, dann wage es nicht, mir Befehle zu erteilen, Sohn des Leban."
Lazarus verengte die Augen und blickte mahnend zu Khelain. "Halt deinen Mund, Hexe."
"Oh Sarcanai, Ehefrau des allmächtigen Kadir, dem Auserwählten Amurs. Seit wann lässt sich eine Herrscherin beherrschen? Wie kann sie Zeuge werden einer solchen Ungerechtigkeit, die einer ebenso gottestreuen Dienerin angetan wird? Ich bin wie du, ich diene meiner Herrin. Trotzdem ich in Ketten liege, bin ich am Ende freier als du. Denn ich werde sterben für die Ziele dieses Wahnsinnigen. Was kann er dir bieten? Du lebst, du hast den Tod besiegt, genau wie ich. Dein Ehemann wartet auf dich, was zögerst du noch?", rief Khelain, bevor Lazarus ihr den Mund knebelte.
Dann dachte Khelain an Dholon. Nicht etwa aus Liebe, denn Liebe war nun etwas für die Schwachen geworden. Sie brauchte etwas, das nur Dholon ihr geben konnte - oder besser gesagt die Erinnerung an den Elaya, der einst so prachtvoll gewesen war und nun ein Schatten seiner selbst, aufgespießt auf den Thron des Winters. Sie brauchte etwas, das sie nur noch aus wirren Träumen kannte: eine Träne. Mehr war nicht mehr notwendig, das spürte Khelain. Endlich fühlte sie das salzene Rinnsal vergangener Gefühle, als die Träne floss. Es war nur eine einzelne. In vielen Dingen ein tropfen auf dem heißen Stein, aber in diesem Fall war es eine Welle an Überzeugung. Sarcanai stieß Lazarus mit einem Hieb zur Seite und riss Khelains Ketten in Stücke.
"Nein!", schrie ein zorniger Lazarus, aber da waren sie und Sarcanai schon verschwunden.


Jetzt sind wir eins, du und ich

Der Kanzler ritt an der Spitze des Zuges. Die Verbündeten folgten ihm, Sir Theornon und den anderen. Baelon war bewusst, dass sich auch der Untote Julthos unter den Streitern befand, die gemeinsam Burg Bregorn befreien wollten vom Joch der Diener Morrighans. Martus von Brioless hatte ihm abgeraten, die Hilfe eines Wiedergängers in Anspruch zu nehmen, aber Baelon war durchaus bereit gewesen, gewisse Prinzipien für einen Augenblick zu vergessen, wenn es um den Kampf gegen die Armee der Hexe Khelain ging. Späher hatten bestätigt, dass Khelain nicht in der Burg war. Es hieß, sie sei nun eine Gefangene von Lazarus, dessen Rückkehr ebenso beunruhigend gewesen war. Er hatte Lazarus nie selbst erlebt, denn der erste Kampf gegen den Bruder von Remigius - sie beide schienen Kinder von Liras und Leban zu sein - hatte auf der Insel Blyrtindur stattgefunden; der Kampf um die Quelle von Leben und Tod, der beinahe das Ende der Welt bedeutet hätte. "Wenn eines Tages die Quelle stirbt, dann stirbt alles", hatte Königin Theresia ihm einst erklärt. Nun, heute stand nicht das Ende der Welt bevor, aber diese Schlacht wäre nicht weniger wichtig. "Wir werden Feinde nicht länger dulden im Bretonischen Reich", hatte Baelon bei seiner Ansprache gesagt. Und so war es auch. Künftige mögliche Invasoren, woher sie auch kommen mochten, sollten sich einer Sache gewiss sein: Nicht unter dieser Königin. Nicht unter diesem Kanzler. Der Bürgerkrieg von einst hatte das Land erst geschwächt, aber nun war es stärker als zuvor aus der Asche entstiegen, wie der Feuervogel des Wilderlands. Und dies würde so bleiben.
In der Ferne konnte er die Truppen des Feindes bereits ausmachen. Fliegende Schatten, dazu Soldaten mit den Köpfen von Hunden, schwer bewaffnet und wild bellend. Geflügelte Dämonen erhoben sich über den Turmen der prächtigen Burg. Die Ritter der Königin ermutigten die Soldaten der bretonischen Armee, die Kavallerie ritt unerschrocken weiter. Selbst die einfachen Landsknechte, rekrutiert aus Reihen des Volkes, mehr freiwillig als gezwungen, ließen sich anstecken von den Trommeln und Hörnern, die den Sturm auf Bregorn befahlen und geradezu zu beschwören schienen. Baelon zog sein Schwert. "Für das Land, für die Königin, für unser Volk!", rief er, und alle folgten ihm. Staub wirbelte auf, ein leichter Regen vermischte sich mit dem Blut der Schlacht, als eine Lanze ihn traf. Der Kanzler wurde vom Pferd gerissen. Einen Augenblick schien die Welt sich einmal um ihn herum zu drehen - und dann wurde es Nacht.
"Bregorn...", flüsterte er.
"Ruhig, Lord Baelon, bitte, Ihr solltet noch nicht sprechen", antwortete die Frau, die seine Wunden verbunden und die Knochenbrüche geheilt hatte. Eine Ordensschwester aus der Abtei, wie er unschwer erkennen konnte.
Eigentlich hätte er ihren Rat befolgen sollen, aber Baelon scherte sich gerade einen Dreck um seine Gesundheit. Wichtig war nur Bregorn. "Antwortet mir. Waren wir siegreich?"
Die Schwester wollte gerade etwas sagen, als der Eingang zu seinem Zelt sich öffnete und Brioless eintrat. "Ich übernehme", sagte er. "Wohl an, Herr."
Als die Ordenssfrau das Zelt verlassen hatte, begab Martus von Brioless sich an Baelons Krankenbett. "Ihr solltet wirklich ruhen, mein Kanzler. Bitte denkt nicht nur an das Reich, auch an Euch selbst. Wie wollt Ihr Bretonia und seiner Königin dienen, wenn Ihr nicht gesund werdet?"
Baelon schüttelte den Kopf. "Ich werde das hier überleben, nicht wahr?"
"Ja, Lord Baelon. Trotzdem ersuche ich Euch, vorsichtig zu sein."
"Haben wir gesiegt, ist Bregorn befreit von diesem Abschaum?"
"Zu einem hohen Preis. Die Verluste waren groß, und es gibt Vermisste", antwortete Brioless.
"Wer?"
Die Antwort ließ Baelon zurück auf das Bett sinken. "Auch das noch."
"Wir suchen noch, aber zuversichtlich sind wir nicht."
"Ich bin rücksichtslos, verzeiht. Ich habe nicht an Euren Neffen gedacht...", sagte Baelon leise.
Martus schüttelte nun seinerseits den Kopf. "Gideon hat sich entschieden, Lazarus zu folgen. Liras weiß, ich habe ihn nicht gut behandelt. Vielleicht ist es meine Schuld, dass er nun die Lazarener anführt. Schlimmer noch empfinde ich die Vorstellung, dass er auch auf der Seite der Malstromwesen steht. Für mich ist er nicht mehr Teil der Familie Brioless, die einst Tectaria gemeinsam mit Liranus von Breton verlassen hat. Er ist ein Verräter, und als solcher muss er auch behandelt werden. Wir haben allerdings Neuigkeiten zu dem Thema. Doch ich werde Euch damit noch nicht behelligen, es kann warten."
"Nein, bitte sprecht", forderte Baelon.
"Wie Ihr wünscht. Es ist uns zu Ohren gekommen, dass gewisse Parteien, die sich am Blauen Turm aufhalten, ein Bündnis mit Lazarus eingegangen sind. Es ist mehr als ein Gerücht, alles spricht dafür. Die Gerüchte besagen auch, dass ebenso Remigius daran beteiligt ist. Ich bemühe mich derzeit, absolute Gewissheit und eine Erklärung zu bekommen. Jedoch ist es momentan schwierig, das Seelenmoor zu erreichen, denn die Ebene der Vergessenen ist immer noch verseuchtes Gebiet. Die Akademie hat nun eine offizielle Anfrage vorbereitet, die wir über ein Ecaloscop versenden werden."
"Ihr glaubt, dass es wahr ist?", fragte Baelon ungläubig.
"Wie ich sagte, es spricht einiges dafür. Elyarn von Dryr, Anführer der Malstromwesen im Eisenwall, hat nun offiziell erklärt, dass wir keinerlei Feindseligkeiten und Verwandlungen zu erwarten haben. Entweder ist dies alles eine Täuschung - was mir mehr als plump erscheint - oder es ist alles wahr."
"Sorgt für Klarheit. Sobald ich halbwegs auf den Beinen bin, will ich Antworten. Außerdem werden wir eine Konferenz mit der Königin dazu halten müssen. Sie kennt Lazarus und Remigius, mehr als mir lieb ist. Sie könnte ein Ziel sein, wenn das hier ein Plan ist und nicht die Wahrheit. Aber selbst wenn es stimmt: Ich will eine Erklärung, wieso dies ohne Wissen des Reiches und möglicherweise sogar in unserem Namen geschehen ist", sagte Baelon.
"Sehr wohl. Und nun lasse ich Euch allein. Schwester Mariya will Euch noch einen grausamen Tee spendieren", sagte Brioless und schmunzelte. "Werdet gesund."
"Danke, Martus."
Baelon schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Ein Bündnis mit dem Feind aller Menschen. Wie konnte das möglich sein? Nein, es musste Klarheit geben, und zwar sehr schnell. "Schwester?", fragte er, als er hörte, wie ein Krug neben ihn auf den Tisch gestellt wurde. Er war zu müde, um die Augen zu öffnen. Wie im Halbschlaf spürte er, dass die Decke bewegt wurde. Ein kalter Schauer durchfuhr ihn, als die Schwester seine Wunden inspizierte.
"Es wird Euch schon bald besser gehen", sagte eine knabengleiche Stimme.
Baelon versuchte, die Augen zu öffnen. Das Gespräch mit Brioless hatte ihn sehr angestrengt, er sah nur einen Hauch von Licht, schemenhafte Umrisse, das Innere des Zeltes. "Wer ist da?", fragte er schwach.
Dann tropfte der Tee an seine Lippen, und er öffnete langsam den Mund. Es war der Geschmack von Eisen... nein... das war etwas anderes. Das war Blut. Augenblicklich schlief er ein, und er hatte einen namenlosen Albtraum, der ihn noch lang verfolgen würde, dessen war er sich gewiss. Er sah einen Knaben, der sich den eigenen Arm mit den Fingern aufschlitzte. Das Blut floss auf Baelons Stirn, über seine Augen und in den offenen Mund. Und er liebte den Geschmack. Ja, er liebte den Hüter des Blutes. Er wollte mehr.
"Jetzt sind wir eins, du und ich."

Benutzeravatar
Tharon
Beiträge:4108
Registriert:22 Dez 2006, 20:06
Wohnort:Iserlohn

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Tharon » 20 Jun 2017, 13:40

Tractatus II

Leben und Wirken Phaetons Oder: Der vergessene Sohn


Ahnen

Liras und Leban, die Engel des Herrn, stiegen auf in die Reihen ihres Vaters und jener heidnischen Brüder und Schwestern, deren Existenz selbst der Vater von allen nicht leugnen konnte - und ob Seiner Gerechtigkeit auch nicht wollte. Zwar war es schadhaft, den wilden Männern und Weibern Valhalls zu huldigen, die grünen Vettern und Cousinen aus der Anderwelt anzurufen, doch ebenso liebte der Herr, dessen Name in Samariq Amur lautet und der in Tectaria keinen Namen trägt, die Vielfalt unter dem Himmelszelt, das Er, nur Er allein geschaffen hat. Und so hieß Er Liras und Leban willkommen an Seiner Seite.
"Eines Tages werdet ihr mich verlassen, meine lieben Söhne, denn einer aus dem Volk, das meines ist, wird über die große See fahren, und man wird ein neues Land, das ich aus Varathessa geformt habe, finden, und es wird seinen Namen tragen, und ihr werdet seine Herren sein, denn so steht es in dem Verbotenen Buch. Aber nun kommt an meine Seite und schaut in das Licht der Sonne, Liras, der du den Himmelswagen fährst, und Leban, der du die Sonne trägst, damit sie nicht auf die Menschen fallen kann und damit mein Licht immer scheint", sagte Er, der ist der Herr der Welt.
Und Seine Söhne Liras und Leban verstanden, und sie waren folgsam, und Liras fuhr den Himmelswagen, damit die Sterne, die gestorbenen Brüder und Schwestern, immer das Licht sehen, und Leban hielt die Sonne fest, damit sie nie auf die Menschen fallen würde und damit das Licht des Herrn immer scheint.

Zeugung

Und weiter stand in dem Verbotenen Buch geschrieben, dass Liras und Leban jeden Sonntag in die Welt der Sterblichen gingen, um in anderer Gestalt unter ihnen zu wandeln, weil der Herr neugierig war: Denn Er, der Herr der Welt, wollte wissen, ob genug Frömmigkeit unter den Menschen herrschte. Er, der dabei war, als Kronos das Verbotene Buch in das Mysterium gelegt hatte, wollte sehen, ob der Glaube unter den Menschen gefestigt war.
Aber da geschah der Brudermord. Kenan tötete seinen Bruder Abil, und der Herr schützte fortan Kenan, damit kein Mensch Rache üben würde an den, den Er von allen Menschen am meisten liebte. Er führte Kenan in das Mysterium, wo er das Verbotene Buch fand und sah, dass Kronos eine Schreibfeder und leere Seiten hinterlassen hatte; und Kenan umarmte die Zenthyr, die Engel der Träume, denn sie umarmten ihn und hießen ihn willkommen. Der Herr aber spürte Zorn gegen alle Menschen, denn die Frömmigkeit und Unschuld waren fort; so vertrieb Er sie aus seinem Garten, dass sie fortan in tausend Sprachen sprechen würden und auf der irdischen Welt wandeln sollten. Und im Verbotenen Buch begann der Zyklus des Falls des Menschen.
Doch Liras und Leban hatten Mitleid mit den Menschen, die nun glaubten, dass der Herr sie verlassen hatte. Sie fanden ein Mädchen von fünzehn Jahren, das weinend unter einer Erle saß und das Wort des Herrn nicht mehr sprechen konnte, denn der Herr hatte allen Frauen die Sprache genommen, auf dass sie dem Manne Untertan sei. "Dies ist nicht gerecht", sagte Liras. "Dies ist nicht gerecht", wiederholte sein Bruder Leban. So gaben sie dem Mädchen und allen Weibern die Sprache zurück, und die Menschen begannen, sich zu vermehren. Denn nur wenn Mann und Frau einander gegensätzlich sind, können sie fruchtbar sein.
Und das Mädchen Isabella erkannte Liras und Leban und spreizte ihren Leib, wie es Brauch war. Es war Liras und Leban verboten, mit den Sterblichen zu verkehren, aber ihre Frucht war schön, und sie erkannten Isabella. Und wie der Herr es einst befohlen hatte, vergingen 270 Tage, und der Leib des Mädchens wurde üppig, und sie gebar einen Sohn. Sie gab ihm den Namen Phaeton, denn in seinen Augen war das Licht der Sonne.

Jugend

Der Herr war voller Zorn, als er des Kindes ansichtig wurde, denn Liras und Leban hielten es mit stolz an das Licht der Sonne des Herrn. "Schau, Vater, er ist wie du, in seinen Augen ist das Licht", riefen sie beide.
"Ich erkenne ihn nicht, er ist nicht meines Blutes", sprach Er zornig, und verschloss die himmlischen Hallen, damit Phaeton der Zugang für immer verwehrt bleiben sollte.
So kam es, dass Phaeton allein bei seiner Mutter aufwuchs, und sie lehrte ihm die Kräuterkunde und wie man ein Tier schächtet, und was die reinen und unreinen Speisen waren. Von seinen Vätern Liras und Leban hatte er nie gehört. Und Isabella sah, dass Phaetons Liebe vor allem den Ausgestoßenen und den Unreinen galt, den Ratten, Mäusen und Schlangen, den Eulen und Fledermäusen, dem Ungeziefer der Erde und denen, die das Aas fressen. "Sind wir nicht alle gleich in den Augen des Herrn?", fragte er seine Mutter, doch sie wusste keine Antwort darauf und dachte an das Unrecht, das ihr und ihrem Sohn getan worden war.
Liras und Leban verfielen in eine große Trauer, denn sie konnten ihren Vater nicht mehr verstehen, denn Er war nun ohne Mitleid und ohne Gnade. Ihren Trost suchten sie bei der Frau Isabella, und aus Liras Träne und ihrer Frucht wurde Remigius, und aus Lebans Träne und ihrer Frucht wurde Lazarus. Und Remigius Name bedeutete der Ruderer, denn er würde eines Tages zur Verbotenen Insel fahren, wo das Verbotene Buch von Kronos gefunden worden war, und er würde die Pflanze des Herrn, den Urmohn, finden. Und Lazarus Name bedeutete dem der Herr geholfen hat, denn er würde eines Tages der Finsternis den Schrecken nehmen, auf der Verbotenen Insel, wo die Luft erstickt und wo das Wasser ertrinkt.
Und Phaeton begrüßte seine Brüder, und sie lebten lange glücklich.

Sturz

Aber Remigius hielt sich für den Weisen unter den drei Brüdern, und Lazarus hielt sich für den Klugen unter den drei Brüdern. Wann immer seine Brüder in einen Zwist verfielen, denn der Fall des Menschen, der Brudermord und der Zyklus hatten beide, Remigius und Lazarus, verflucht, hob Phaeton die Arme und schlichtete den Streit. Dann nahm der die Waage und legte eine Feder auf die erste Schale, dann nahm er das Herz des einen und das Herz des anderen und legte sie auf die zweite Schale. "Seht, nicht einmal beide eure Herzen sind schwerer als diese Feder, ihr gehört zusammen." Und Phaeton in seiner Bescheidenheit war der klügste und der weiseste von den drei Brüdern, die alle gleich viel von ihrer Mutter geliebt wurden. Und in Tectaria erlebten die drei Brüder schöne Tage, denn die Mönche brachten ihnen die Geheimnisse der Welt bei.
Doch eines Tages kamen Liras und Leban und schauten auf ihre Söhne. "Du, Phaeton, bist der Erstgeborene. Und wenn wir nicht mehr sind, denn auch die Zeit der Götter kann begrenzt sein, denn so will es das Mysterium von Cüd und so will es das Verbotene Buch, das Kronos auf der Insel des Himmelseisens gefunden hat, dann wirst du unseren Platz einnehmen."
Und Lazarus senkte sein Haupt, denn er glaubte, seine Klugheit hätte ihm das Anrecht auf den Platz im Himmel gegeben, aber er sprach kein Wort, denn Du sollst nicht das Wort erheben gegen Vater und Mutter, denn Du würdest das Wort erheben gegen Den, der die Welt gemacht hat. Aber Remigius hob stolz sein Haupt und sprach: "Aber ich bin weiser als meine Brüder, der Platz sollte mir gehören."
"Es ist nicht an dir, zu entscheiden", sprachen Liras und Leban, und damit war der Streit beendet.
Drei mal drei Wochen später sprach Remigius zu Phaeton: "Mein lieber Bruder, ich neide dir den Platz, aber ich freue mich für dich. Aber sage mir, bist du würdig? Beweise es mir, dir selbst und unseren Erzeugern Liras und Leban, indem du den Himmelswagen nimmst und durch die Sonne gleitest, ohne zu verbrennen."
Und Phaeton glaubte, dass es das Gesetz des Herrn wäre, um die Nachfolge zu bestimmen. Denn warum sollte sein weiser Bruder lügen? Und Lazarus warnte Phaeton: "Sei achtsam, Bruder, denn die Zunge meines Bruders spricht nie deutlich, was er will." Aber Phaeton sah das Feuer des Himmelswagens, bestieg das Gefährt und fuhr zur Sonne, die der Herr selbst ist.
Phaeton verbrannte nicht, aber er stieß an die Sonne, und Leban konnte sie nicht mehr halten. Liras war voller Zorn, und der Herr war voller Zorn, denn nun gab es Tag und Nacht. Nun musste Leban in der Nacht den Menschen leuchten, so wie es Liras am Tage tut. Und Remigius und Lazarus trennten sich wie ihre Väter, und nach dem Fall der Menschen von Cüd war es das zweite Mal, dass ein Streit unter Brüdern einen Fall zu verantworten hatte: Den Fall der Engel.
Denn Remigius musste fortan versteckt durch die Sphären wandern, und Lazarus musste fortan verborgen durch die Zeiten wandern.
Aber keine Strafe war schlimmer als die für Phaeton, denn Liras und Leban und der Herr selbst schleuderten ihn auf die Erde, wo die Sterblichen waren. Sie raubten ihn seiner Kleidung, dass er nackt wäre und dass er frieren würde, und sie verfluchten seinen Namen und sein Blut, auf dass nur noch das Blut Lebender ihn satt machen würde. Und Phaeton machte sich die niederen Tiere und alles Unreine zu seinen Untertanen, und er nahm die Gestalten vieler Menschen an, damit man ihn nicht finden würde, und er zeugte andere, die waren wie er und er machte sich Diener, die seine Augen und Ohren sein würden.
Und nach den Jahrhunderten fand er das Volk der Nephyr, das ihn zu den Sternen brachte, wo sie im Vorhof des Mysteriums ihre Heerschar sammelten, und sie fielen ein in das Mysterium, ließen die Engel der Träume gehen, auf dass diese den Verstand verloren. Und Phaeton fand Kenan, und er fand das Verbotene Buch, das nun zum Werkzeug seiner Rache gegen seine Väter, den Herrn, seine Brüder und alle anderen Götzen und denen, die sie anbeten, wurde. Und er ließ seinen Namen aus dem Buch tilgen, damit er vergessen werden würde und keiner vorsichtig wäre, denn er greift an, wenn du es nicht weißt und wenn du allein bist wie er es war.

Benutzeravatar
Tharon
Beiträge:4108
Registriert:22 Dez 2006, 20:06
Wohnort:Iserlohn

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Tharon » 24 Jun 2017, 14:25

Auszüge aus bekannten und weniger bekannten Werken, das Wesen der Welt und ihrer Historie betreffend. Manches höchst spekulativ, anderes in den Bereich der Legenden zu verorten; manches ketzerisch, doch nicht weniger wahr, unwahr oder mindestens den Sterblichen auf warnende Weise erleuchtend oder verführend, dann also mit Bedacht und in Beisein eines Geistlichen oder unter anderer göttlicher Obhut und der Festigkeit eines unerschütterlichen Glaubens zu betrachten. Zusammengetragen von Tomasias von Aquino, Provinz Breton, Tectaria, im Ersten Jahre des Langen Winters.

~~~

Die Transmutation und microcosmische Teleportation von Form und Geist

Wie Euripedeon bewiesen hat, ist es im Sinne einer großen vereinheitlichten Theorie von Macrocosmos und Microcosmos nur eine Frage des Willens und der Zeit, bis die Theorien eine praktische Anwendung zur Erklärung des Wesens der Welt ergeben werden. Eine Untersuchung der Proben von der Quelleninsel zeigen, dass im dortigen Wasser eine erhöhte Konzentration der Körperchen zu entdecken ist, welche die Regeneration der nächst größeren Einheit, der Zelle, und ihrer Nachbarkörper kleinerer und größerer Ordnung fördert. Außerdem - und dies scheint das noch bemerkenswertere Ergebnis zu sein - besteht eine Verbindung zwischen dem Himmelsgestirn und besagtem Wasser und der darin enthaltenen microscopischen Körper.
(Es sei an dieser Stelle dem Laien gegenüber angemerkt, dass diese Körper kein Leben im eigentlichen Sinne sind, sondern dass sie es sind, die Leben formen können.)
Diese Verbindung, basierend auf der von Euripedeon bewiesenen Verschränkung, ist es, welche erstens die sieben Sphären verbindet wie eine Art Faden, an welchem sie hängen. Zweitens erzeugt sie den Beweis für die von Pytharas geäußerte Hypothese, dass das Pan-Prinzip keine nur philosophische Spielerei des Pantheus Phynaron aus der Schule der prätectarischen Sophisten ist, sondern ein physisch anwendbares Konstrukt zur Invocation und sogar Exportierung gedachter Phantasmagorien.
(...)
Hier ein praktisches Beispiel, das mehr sein will als nur eine Veranschaulichung: Man nehme den Mythos der Lieder, die in das Mysterium führen. Nicht nur kennen wir das Sternbild des Orion, welches das letzte Geheimnis behüten soll (und damit ist es physisch präsent!), sondern ebenso den Asteroiden Xibalba, der das erste Mal beschrieben wurde von Emes und Stephanus Polonius. Er gilt als Vorhof des Mysteriums und liegt im Nebel des Orion. Außerdem gibt es konkrete Beweise für die Transmutation von Gedanken und Auren. Mit Hilfe der kleinsten denkbaren Körperchen war es gelungen, die Aura und den Geist der heiligen Minerva von Patrocles in einen simplen Trägergegenstand, der in diesem Fall als Tangente UND gleichsam als Aurensammler diente, zu überführen. Diese microscopische Teleportation von Form und Geist im Zusammenhang mit der von Euripedeon zusammengefassten Verschränkung aller Dinge wird es sein, die uns den Weg zum letzten Geheimnis offenbaren wird.
Es erklärt außerdem das entropische Prinzip von Albertus Magnus III., genannt Zwiestein, nach den Zwillingsbergen seiner Heimat Faror.

(aus: 'Zum Beweis berühmter Hypothesen', von Phlegethos Klammberg, Hofarchivar zu Breton.)

---

Über den Vampir

Wohl vieles ist in die nicht selten widergöttlichen Sphären des Spekulativen einzuordnen, was wir zu wissen glauben über jene blutsaugenden Dämonen, die der Feind jeder Schöpfung sind und welche in der Nacht durch die Fenster der Häuser der Gottesfürchtigen steigen, um Vater und Mutter zu töten, ihnen den Lebenssaft zu rauben, bis sie ausgetrocknet sind wie die legendäre Äonenblume, die der Herr den Provinzen im Jahr der Flammenpest schenkte, ihren Glauben zu festigen; die Kinder aber, jene wird der Ungöttliche mit sich nehmen, doch nicht - wie die Spukgeschichten aus Davoria suggerieren - um sie als willenlose Diener heranzuzüchten. Nein, Lügen wird er ihnen berichten, wie die armen Eltern vom Glauben abfielen und nun die Kirche sich ihrer annehmen werde! In Gestalt eines Mönches oder Priesters wird der Blutsauger sich ihnen zeigen, in einer verlassenen Kirche oder Abtei - deren Kreuze und Heiligenbilder er sorgsam entweiht hat - wird er ihnen die Unlehren seines falschen Glaubens beibringen; und wenn sie ausgewachsen, ja, dann wird der Dunkle sie verwandeln in seinesgleichen, auf dass sie Unfrieden und Schrecken wie er selbst in die Häuser der Gläubigen tragen!
(...)
Vergessen wir also Kreuze, Knoblauch und geweihtes Wasser. Aus welchen Gründen auch immer wirken die heiligen Reliquien nicht gegen die Blutsauger. Und Knoblauch, so erfolgreich man auch Krankheiten verhüten und besiegen kann - wie die Ketzerin Hildara von Bingenfurt richtig beschrieben hat (obschon ihre anderen Wesenheiten Anlass genug waren, sie zu richten!) - wirkt nicht im Geringsten gegen die Kräfte und die körperliche Gestalt des Vampirs. Ob Waffen aus Silber, geweiht unter den Augen eines Priesters, ihren Dienst tun, dies muss noch ergründet werden. Wehe dem, der so mutig und töricht zugleich ist, sich den Dienern des Meshiha Deghala zu stellen.
(...)
Denn man sagt, der Widersacher des Herrn selbst, habe die Vampire geschaffen, um als Rächer gegen die Schöpfung aufzutreten, nicht etwa - wie der Meshiha selbst - als Feind des Herrn (der sie ohne Zweifel in diesem Sinne trotzdem sind), sondern als Feind aller Menschen. Denn sie hassen alles, was lebt; was nicht ist wie sie, was ihnen nicht dient, was das Leben begrüßt, und das Gebot des Herrn, sich durch die Liebe zu vermehren, befolgt. Es ist nicht an uns, den Herrn anzuzweifeln, aber es scheint den Blutsaugern zu obliegen, all das Schöne, was der Herr in seiner Güte für uns gemacht hat, in den Schmutz zu zu ziehen. Denn sie beherrschen alles Niedere, das gemacht wurde, um uns zu prüfen. Sie verehren die fauligen Muscheln, die an den Schiffen nagen, sie verehren die Ratten, welche die Pest bringen. Und vor allem verehren sie die Fledermäuse, welche in der Nacht das Unhweil bringen und wie sie Blut trinken. Doch vor allen anderen beherrschen sie die Schlange, ist sie doch das Zeichen ihres furchtbaren Herrn, der auch den Allerersten von ihnen geschaffen hat. In einem Rad aus Feuer hat er Phaeton gezeugt, den Ersten Vampir. Und er herrscht über alle anderen, er sieht wie sie durch die Augen alles niederen Getiers, des Ungeziefers, der Schlangen und aller geschuppter Tiere. Denn er ist der Drache, der am Ende der Zeiten alle Gesandten des Herrn und die Sonne selbst verschlingen wird.

(aus: "Die Schemen und Kabale der Widergöttlichen, Zur Erleuchtung des Gläubigen", Tectaria, Unbekannter Verfasser.)

---

Zur Entropie

Angenommen, ein Mensch steht an der gedachten Quelle der Wünsche, die Pantheus Phynaron zur Veranschaulichung der menschlichen Phantasie (die er als eigentlichen göttlichen Funken beschreibt, der uns trennt vom Tiere) konstruiert hat, um seine Ideen dem Leser näher zu bringen. Der Mensch, nennen wir ihn Pan, steht an der Quelle. Weiter angenommen: Er wirft seine Münze oder irgendeinen anderen ihm wertvollen Talisman in das Quellwasser und spricht seinen Wunsch aus, der sich alsdann als physische Manifestation des von Pan Gedachten präsentieren wird, in allen gewünschten und erdachten Qualitäten und Quantitäten, durch NICHTS zu unterscheiden von dem, was eigentlich nur der Herr erschaffen kann.
Müsste dann nicht, als Ausgleich für alle Dinge, nicht noch etwas geschehen? Denn bereits Pytharas hat gezeigt, dass der Cosmos homogen ist, dass nicht an einer Stelle mehr Materie oder Energie sein kann als an jedem anderen sichtbaren Ort des sogenannten Weltalls. Als Ausgleich für das Entstehen muss entweder noch etwas entstehen oder etwas anderes vergehen. Was aber, wenn beides gleichzeitig geschehen würde?
In unserem Gedankenexperiment hat Pan ein Ding geschaffen, und ganz gleich, ob es lebendig oder tot ist, ob es eine Seele hat oder nicht, etwas weiteres entsteht: Das Feld der sogenannten Entropie vergrößert sich.
(...)
Nun, was ist diese Entropie eigentlich? Mit dem Entstehen der Welt, des Cosmos, entstand gleichermaßen eine entgegengesetzte Kraft, welche proportional zum Wachstum aller Dinge zunimmt. So war dieses Feld der Entropie zuerst sehr klein und wäre wohl kaum oder gar nicht bestimmbar gewesen, wuchs dann aber erst in geringer und mit den Äonen immer größerer Geschwindigkeit an, denn so wie alles entsteht, so wird auch alles wieder vergehen. Nimmt das Maß an entropischer Energie zu und erreicht es eine kritische Menge, so dürfte der Cosmos zusammenstürzen in umgekehrte Weise wie er einst erschaffen worden war durch den göttlichen Funken.
(...)
Zurück zum Beispiel: Pan wünscht, es erscheint das gewünschte Ding, lebendig oder tot. Das Feld der Entropie wird also größer. Somit ist erstens etwas weiteres geschaffen worden, nämlich mehr Entropie. Und gleichermaßen ist etwas damit vergangen, zu Ende gegangen: Nichtentropische Energie, denn nichts kann am selben Platze sein. Somit kann dort, wo Entropie ist, nichts anderes mehr entstehen. Der Gedanke, den Rahid Marduk Al Fadim in seinen Schriften äußerte, nämlich dass die Entropie (die er "Hand des Meshiha Deghala" nannte) selbst eine physische Manifestation in Form eines Shaitan annehmen könne, ist darum mehr als beunruhigend, so man an diese Phänomene glauben will.

(aus: 'Legenden und Fakten, vermengt und zu Ende gedacht', von Albertus Magnus III.)

---

Der Geist des Makrokosmus

Studierzimmer des Doktor Claudius. Nacht. Der Doktor am Schreibtisch, auf dem Boden das Zeichen des Makrokosmus.

CLAUDIUS.
In der Jugend oft verborgen
Haben des Gelehrten Sorgen
Sich geschlichen in des Doktors Heim,
Doch kann er weder Reim
Noch Sinn in allen Zeichen sehen!
Es zu verstehen,
Dies sei der Weisheit erster Schluss:
Ist kein Glauben, ist ein Muss!

Der Student tritt auf. Er betrachtet des Zeichen.

STUDENT.
Meister, die Kirchenglocken läuten schon zur Nacht.

CLAUDIUS.
Was hat der Glaube mir gebracht?
Die Lehre hab ich wohl studiert,
Es mit Gottesfurcht probiert.
Doch wie all die anderen Dinge,
Lieder, die ich schlafend singe,
Hat am Ende sich erwiesen,
Dass all die Engel ich besungen,
Mit Ehrfurcht in den sterblich Lungen
Mich am Ende stets verlassen.
Sag', muss ich sie nun hassen?

STUDENT.
Die Zeichen jener göttlichen Lieder
Woll'n sich später erst erfüllen,
Denn - und so heißt es immer wieder -
Der Herr hat seinen eig'nen Willen.
Doch sagt mir, Meister,
Der Herrscher von diesem Zeichen
Wie heißt er?

CLAUDIUS.
Willst du endlich von mir weichen?

Claudius verjagt seinen neugierigen Schüler.

CLAUDIUS.
Nun bin ich endlich ganz allein
Mit dir, du dunkler Geist.
Willst du mir ein Diener sein?
Dann sag mir wie du heißt!

Das Zeichen glüht in vielen Farben. Der Erdgeist erscheint.

ERDGEIST.
Ich bin der Herr des Makrokosmus. Und du hast mich gerufen, Frevler.

CLAUDIUS.
Mitnichten will ich Frevler sein,
Dein Zeichen hab ich wohl gelernt.
Verstand und Herz sind mein,
Die Seele hab ich schon entfernt.
Eine Frage treibt mich um
Und - danach bleib ich stumm -
Kannst du mir die Antwort nennen,
Mich in der Klarheit Licht verbrennen?

ERDGEIST.
Das Mysterium gehört keinem Menschen, Frevler. Weder dir, noch mir. Ich, der ich Kronos genannt werde, füge mich wie du.


(aus: "Das Puppenspiel vom Doktor Claudius. Ein altes Volksstück, überliefert durch die Gebrüder Grimold", ursprünglicher Verfasser: Zebonäus Miltoran.)

---

Vom Shaitan

Von allen Djinnen, die der Meshiha Deghala mitsamt den Plagen über das Land bringt, ist Khaliq Schwarzstern wohl der, der den meisten Dämonologen aus der Schule des Lutherian geläufig sein sollte. Er gilt als der Verführer und Vergifter des Geistes, wird ihm in Samariq doch viel Unheil angelastet - und das wohl mit Recht. Wohl aber gibt es neben ihm und den im dritten Kapitel erörterten Efreeti, den Feuergeistern, noch andere Exemplare der Djinnenbrut, die per definitionem nicht etwa als Feinde des Herrn (oder in diesem Falle: Amurs) gelten, sondern als Feinde der Menschen selbst. Und auch wenn sie wie Khaliq Schwarzstern den Geist vernebeln können, so liegt die Stärke dieser Kreaturen in der Verführung und Vergiftung des Fleisches, des Körpers, der physischen Existenz ihrer Opfer, die sie verwandeln können in ihresgleichen oder in unmündige und willenlose Sklaven ihrer Befehle.
(...)
Wir nennen dieses Wesen einen "Shaitan". Nachträuber, Beherrscher von Ungeziefer und sogenannte "Durcheinanderbringer", was die korrekte Übersetzung des Wortes Shaitan ist. Es heißt, der Meshiha Deghala, der Teufel in der Religion der Hun, habe den ersten Shaitan selbst erschaffen aus den Überresten eines Engels Amurs, der Iblis genannt wurde. Und Iblis wandelte auf der Welt umher, um die Shaitan zu erschaffen, damit sie dem auserwählten Volk Amurs ein Feind sein würden.

(aus: 'Legenden Samariqs', zusammengetragen von Emes Polonius, Provinz Breton.)

---

Die Geometrie des Macrocosmos

Bevor wir uns der kleinen Welt zuwenden, wollen wir uns dem Großen zuwenden, dem Macrocosmos. Wie schon Pytharas in seinem Standardwerk 'Enzyclopaedia Cosmologica' spekulierte (und wie es nun wenigstens unter unabhängigen Gelehrten Konsens zu werden scheint), sind die mathematischen Konstrukte des Rahid Marduk Al Fadim, die im Jahre des Kirchlichen Frühlings in unsere Heimat gelangt sind, eine erhebliche und mehr als nur gedankliche Grundlage, um einer Vereinheitlichen Theorie näher zu kommen. Sie ist vielmehr rechnerisches Fundament einer weitaus höheren und ihrer Gänze noch zu erfassenden Struktur des Cosmos, die durch den in Kapitel Siebenundsiebzig beschriebenen Kreisumfang des Gaußanäums in Davinus Davoricae (am Fluss Luminus gelegen) annähernd konstant dargestellt werden kann.
(...)
So ist denn auch die Einführung der 0 in Samariq und Tectaria ein nicht zu unterschätzender Segen für alle Mathematiker und Cosmologen, die dieses Phänomen ergründen wollen. Wenn nämlich das Pendel des Galearan Galoleum in der Lage ist, die Lage jener legendären Quelleninsel zu bestimmen, dann tut es nicht nur das, sondern beweist, dass mitnichten unsere Welt das Zentrum des Weltenalls um uns herum ist, sondern dass tatsächlich die Sonne selbst von uns umkreist wird und nicht andersherum. Der Geist des Macrocosmos steckt in allen Dingen, sagt man. In keinem anderen Fall wird es so deutlich wie hier. Wir können diese Theorie somit ohne Erklärungsnot ausweiten auf die uns bekannten Sphären, von denen einige - darunter das in Kapitel Zehn beschriebene Mathricodon - physisch präsent sind. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass jede Sphäre bereisbar ist, so sie denn (a) physisch vorhanden ist oder (b) Manifestation des Pan-Prinzipes ist: Dass nichts über den Gedanken hinaus gedacht werden kann, weil der Gedanke selbst durch das Gedachte Gegenwart und Körper wird, was jede Sphäre in Kategore (a) einordnet.

(aus: "Der Kreisumfang", von Archimedon.)

---

Die Microcosmische Verschränkung

Wie im Großen so ist auch im Kleinen eine Gesetzmäßigkeit zu erkennen. Wir würden nun spekulieren, dass diese Gesetze einander ähneln oder gar gleich sind, denn das Gesetz des Homogenen Cosmos (vergleiche dazu den 'Tractatus Mathricodonem' von Pytharas) besagt: "An allen Stellen des Cosmos ist alles gleich, ist immer dieselbe Menge von allem, ist Materie Materie und Energie Energie."
Doch dies ist nicht der Fall. Vielmehr scheint der Microcosmos eigenen Regeln zu folgen: Wie bereits vor vielen Jahren schon der als Ketzer gebrandmarkte Rasputius von Brioless im verbotenen Werk 'Des Glaubens größter Feind - Über das irdische Wissen' dargestellt hat, ist es eine Tatsache, dass alles Große aus vielen kleinen Dingen erschaffen ist. Die Raupe besteht aus Segmenten, die Segmente bestehen aus kleinen Zellen und eben jene aus vielen anderen kleinsten Dingen. Und so ist auch der Mensch, so ist alles, was der Herr geschaffen hat. Und das Kleine formt gemeinsam, indem es wie Zahnräder einer Maschine ineinander greift, das Große. So ist denn auch das Gestirn über uns, die Erde und das Meer unter uns, ja alles Getier und Leben Summe von Teilen, die erleuchtet durch den göttlichen Funken erst das werden, was das Werden selbst ist: Wachstum und Größe.
(...)
Und die allerkleinsten Teile, sie sind das, was nicht weiter geteilt werden kann (Atomimus von Glan nannte dies "des Herrn Glanz im Allerkleinsten", siehe: 'Die Schöpfung als kosmisches Prinzip'). Kann man sie auch nicht weiter spalten, so sind sie doch in ihrer Winzigkeit das Mächtigste unter der Sonne des Herrn. Denn sie können an mehreren Stellen gleichzeitig sein. Sie sind die kleinsten Körperchen im Cosmos, aber sie bewegen sich gleichsam wie die Wellen eines Meeres und wie der Stein, der die Wellen erzeugen kann. Ein gutes Experiment und Beispiel für dieses Prinzip ist das von der Kirche als Magie verbotene, unter den Naturphilosophen der Schule des Pytharas aber als Beweis gefeierte "Experiment des Sardonicus":
Man nehme ein Ecaloscop auf der einen und eine metallene Wand auf der anderen Seite einer weiteren Wand, in die wir zwei Schlitze gesägt haben. Wir haben also das Ecaloscop als Lichtquelle und eine Wand als Empfänger dieses Lichtes. Und zwischen beiden ist die Wand mit den Spalten. Wenn nun das Ecaloscop mehrere kurze Lichtstöße abgibt, dann fällt das Licht an die mittlere Wand, aber einige Lichtstöße treffen auf die Spalten und gehen natürlich hindurch an die hintere Wand. Das Ergebnis wird irritieren: Nicht etwa nur an zwei Stellen der hinteren Wand erscheint das Licht, das durch die Spalten gegangen ist, sondern ebenso an Stellen, wo kein Licht hätte auftreffen können, da die mittlere Wand ja zwischen Ecalsoscop und empfangender Wand steht! Wie ist dies zu erklären? Nun, es ist einfach: Das Licht besteht aus den kleinsten Körperchen, die nicht weiter geteilt werden können. Aber sie bewegen sich wie die Wellen des Meeres. Und sie interagieren miteinander, sodass sie am Ende auf der gesamten Wand auftreffen können. Der Grund dafür liegt in ihrem Wesen: Die Wellen, die das Licht erzeugt, repräsentieren einen MÖGLICHEN Ort, an dem ein solches Körperchen anzutreffen ist. Doch sobald wir das Verhalten des Lichtes und damit der Körperchen studieren und messen, kollabiert diese Welle und wir finden ein Körperchen dort, wo das Licht an der Empfängerwand zu sehen ist - wenngleich die Möglichkeit besteht, dass es an ganz anderer Stelle ebenso existiert. Ist dies Magie? Nein, es ist ein Prinzip der Natur: Dass alles Wirkung einer vorhergehenden Ursache ist! Und da wir selbst aus diesen Körperchen bestehen, manipulieren wir deren Verhalten stets, wenn wir sie messen.
(...)
Wir konnten mit der Formel des Feynberg beweisen, dass die Körperchen im ganzen Macrocosmos bestehen und im Microcosmos ersteren formen. Weitergehend muss ausgeführt werden, dass die Körperchen über große, riesige Entfernungen miteinander in Verbindung stehen. Verändert man das eine, dann reagiert das andere. Diese Verschränkung ist es, welche der Schlüssel zur Kommunikation über Ecaloscope sein muss. Und wenn ein Ecaloscop ausreicht, ein solches Körperchen zu manipulieren und wenn die siebte Sphäre ebenfalls daraus besteht, dann ist eine Reise an eben jenen Ort nur noch eine Frage der Zeit.

(aus: 'Von Wahrheit und Mythos', von Euripedeon von Marmuca.)

Benutzeravatar
Tharon
Beiträge:4108
Registriert:22 Dez 2006, 20:06
Wohnort:Iserlohn

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Tharon » 29 Jun 2017, 15:08

Vier Söhne Oder: Die Wandlung wandelt selbst.

Alte und neuere Aufzeichnungen eines Ecaloscopes, das sehr weit gereist ist. Entdeckt und gesammelt von Taynos und Maestlin, Gelehrte des Blauen Turms.


~~~


I.
Gespräch zwischen zwei Gelehrten, Datum unbekannt. Das Knistern eines Kaminfeuers ist zu vernehmen.

ALBERTUS MAGNUS:
Sagt, werter Archimedon, wie steht es also um das Pan-Prinzip? Geht Ihr konform mit meiner Annahme, dass nicht nur ein Erreichen des Mysteriums, sondern ebenso das Manipulieren desselben im Rahmen einer entropischen Energiewandlung zwingend anzunehmen wäre?

ARCHIMEDON:
Ich stimme Euch zu, werter Albertus. Doch in einem Gespräch mit Gerhold von Carmon habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass das Mysterium möglicherweise nicht für uns Menschen gedacht ist. Manches muss unberührt bleiben, und vielleicht nennt man es nicht umsonst das Letzte Geheimnis.

ALBERTUS MAGNUS:
Und doch forscht Ihr wie besessen auf diesem Gebiet. Ihr habt viele Bewunderer. Euer "Kreisumfang" wurde schneller verboten als alle anderen sogenannten häretischen Werke. Und ich habe ebenso vernommen, dass Ihr eine Reise plant. Wie steht es damit?

ARCHIMEDON:
Ein Erforschen des Mysteriums ist nicht gleichzusetzen mit einem Bereisen desselben, mein Freund. Ich glaube, wir müssen äußerst vorsichtig sein, denn alles gesammelte Wissen ist höchst sensibel. Was die Reise betrifft, so erhoffe ich mir davon eine Erhellung bezüglich des Mythos des Allwissenden Erzählers, der aus einem geheimen Buch heraus die Geschicke der Welt lenken soll. Ihr wisst, wie gefährlich dieser Mythos ist. Vielleicht kann ich ihn entkräften. Desweiteren dürfte es neue Erkenntnisse über den Remigius-Lazarus-Komplex ergeben, der durch den Kult des Phaeton, der in der Provinz Polonia neue Nahrung gefunden hat, erst in Gang gesetzt wurde.

ALBERTUS MAGNUS:
Ihr würdet die Kirche stärken, würdet Ihr den Mythos entkräften. Wir haben so lange daran gearbeitet, eine Legende zu konstruieren, welche den Glauben in seinen Grundfesten erschüttern würde. Und nun wollt Ihr all das auf's Spiel setzen und verraten?

ARCHIMEDON:
Eine Legende ist das eine, eine Tatsache das andere. Ich persönlich fürchte, dass wir den Erzähler erschaffen haben, als wir unsere erste Reise zur Insel der Quelle unternommen haben. Ich habe Euch doch berichtet, dass Eure Theorie zur Entropie bewiesen wurde. Nun, ich fürchte der Glaube an einen allmächtigen Erzähler wurde dadurch ebenfalls zur Tatsache. Es widerspricht unserem festen Wunsch, unser eigenes Schicksal in dieser Welt zu lenken. Und wenn ich dann bedenke, dass Martus von Polonius die Schriften seines Vaters Emes zur Erforschung des Pytharischen Determinismus ausgerechnet in die Kolonie gebracht hat...ich denke, wir stecken bald in großen Schwierigkeiten.


II.
Befragung eines Zeugen vor einem tectarischen Kirchengericht, vermutlich um 14 n.G.B. Ab und an raunendes Publikum.

INQUISITOR:
Und habt Ihr etwas zu diesen Vorwürfen zu sagen, Herr Klammberg?

KLAMMBERG:
Mir ist bewusst, dass das Hohe Gericht es als sein erklärtes Ziel betrachtet, meine Familie zu verfolgen, weil mein Vater gemeinsam mit den Dienern des Meeres vor 30 Jahren in das verheißene Land aufgebrochen ist. Doch ich blieb. Ich bin dem Reich gegenüber loyal. Mir ist nicht klar, was die Anklage mit dieser Verhandlung erreichen will. Die Vorwürfe gegen mich und meine Ehefrau sind schon deshalb haltlos, weil meine Handlungen einzig Tectaria dienten.

INQUISITOR:
Ihr leugnet also nicht, dass Ihr Kontakte zu Liranus von Breton, dem Exkommunizierten und seiner rebellischen Freunde unterhaltet?

KLAMMBERG:
Wieso sollte ich es leugnen? Ich habe die Briefe, die ich erhalten habe, dem Gericht und auch dem Bischof der Provinz Breton vorgelegt. Bei der Heiligen Minerva, ich habe im Sinne unseres Volkes gehandelt, da ich davon ausgegangen bin, dass die Kirche interessiert wäre an Informationen über Liranus. Nach seinem Tod folgte sein Sohn Lirhan ihm auf den Thron. Doch viel wichtiger ist, dass auch in dem neuen Land Elementarknoten entdeckt wurden, die wir in einen Zusammenhang stellen mit den Ecaltanim und den sogenannten Dunklen Alten, wovon die Vorzeichen sprachen. Ist dies nicht wichtig für unser Land?

INQUISITOR:
Es ist nicht an Euch, Fragen zu stellen, Herr Klammberg! Doch um sie zu beantworten: Natürlich sind diese Informationen wichtig. Jedoch habt Ihr erstens nicht im Auftrag der Kirche gehandelt, und zweitens ist es jedem, der nicht direkt Angehöriger der Heiligen Unfehlbaren Inquisition ist, direkten Kontakt mit dem fremden Land und seinen ketzerischen Bewohnern aufzunehmen. Per Erlass der Enzyklika des Heiligen Mikael ist es Gewöhnlichen nicht gestattet, die Intentionen der Mutter Kirche und des Heiligen Stuhls zu hinterfragen oder zu interpretieren! Ich frage erneut: Gebt Ihr also zu, gegen diese Gesetze verstoßen zu haben?

KLAMMBERG:
Ich sage erneut, ich kann es nicht leugnen. Doch seht, was ich herausfand. Erkennt Ihr nicht, dass diese Fakten eine Gefahr für Tectaria darstellen?

INQUISITOR:
Zweifelt niemals die Weisheit dieses Gerichtes an. Natürlich sind wir uns im Klaren, was diese Informationen bedeuten. Und weil sie dem Land und der Mutter Kirche dienen, reduzieren wir die Todesstrafe und wandeln sie um in eine zehnjährige Erleuchtungsreise in die Kolonie südlich der Provinz Erivynia. Im dortigen Arbeitslager zur Körperlichen Segnung werdet Ihr Zeit haben, Euren Frevel zu überdenken. Abschließend wünschen wir eine Zusammenfassung, was Ihr bei Euren unerlaubten Nachforschungen über den Verbleib der Schriften des Heiligen Gelehrten herausgefunden habt. Wurden sie von Liranus mitgenommen oder waren diese Vermutungen falsch, sind sie also von anderen Subjekten entwendet worden?

KLAMMBERG:
Ich bitte das Hohe Gericht, meine Ehefrau von allem freizusprechen. Unter dieser Voraussetzung werde ich meine Erkenntnisse mit Euch teilen.

INQUISITION:
Das Gericht ist kein Basar, auf dem Ihr feilschen könnt wie die Gottlosen in Samariq! Jedoch zeichnet sich die Mutter Kirche durch Gnade und Liebe zum Volk aus. Das Gericht wird daher Eurem Antrag entsprechen. Wohl an, teilt uns die Erkenntnisse mit, Herr Klammberg.

KLAMMBERG:
Ich danke dem Hohen Gericht. Nun, meine Nachforschungen haben keinen Zweifel darüber gelassen, dass die Schriften des Heiligen Gelehrten mitnichten das neue Land erreicht haben. Mein Informant Alderin von Torbrin teilte mir mit, dass Liranus von Breton gar keine Kenntnisse von den Schriften hatte; ich habe daher weiter nachgeforscht: Es gibt Grund zur Annahme, dass der Foliant von der Familie Polonius entwendet worden ist. Und, wie das Hohe Gericht weiß, befindet sich der Großteil der Familie Polonius auf dem Weg nach Marjastika zur Erforschung der Mythen der sogenannten Königin des Westens.


III.
Gespräch eines unbekannten Gelehrten mit einer Kreatur, Datum unbekannt. Im Hintergrund das Rauschen von Wasser.

GELEHRTER:
Bei den Engeln des Herrn! Was geschieht hier? Was... was... bist du, Kreatur? Kannst du sprechen?

HOMUNCULUS:
Ich kann hören, ich kann sehen, gehen, riechen und schmecken. Und offensichtlich kann ich auch sprechen.

GELEHRTER:
Doch wie ist es möglich? Alles, was ich wollte, ist diese Schriften endlich zu vernichten. Aber das verfluchte Buch ist immun gegen jedes Feuer. Ich kann es nicht zerreissen, ich kann es nicht zerstören. Es musste versenkt werden!

HOMUNCULUS:
Ach, erwähnte ich, dass ich auch des Lesens mächtig bin? Ich kann alles, was du kannst. In deinem Büchlein stehen viele Dinge, ja, viele Dinge.

GELEHRTER:
Mich deucht, ich verliere den Verstand. Der Herr prüft und bestraft mich, das ist es. Für all den Frevel, den ich begangen habe! Weiche, Dämon der Versuchung!

HOMUNCULUS:
Ach, nenn mich nicht so. Nenn mich den Homunculus. Erinnerst du dich an das, was du über den Körperlosen geschrieben hast, und was du über den Dybbuk weißt?

GELEHRTER:
Ich...muss mich sammeln... Ja, ich erinnere mich. Aber das sind doch bloß Theorien, die nach der Erkundung des Abyssariums stattfanden. Ist alles davon wahr?

HOMUNCULUS:
Nun, Vater, du hast den Noncorpus in deinen Schriften zur allgemeinen Geschichte der Welt und deiner Heimat im Speziellen erwähnt und beschrieben. Und jetzt, tata, bin ich hier! Das Wasser und der Schlamm haben mich gemacht, aber mein Geist kam durch die Zeilen, die du geschrieben hast. Gehen wir nun heim? Wollen wir noch ein wenig an deinen Formeln arbeiten?

GELEHRTER:
Du nennst mich Vater? Ich habe den Formeln des Polonius abgeschworen, ich will nicht noch mehr anrichten, nicht noch mehr Gefahr bringen.

HOMUNCULUS:
Ich bin dein Sohn, denn du hast mich gezeugt. Etwas ungewöhnlich, aber ich würde wohl sagen, dass es so ist. Es ist mir gleich, welchen Weg du nun beschreitest, aber ich muss noch mehr wissen. Und wenn du nicht willig bist, ich brauche dich nicht. Ich habe alles, was ich benötige. Es steht alles in deinem Buch, Vater.

GELEHRTER:
Nein, du sollst es nicht haben, niemand darf es haben!

Ein lautes platschendes Geräusch, dann wohl ein Handgemenge, ein Kampf. Schließlich Stille, bis auf das Rauschen von Wasser.


IV.
Selbstgespräch und Bericht eines unbekannten tectarischen Gelehrten, vermutlich 13 n.G.B. Das Surren eines Ecaloscopes ist laut zu hören.

Die vor einigen Wochen begonnenen Aufzeichnungen ergeben ein interessantes Bild, die polonischen Formeln betreffend. Nicht nur vereinfachen sie die Berechnung des archimedischen Kreisumfangs, sie scheinen ebenso zu korrespondieren mit den Verschränkungstheorien, die von Euripedeon einst auf Basis der Glan'schen Schöpfungsideen aufgestellt worden sind. Dass dies nicht nur äußerst bahnbrechend, sondern ebenfalls gefährlich sein kann, muss nicht extra erwähnt werden. Die Berichte über die Metalle im Lande Marjastika lassen den Rückschluss zu, dass die Theorie nur dort getestet werden kann. Sollte es dort ähnliche magische Ströme geben wie sie an den tectarischen Elementarknoten und in den Proben des Quellwassers gemessen werden konnten, würde dies bedeuten, dass diese Knoten die gesamte bekannte und auch unbekannte Welt umspannen.
Die Entdeckung der Heilquelle in der Provinz Breton vor einigen Jahren hat tatsächlich viele der vorsichtig formulierten Hypothesen, begonnen beim Pan-Prinzip und endend bei der microcosmischen Verschränkung, bestätigt und bewiesen. Es ist natürlich eine Schande, dass der Heilige Gelehrte vor der Entdeckung der Inhalte des Quellwassers seine Schriften zerstört hat. Wie hilfreich die historischen Aufzeichnungen nun wären, im Zusammenhang mit den polonischen Formeln, deren selbstwandelnde Wandlung ohne irgendeine magisch erkennbare Ursache physischer oder metaphysischer Natur vonstatten geht! Aber wir müssen uns wohl dem Ganzen fügen, wie Vater immer zu sagen pflegte. Ich hoffe nur, dass Emes und die anderen bald zurückkehren, denn ich benötige dringend die Untersuchungsergebnisse den Stein des Himmels betreffend. So nennt die Kirche es natürlich. Dass es ein simpler Meteor ist, darf natürlich nicht ausgesprochen werden. Aber was die Geistlichen als Zeichen des Herrn deuten, ist in Wahrheit viel mehr: Der Beweis, dass nicht nur die Tirinaither ihre magischen Kräfte durch die Zenthyr erhalten haben, sondern ebenso dass Phaeton weder ein Engel des Herrn noch ein in anderer Weise Erleuchteter war. Auch ist er kein metaphysicher Mythos, sondern gehört zu den Ergebnissen einer polonischen selbstwandelnden Wandlung!
Ich bestreite nicht die entropischen Theorien des Albertus Magnus, sie haben ohne Zweifel ihre Bedeutung und erklären das Verhalten vieler Phänomene. Jedoch geht dem eine polonische Konstruktion hervor, die besagt, dass die Magomathik im Gegensatz zur Mathematik praktische Ergebnisse erzielt und eine Entropie geradezu voraussetzt UND erzeugt. Ach, wenn ich doch nur das Verbotene Buch des Heiligen Gelehrten in die Finger kriegen würde, ich könnte noch viel mehr tun als meine Thesen einfach nur zu beweisen. Ich könnte Energie aus dem Nichts erzeugen!

Benutzeravatar
Tharon
Beiträge:4108
Registriert:22 Dez 2006, 20:06
Wohnort:Iserlohn

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Tharon » 03 Jul 2017, 16:11

Briefe - Teil Eins

Briefe bekannter und weniger bekannter Persönlichkeiten aus unserer Vergangenheit, das Vergessen betreffend, chronologisch geordnet sofern zu identifizieren (die älteren Briefe zuerst). Teilweise in Auszügen. Zur Verfügung gestellt durch Überlebende, teilweise abgefangen oder kopiert. Gesammelt von Remigion I., genannt Der Winterkönig, König von Bretonia, Herzog des Brelandes, Oberster Verweser des Protektorates Tectaria, im Jahre 177 n.G.L., was das Jahr 765 n.G.B. nach alter Zeitrechnung ist, dem Siebzehnten Jahr des Dunklen Winters, dem Dreizehnten Jahr nach dem Entschwinden Blyrtindurs.


~~~


Brief des Gelehrten Pytharas an seinen Schüler Aristophus

Mein lieber Aristophus,

es ist natürlich wahr, dass die Formeln zur Berechnung der Hand Amurs, den manche den "Schwarm" nennen, einen äußerst neuartigen und vermutlich ebenso grenzwertigen Weg zur Beschreibung der Geometrie des Kreises bedarf. Ich empfinde das Endergebnis zwar nicht als elegant, jedoch ist es in seinem eigenen Ursinne vollkommen, denn die Schöpfung lehrt uns, dass nichts was der Herr gemacht hat, so vollkommen ist wie das Unvollkommene. Wie kann also der Mensch Pytharas etwas schaffen, das vollkommener als seine eigene Fehlbarkeit wäre?
(...)
Ich muss dir an dieser Stelle zustimmen: Jener Foliant, den Polomides dem Euripedeon zukommen ließ, man gewährte mir Einblick in die dargelegten Theorien, ist bemerkenswert. Und wenn sie auch nicht eindeutig bestimmen konnten, wer der Urheber jenes Manuskriptes ist (Vermutungen, es sei ein Appendix zum Pan-Prinzip waren eindeutig falsch), so waren sich beide aber sicher, dass es nicht aus den Kreisen unserer Schule stammen kann. Die Formeln sind so fortgeschritten, dass selbst Euripedeon, neben dir einer meiner liebsten und besten Studiosi, in Ehrfurcht gesagt haben soll, dies sei das Ende der Tectarischen Mathematik. Schon der Titel dieses Werkes ("Das Verbotene Buch der Magomathik") lässt ja erahnen, dass wir es hier mit einer völlig neuen und unerforschten Seite der Geometrie des Kreises zu tun haben.
(...)
Insofern muss ich festhalten, dass die selbstwandelnde Wandlung, die durch die Zahlen und Figuren beschrieben wurde, in sich selbst eine Verschränkung aufweist, welche mit Hilfe eines Ecaloscopes - gepriesen sei Ecaltan - praktisch bewiesen werden kann: Das Buch wandelt sich selbst, scheint durch die hohe Konzentration an noncorpischer Materie (was ein Oxymoron ist; man kann es aber nicht anders benennen!) eine Transmutation höchster Magnitude aufzuweisen.
Nun, wer hat es verfasst, und wo sind die fehlenden Seiten? Eine noch viel wichtigere Frage: Wieso sind nur Teile des Buches beschrieben und andere Seiten blank?


---

Brief des Gelehrten Archimedon an einen nicht namentlich genannten Empfänger

Allerwertester Freund,

in diesen dunklen Stunden schreibe ich dir, denn ich weiß keinen anderen, der sich der Angelegenheit annehmen kann. Da ich in Kürze zu einer wichtigen Forschungsreise aufbrechen werde, sollst du es sein, der die Sache weiter verfolgen wird. Ich vertraue darauf, dass du mit derselben Diskretion und Sorgfalt vorgehst wie dein Ruf dir dahingehend und die Lehre betreffend vorauseilt. Wisse, dass auch ich nicht sagen kann, wo sich die Spur des Verbotenen Buches verliert, aber ich bin mir sicher, wo es sich zur Zeit aufhält: Bereits andere vor uns haben bewiesen, dass das Mysterium ein physisch fassbarer Ort ist, gleich was die Lehre der Kirche besagt. Und dort muss dieses Buch sein. Die Messungen am Astrolabium von Cüdenstein und auch die Berechnungen der Großen Maschine der Zendavesta haben dies eindeutig bestätigt.
(...)
So kann man denn auch bestätigen, dass jene Shaitan, wie die Hun diese Kreaturen nennen, faktisch Personifikationen der von Albertus Magnus dokumentierten Entropie sind, deren Ursprünge ich unterhalb der Malstromkontrolle vielleicht finden werde. Ich bin äußerst angeregt durch den Gedanken, endlich einen Fuß auf diese Insel zu setzen, welche nach allen Maßstäben der Wissenschaft ein Unicum in dieser Welt darstellt. (...) Auch wenn die Shaitan natürlich auf eine bestimmte Art entstehen (Sagen aus Samariq ausgeklammert), indem eine Infektion des Blutes des Opfers eine solche Transformation in einen Dhampir auslöst, so ist unbestritten, dass ihre direkte Verbindung mit der natürlichen und ebenso magomathischen Entropie aus dem Verbotenen Buch Kern ihres Wesens sein muss. Die Transmutation von Körper und Geist ist identisch mit der mircrocosmischen Transmutation, die auf Verschränkung beruht. Ich sehe also durchaus die Gefahr, dass besonders alte und fähige Dhampire in der Lage sein dürften, das Mysterium durch einen Akt der Teleportation zu erreichen. Etwas, das wir viele Decaden theoretisiert haben, mag also eingetreten sein.


---

Brief von Janus Polonius an seinen Vetter Emes

(...)
Bevor du und Stephanus also aufbrechen nach Marjastika, will ich dich bitten, das Buch an dich zu nehmen und es dort zu verstecken. Was uns beschrieben wurde in der Taverne zu Alt-Breton hat mich sprachlos zurückgelassen. Wenn ein Homunculus einfach aus dem Schlamm des Flusses entstehen kann, der genährt wird durch die vor einigen Jahren entdeckte und erforschte Heilquelle, und zwar durch das besagte Buch in seiner jetzigen Form, dann ist dies nichts, womit wir in Verbindung gebracht werden sollten. Niemand sollte dieses Buch besitzen! Es kann nicht vernichtet werden, also müssen wir es verstecken. Die Kolonie ist weit weg, und darum scheint sie mir der Ort zu sein, der am besten geeignet ist.
(...)
Mir war nicht bekannt, dass die darin enthaltenen Formeln mir zugeschrieben werden. Ich habe aber jetzt vernommen, dass sie sogar nach mir benannt wurden: Sie nennen sie Polonische Formeln. Alles was ich getan habe, war lediglich, das Werk zu entschlüsseln und auf seinen Zweck hin zu prüfen. Als ich den Bericht über den Homunculus las und Archimedons Hypothese zur Simulacrum-Maschine auf der Insel, hätte ich es ahnen müssen. Ich hätte sehen müssen, was ich in meinen Händen halte. Dass ein Dybbuk auf diese Weise Form durch Nicht-Form und Selbstwandelnde Wandlung erhalten kann, wurde mir erst später klar. Es muss etwas mit der Entropie zu tun haben, die man derzeit überall in viel zu hoher Konzentration beobachten kann. Was hältst du in diesem Zusammenhang von den Prozessen gegen die Blutmagier von Davoria? Kam auch dir nicht der Gedanke, dass die Inquisition es hier mit Vampirismus zu tun haben könnte? Wir haben sie gewarnt, so oft haben wir sie gewarnt, Emes.
(...)
In der Tat habe ich betreffende Seiten entfernt und versteckt. Sollten die Weissagungen des Pytharas zutreffen, wird der Unberührbare wissen, was damit anzufangen ist. Das gilt auch für die Pestillenz, die in 200 Jahren das Land heimsuchen soll. Über den Jäger aus der Kälte habe ich leider nichts gefunden.


---

Brief eines bretonischen Soldaten an seinen Vater

(...)
Ich weiß, Vater. Du hast uns gelehrt, dem Aberglauben keine Aufmerksamkeit zu schenken. Es steht einem geraden und rechtschaffenen Leben in Frömmigkeit und Ehrlichkeit im Wege. Trotzdem weiß ich keinen anderen, dem ich davon erzählen kann. Gerwald ist tot, und meine anderen Kameraden würden mich auslachen, hörten sie davon. Wahrscheinlich würden sie glauben, ich hätte das Schlachtfeldfieber, jene schlimme Krankheit, die nach einer schweren Wunde eintreten kann und so viele Kameraden nach der Schlacht am Fontis Silvan gegen die Orken gefordert hat. Möge sich Leban ihrer Seelen annehmen, und möge Liras das Licht des Trostes auf ihre Familien scheinen lassen.
(...)
Und ich sage dir, mein lieber Vater, es ist alles wahr. Nachdem ich also von meiner Einheit getrennt wurde, versuchte ich mich zum Kommando Thairach Brantarrakh durchzuschlagen. Von den Plänen des Generals, den Feind hinter den gegnerischen Linien direkt auszuschalten, wusste ich als Meldegänger ja. Die Depesche, die ich mit mir trug, konnte ich in der Nähe des Gewölbes bei der Lethantis Station verstecken, sollte mich ein orkischer Spähtrupp fassen.
(...)
Eben noch war der Weiher bewohnt von Fröschen, und Mücken tanzten umher. Und im anderen Moment erstarb das Leben dort, und eine dicke Schicht aus Eis hatte sich dort gebildet - und das mitten im Frühsommer. Zuerst war ich fest überzeugt, den Verstand zu verlieren. Ich versteckte mich im Dickicht, schloss einen Moment die Augen und sprach ein Gebet. Aber als ich die Augen wieder öffnete, da hatte sich sogar Schnee um das Ufer gelegt. Dann hörte ich das Geräusch vom aufbrechenden Eis, und eine Kreatur stand in der Mitte des Weihers. Die Augen waren kalt wie der Winter, und seine Hände hatten messerscharfe aufblitzende Krallen. Es sah sich um, und es schien mich zu sehen, und es war, als würden sich Dornen aus Eis in meinen Leib bohren. Ich glaube, dass es mich gesehen hat. Und in dem Moment dachte ich, zu erblinden. Nichts war mehr da, alles war dunkel. Es war, als würde ich mein Augenlicht verloren haben, doch das Nichts, das ich sah, war mehr als nur eine Schwärze. Wie das Ende der Welt erschien es mir. Und wenn dann nicht der kleine Waldgeist erschienen wäre, du weißt schon, die Wichte, von denen du mir erzählt hattest, als ich noch ein Kind war, ich wäre vielleicht dort gestorben.
(...)
Es war das Schlimmste, das ich je gesehen habe. Furchtbarer noch als das Grauen des Krieges, die Tode meiner lieben Kameraden und die Verwundeten auf den Schlachtfeldern am Fontis Silvan und einige Tage darauf in der Ebene, und selbst die würde ich so gern vergessen, mein lieber Vater. Aber ich kann es nicht, denn wenn mich der Krieg eines lehrt, dann dies: Es ist nicht der Tod, ist nicht der Schmerz und Furcht vor der Schlacht, die uns töten, es ist das unheimliche und bohrende Vergessen, denn es sorgt dafür, dass wir immer neue Kriege führen, denn die alten Kriege haben wir tief in unseren blinden Herzen verschlossen und versiegelt. Als ich dieses Wesen sah, dort am Weiher, wurde ich dieser Erkenntnis gewahr. Als hätte es mir den Frevel des Lebens und aller Menschen gezeigt.


---

Brief von König Helemos an Travian Klammberg, Archivar in Edailech

Verehrter Herr Klammberg,

grundsätzlich sehe ich keinen Grund, Euch die Erforschung der Ruinen zu verwehren. Ob der Tempel von Liranus selbst erbaut wurde oder er ihn bereits vorfand, wie die Hinweise am sogenannten Blauen Turm suggerieren, ist eine Frage, die auch im Interesse des Reiches beantwortet werden muss. Die Familie Torbrin erhebt nicht nur Anspruch auf Burg Witrin und Umgebung, sondern ebenso auf jene Ruinen in der Nähe des Kastells. Sollte sich allerdings herausstellen, dass die Ruine von Liranus errichtet worden ist, um Leban zu huldigen, dann wäre eine solche faktische Entdeckung nicht nur ein Beweis, auf den wir unseren Gegenanspruch stützen können, sondern gleichsam würde das Haus Carmon diese Entscheidung unterstützen, weshalb umgekehrt der Streit um die Regionen Waldwacht und Wilderberg Cleophas von Brioless besänftigen können. Ihr seht, es hängt mehr davon ab als nur die Erkenntnis, die Ihr Euch erhofft. Auf diese Weise können wir hoffentlich eine Eskalation dieses Konfliktes verhindern!
(...)
Verstehe ich es richtig, dass die sogenannten Tirinaither also jeden Anspruch auf die Ruine von vornherein verneinen? Dies wäre äußerst günstig, denn noch mehr Parteien in dieser unsäglichen Angelegenheit, und dies nach dem Krieg gegen die Orken, würden das Reich auf nicht tragbare Weise schwächen. Auch die Kirche wird Euch also unterstützen. Der Hoheprieser der Lebankirche wird Euch persönlich begleiten, um die Ausgrabungsstätte mit seinen Tempelrittern zu sichern. Auch hoffen die Lebaner, eine Aufklärung für die Tirinaither zu erringen, die in der Umgebung der Ruine verschwunden sein sollen.
(...)
Hinweise auf Blutmagie konnte die Academia indes nicht feststellen, wohl aber nähren die unsäglichen Gerüchte, die Caiphas von Caenor gestreut hat, den Volksglauben an den Vampyr, wie er schon in Tectaria schreckliche Kreise und Verfolgungen nach sich gezogen hatte. Sollten sich allerdings bestimmte Gerüchte bestätigen, so lasst es mich in einer Eildepesche wissen. Ich setze Eure Diskretion natürlich voraus, dies tut auch Cyrios von der Inquisition.
(...)
Abschließend möchte ich Euch gratulieren zur Kontaktaufnahme mit den Tirinaithern, deren magische Kenntnisse von großem Wert sein dürften. Die Forschungen des Euripedeon, wonach bestimmte magische Ströme nicht nur in den Elementarknoten, sondern auch in der Sonne selbst ihre Ursprünge haben, sind aus unserer Sicht hier bestätigt worden. Eine bahnbrechende Erkenntnis, Herr Klammberg!
Zur dem anderen Gesuch eine kurze Anmerkung: Einen Zusammenhang zwischen den Traumwächtern aus den Legenden und den Tirinaithern zu finden, scheint eine etwas vage Angelegenheit zu sein. Wohl aber unterstützen wir jede faktische Erkenntnis, die sich aus den anderen Nachforschungen dazu ergeben könnte. Vielleicht - wenn Ihr nun uns eine vage Vermutung gestatten wollt - kann die Geschichte des Unberührbaren und seines Erzfeindes, dem Dybbuk aus dem Mythos des Vampyrs (ich erwähnte bereits die Hexenjagden, die man deshalb in Tectaria machte, wir wollen dies hier nicht wiederholt sehen; dennoch bedarf es einer endgültigen Klärung) in das Reich der Mythen verwiesen werden, wo sie besser aufgehoben wäre.

Benutzeravatar
Tharon
Beiträge:4108
Registriert:22 Dez 2006, 20:06
Wohnort:Iserlohn

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Tharon » 04 Jul 2017, 16:02

Briefe - Teil Zwei

Briefe bekannter und weniger bekannter Persönlichkeiten aus unserer Vergangenheit, das Vergessen betreffend, chronologisch geordnet sofern zu identifizieren (die älteren Briefe zuerst). Teilweise in Auszügen. Zur Verfügung gestellt durch Überlebende, teilweise abgefangen oder kopiert. Gesammelt von Remigion I., genannt Der Winterkönig, König von Bretonia, Herzog des Brelandes, Oberster Verweser des Protektorates Tectaria, im Jahre 177 n.G.L., was das Jahr 765 n.G.B. nach alter Zeitrechnung ist, dem Siebzehnten Jahr des Dunklen Winters, dem Dreizehnten Jahr nach dem Entschwinden Blyrtindurs.


~~~


Brief von König Darius I. an Lord Caldorvan von Torbrin

Lord Caldorvan,

da Ihr die Nachrichten meiner Boten bisher ignoriert habt, versuche ich nun, Euch auf diese Weise zu einer Antwort zu bewegen. Zuvor will ich erwähnen, dass die zu Euch gesandten Boten unter Parlamentärsflagge Eure Grenzen überschritten haben - da sie sich nicht bei ihren Einheiten zurückgemeldet haben (und wir auch keine Reaktion Eurerseits zu vermelden haben), muss ich davon ausgehen, dass sie Eure Gefangenen sind oder gar getötet wurden. Dies ist vollkommen inakzeptabel und geht gegen jede festgeschriebene oder unausgesprochene Regel des Krieges! Dies hier ist ein Bürgerkrieg, begonnen durch Euch und bisher von beiden Seiten erbarmungslos gekämpft worden. Es ist aber mitnichten ein Grund, ehrlos und falsch zu handeln. Daher ersuche ich Euch um Herausgabe der gefangenen Boten, unversehrt und gesund, sofern sie noch leben. Unsererseits werden wir ebenso zwei gefangene Offiziere an Euch übergeben, die nach der Schlacht von Thyms Rast nach Bredorf gebracht wurden, wo sie übrigens gut behandelt werden. Solltet Ihr dieser Aufforderung nicht entsprechen, werden wir nicht nur die beiden Offiziere, sondern zehn weitere Soldaten umgehend öffentlich richten. Daher appelliere ich an Euer Gewissen: Denkt auch an Eure eigenen Männer und zwingt uns nicht zu diesen brutalen Maßnahmen.
(...)
Das Land hat genug gelitten, darum ist es an der Zeit, erneut in Verhandlungen zu treten, findet Ihr nicht? Das Reich ist bereit, einen Frieden zu schließen und Eure Ansprüche anzuerkennen, was das Seelenmoor betrifft, jedoch nichts darüber hinaus. Verhandlungen mit den Kelten, die ich im Geheimen führte, garantieren Euch ebenso den Besitz des Blauen Turms und Umgebung, bis zum Rand des Waldes, der wie Ihr wisst, extraterritoriales Gebiet darstellt. Die Kelten würden - im Sinne des Friedens und zum Schutz der Bretonen, die noch in diesem Krieg fallen würden - eine andere Heimstätte erwählen. Sagt mir, wenn ein uns fremdes Volk ein solches Opfer bringen kann, erkennt Ihr dann nicht auch - wie ich - ein Zeichen der Götter, dass es genug ist?
(...)
Im Gegenzug verlangen wir allerdings die Möglichkeit, die Tempelruine, die sich bei Abschluss dieses Vertrages in Eurem Besitz befänden, untersuchen zu dürfen. Eine neutrale Gruppe von Magiern der Akademie, sowie der Priesterschaft des Leban, würde unter Eurer Aufsicht, aber unter Begleitung einer Patrouille des Reiches, sowie eines neutralen Beobachters der Kelten, jenes Bauwerk und die dort gefundenen Gegenstände untersuchen. Dies muss auch in Eurem Sinne sein, denn die Berichte verschwundener Soldaten in dieser Gegend sind Grund genug, die Vorgänge genauer zu eruieren. Eure Anschuldigungen, Spähtrupps des Reiches hätten die Soldaten dort verschleppt, ist schon deswegen unhaltbar, weil auch Meldegänger und Kundschafter sowohl des Reiches als auch der Kelten und in der Vergangenheit der Tirinaither dort zuletzt zu vermuten waren, bevor auch sie spurlos verschwunden sind.


---

Brief von Marcus Polonius an König Lerhon I.

Werte verehrte Majestät, König Lerhon,

mir ist bewusst, dass ich Euch in schweren Stunden schreibe, denn Ihr und somit das Bretonische Reich habt nun genug Sorgen und Probleme, welche mit dem Überfall auf Nordstein und die Station der Rabenschwingen begannen. Gewiss steckt Ihr mitten in Vorbereitungen und Plänen, die Nördlichen Schwarzberge und ihre Bewohner zu befreien von den Invasoren aus dem Wilderland. Ich wünschte, ich könnte mehr dazu beitragen als meine Sympathie und der Hilfe, die meine Familie den Opfern Ymirs und der Blodhord in Form von Speisen und Gold zukommen lässt.
(...)
Dieses Anliegen jedoch kann nicht warten.
In Bezug auf die Audienz, die Ihr mir vor einigen Wochen gewährt habt, möchte ich Euch mitteilen, dass meine Reisevorbereitungen abgeschlossen sind. Auch habe ich die Nachforschungen beendet, um die Ihr mich in unserem Gespräch gebeten hattet: Meines Wissens nach, und dies wurde durch Seefahrer und Händler bestätigt, haben die Nordmannen den Aufbau ihrer Siedlung im Gebiet der Ostfold und Jütheims abgeschlossen und treiben bereits regen Handel mit anderen ansässigen Stämmen und den hiesigen Dvergen. Es gibt keinerlei Hinweise oder Anzeichen darauf, dass die Norwingar unter Hetman Wulfus Kontakte zur Blodhord unterhalten, vielmehr haben sie neugierig die Berichte aus Bretonia verfolgt und hegen Sympathien mit den Schwarzbergen und ihren geplagten Bewohnern, war es doch einst ihre bitter umkämpfte Heimat in unserem vom Krieg verheerten Land.
(...)
Ich habe also meinen Teil unseres Handels eingehalten und Euch diese Informationen besorgt. Und ohne undankbar zu wirken oder allzu fordernd, Eure Majestät, nun ist es jedoch an der Zeit, Euren Teil der Abmachung zu erfüllen. Was ich benötige, ist nicht viel. Ein seetaugliches Schiff meiner Flotte steht bereit, jedoch benötige ich in diesem Fall Angehörige der bretonischen Armee, denn die Reise ist nicht nur beschwerlich, es ist auch mit deutlichen Gefahren an Land zu rechnen, Gefahren militärischer Natur.
(...)
Nur auf diese Weise können wir endgültig klären, ob Liranus I. Kenntnisse von der Bedeutung des Buches hatte, welches vermutlich von meinen Vorfahren Emes und Stephanus verborgen worden ist. Wie die Academia bereits vermutet hat, könnte es sich um das magomathische Apokryph handeln, das bereits in den alten Tagen Erwähnung gefunden hat. Hier finden wir vielleicht Hinweise darauf, wie die Elementarknoten in Verbindung stehen mit der Finsterschlucht. Und nicht nur das: Es könnte die genaue Lage der Insel zeigen, nach der Ihr sucht.
(...)
Abschließend lasst mich sagen, dass dieser Brief genau wie unsere Gespräche natürlich absolut geheim bleiben werden, wie von Euch verlangt!


---

Brief von Janus Theren-Dunkelwald an Kanzlerin Aurelia von Torbrin

Kanzlerin Aurelia,

Eure Forderungen kann ich leider nicht erfüllen. Vielleicht glaubt Ihr nun, meine Rolle in diesem Krieg zu unterschätzen - ich sage Euch, begeht diesen Fehler nicht. Weder bin ich nur ein Unterhändler für die Große Mutter der Dunklen Alten, noch ihr willenloser Diener. Ich kann Euch versichern: Die Entscheidung, dass Peliad und Burg Hohenfels die Dunklen Alten gegen die Ecaltanim und das unheilige Bündnis, welches sie mit dem Bretonischen Reich geschlossen haben, vorgehen, war meine allein. In diesem Zusammenhang möchte ich Euch erneut danken, wie leicht Ihr es mir gemacht habt, als Ihr Eldorian Erwyndylls Duell gegen meinen lieben Bruder erlaubt habt. Ich hatte schon befürchtet, Hagen selbst töten zu müssen. Denn Ihr seht das richtig: Er hätte dem Bündnis, das ich geschlossen habe, gewiss niemals zugestimmt.
(...)
Ihr seht also, es stünde gewiss in meiner Macht, Euch Zugang zu den Aufzeichnungen der Lebankirche über Vampirismus und die Rolle der Dybbuk zu verschaffen. Doch warum sollte ich das? Auf meine Frage hin, wieso Ihr dieses Wissen jetzt benötigt, wo doch Dringenderes auf dem Spiel steht (nämlich das Überleben Eures Reiches, denn die Armee der Dunklen Alten gewinnt Tag um Tag mehr Gebiete Bretonias hinzu!), habt Ihr mir unmissverständlich verdeutlicht, dass mich dies nichts angehen würde. Nun, dann sage ich Euch hiermit: Dieses "Kompliment" gebe ich gern zurück. Und lasst mich Euch vergewissern: Es gibt weder Abschriften dazu in der Abtei, noch in der Kirche oder der Akademie. Aber das wisst Ihr sicher, dort werdet Ihr zuerst gefragt haben, nicht wahr?
(...)
Diese Frage jedoch macht mich neugierig, und darum will ich sie beantworten: Ob man die Sage von Cüd glaubt oder nicht, spielt keine Rolle. Sie ist als Gleichnis zu verstehen für den Fall des Menschen in Sünde. Dasselbe gilt für das Gleichnis über Lazarus und Remigius. Das alles ist Sinnbild für den Frevel der Menschen, die Arroganz und die Sünde, die ihnen allen gemein ist. Ob ich mich davon ausnehme? Gewiss tue ich das. Die Gerüchte, ich wäre der Meshiha Deghala sind natürlich allesamt wahr. Und aus diesem Grund wird dies der letzte Krieg sein, danach wird die Schöpfung umgekehrt, Aurelia.


---

Brief von Jargu von Caenor an Sicarion

(...)
Es ist mir gleich, ob Ihr Euch nun Sicarion nennt oder "Salamander", keinesfalls werde ich Peliad und die zentrale Burg Hohenfels an einen Tectarier übergeben, gleich welche Größe oder Stärke seine Armee auch haben mag. Ich rate Euch, mich in dieser Hinsicht nicht herauszufordern. Weder beeindruckt mich Euer Auftreten, noch wird mich Eure Truppenstärke in die Knie zwingen. Der König der Flüsse beugt sich keinem Usurpator aus einem Land, das ich hasse. Mehr noch als meine Gegner in diesem Konflikt. Liranus von Breton war ein großer Mann, und er hat das Volk der Bretonen in eine neue Ära geführt, als wir uns endlich von Tectaria und der dunklen Herrschaft der Kirche lossagten. Ganz gleich, ob der Thron nun leer ist oder nicht: Ein Breton wäre mir lieber als alles andere, aber wenn es keinen gibt, warum sollte ich nicht die Gelegenheit ergreifen und dem Land Frieden schenken? Dazu benötige ich Euch nicht, Sicarion.
(...)
Euer Gesuch lehne ich also ab. Setzt einen Fuß auf peliadschen Boden, und ich werde Euch auspressen wie eine kalte Frucht. Der Friedhof wird ohnehin schwer bewacht, und ich kann Euch versichern, dass dort keine Hinweise auf "vampirische Präsenzen" gefunden wurden. Abgesehen davon dass ich diesen Firlefanz sowieso nicht glaube und es für einen tectarischen Mythos halte. Solltet Ihr diesen Unsinn aber glauben, dann empfehle ich Euch, Lucius von Trar aufzusuchen. Erstens hat auch er eine schöne Burg in angenehmer Lage und zweitens ist mir bekannt, dass es vor einigen Jahren einen Streit über irgendeine Ruine dort gegeben haben soll, wo angeblich Eure Vampire gesichtet wurden.
(...)
Diesen Teil Eures Briefes nehme ich gewiss etwas ernster. Ja, auch ich habe von Erscheinungen vernommen, welche die Präsenz des Jägers aus der Kälte ausstrahlen - mein Hofmagus hat dies überprüft. Ich halte Euch gewiss nicht auf, wenn Ihr es mit dieser Macht aufnehmen wollt. In dieser Hinsicht wäre ein Bündnis annehmbar, aber nichts darüber hinaus würde ich akzeptieren.
(...)
Ich habe R. mein Wort gegeben, ihm bei den Göttern zugesichert und darauf einen Eid geschworen, mein Wissen über den Jäger aus der Kälte niemals mit anderen zu teilen.


---

Brief von Irinia von Glan an einen Unbekannten

(...)
So sehr ich es bedaure, aber dieser Bürgerkrieg ist eine gerechte Sache, denn der Thron ist vakant, es gibt keinen Nachfolger in der Blutlinie der Bretons. Ist dies nicht Beweis genug dafür, dass eine neue Zeit angebrochen ist? Das Blut der Bretons war von Beginn an verflucht, genau wie die ganze Reise, die Liranus auf sich genommen hatte. Im Krieg gegen die Dunklen Alten wurden wir alle gewahr, dass die Entdeckung der Insel des Himmelseisens eine Bestätung des Fluches war, der sich von den Bretons auf unser ganzes Volk übertragen hat. Dies ist wahrlich kein Grund für mich, zu verzagen. Wir können es nämlich nicht ändern. Aber wir können sicherstellen, dass das Reich endlich eine stabile und strenge Führung durch Disziplin und Ordnung erhält. Wir wollen endlich die die schwache Herrschaft Lerhons und die von Anfang an verdammte Regierungszeit von Darius II. vergessen. Das Volk braucht Ordnung, und dafür steht das Haus von Glan!
(...)
Was die Verbündeten in dieser Sache angeht, so halte ich Bathir von Dryr für geeignet, die Abtei einzunehmen und den Mönchen zu demonstrieren, dass auch sie eine Entscheidung treffen müssen. Die Zeit, neutral zu bleiben, ist vorüber. Und wenn Dryr alle Mönche abschlachten muss, um ein Exempel an die Geistlichen zu statuieren, so stehe ich dem nicht im Wege. Lieber bade ich in Blut als auf den Thron zu verzichten. Die Geschichte lehrt uns, dass Schwäche bestraft wird. So will ich denn lieber eine Mörderin genannt werden als ein Schwächling. Was die Bücher in der Abtei angeht, so soll Dryr sie verbrennen. Alles was dem Volk falsche Wahrheiten unterbreitet, muss verschwinden. Insbesondere die ketzerischen Schriften über die Magomathik, die im Nachlass Lerhons erwähnt werden, den ich durch bezahlte Bretonianer erhalten habe.
(...)
Haben Eure Nachforschungen zum Winterkönig etwas ergeben? Wäre Dholon ein geeigneter Verbündeter, um diesen Krieg schneller zu beenden? Und um nun Eure Fragen zu beantworten: Nein, ich hatte bisher nichts vernommen über einen "Jäger aus der Kälte". Meine Berater aber haben Aufzeichnungen aus Tectaria "erhalten", welche einen Langen Winter beschreiben, der dort einst regelrecht gewütet hatte. Der Jäger aus der Kälte soll ein Gigant aus alter Zeit sein, was immer dies bedeuten mag. Vielleicht sind dies alles nur Ammenmärchen, aber wenn dieser "Jäger" existiert, so wäre er gewiss ein interessanter Verbündeter. Mit seiner Hilfe könnten wir den verfluchten Tiefenwald aus der Historie tilgen, und die Wichte, Kelten und all das Waldvolk vertreiben. Dies ist unser Land, sie sollen verschwinden.
(...)
Zum Ende meines Briefes möchte ich mich bedanken für die Proben, die Ihr mir habt zukommen lassen. Gewiss werde ich vorsichtig sein damit, aber das vampirische Blut wird sehr hilfreich sein, die Experimente zur Lebensverlängerung auszuweiten. In dieser Hinsicht möchte ich Euch bitten, noch einige Testpersonen an den vereinbarten Treffpunkt zu bringen. Zwei Frauen und zwei Kinder sollten ausreichen. In den Dörfern und auf den Höfen gibt es ja genug jammernde Bürger, die sowieso verhungern würden.


---

Brief von Szarak Crenn an Lathias von Carmon

(...)
Euer Angebot ehrt mich, aber leider habe ich bereits andere Pläne, wie Ihr Euch vorstellen könnt. Ihr mögt zufrieden damit sein, dass Ihr alle Titel Eurer Familie verloren habt und trotzdem eine Rolle spielt, wenn auch eine andere als Roan. Ich jedoch gedenke nicht, mich mit der Finsternis zu beschäftigen. Man muss einfach erkennen, wenn man kein Mittel hat, einen Feind zu besiegen. Das ist hier der Fall. Von Experimenten in Eurem Labor 47 möchte ich auch abraten. Manches ist nicht für Menschen gemacht, und wir sollten nicht mit dem Schicksal spielen. Ich gedenke, dies wage ich frei zu äußern, meinen rechtmäßigen Platz auf dem Thron meiner Familie einzunehmen.
(...)
Eine Immunität der Tierfürsten gegen den Einfluss durch die Finsternis ist mir nicht bekannt, zumindest hat Dakhil darüber nie etwas gesagt. Wohl aber glaube ich, dass sie dem Einfluss des Hüters des Blutes widerstehen können. Die Weissagung von R., den Komet und den Himmelswagen des Phaeton betreffend, würde ich an Eurer Stelle ernstnehmen. Wenn das Reich meinen Namen kennt und die Königin mich als rechtmäßigen Herrscher akzeptiert, werde ich alles daran setzen, das Land zu beschützen. Die Legende der drei Brüder wurde durch das Verbotene Buch ins Leben gerufen, und ich werde den Zyklus beenden. Auch deshalb will ich Euch raten: Geht mir aus dem Weg und unterlasst alle Forschungen zur Finsternis. Wir benötigen die Finsternis, sie ist ein Teil von uns allen. Es gibt nur einen, der sie beenden kann, und das ist Lazarus. Was Phaeton betrifft: Sollte sich alles bewahrheiten, dann werden wir die Hilfe von Lazarus und Remigius benötigen!


---

Brief von Hrabanus an einen Unbekannten

(...)
Das Abyssarium stammt nicht von dieser Welt, nein. Ich vermute, sie kommen aus der Außenwelt. Allerdings müssen sie einen langen Winterschlaf unter Kheldron gehalten haben, wie anders kann man ihre Gegenwart erklären?
(...)
Ich will den Stab Amurs, weil er einen befähigt, die Finsternis zu kontrollieren. Und wer die Finsternis kontrolliert, der hat ein immenses Druckmittel. Alle werden tun was ich will. Endlich kann ich den Schatten meines Bruders Erec verlassen und ihm zeigen, was ich wert bin. Verstehe mich nicht falsch, ich liebe meinen Bruder über alles. Aber warum lieben ihn die Götter mehr als sie mich lieben? Es ist nicht seine Schuld, und darum werde ich ihn verschonen, wenn ich die Welt in Dunkelheit hülle. Ich möchte dir darum danken für deine Hilfe. Ohne dich hätte ich es niemals geschafft. Das Wissen, das du mir gegeben hast und das, was du mir gezeigt hast, ich werde es auf immer in meinem Herzen tragen. Als ich erkannte, dass ich all mein Leid diesem Buch zu verdanken habe, war meine erste Reaktion Gelächter, dann musste ich bitterlich weinen. Doch in einem Moment der Ruhe habe ich endlich verstanden, was zu tun ist. Wenn ich mit Hilfe der Finsternis das Verbotene Buch des R. vernichten kann, dann bin ich, dann sind wir alle frei.
(...)
Isabella, die Mutter der drei Brüder, ist mir im Traum erschienen. Sie hat gesagt, dass Zhaerius verantwortlich sein wird für die Malstromsieche, die mich seit meiner Jugend, seit Khaliq mit mir sprach, verfolgt hat. Mit Hilfe der Zendavesta wird es geschehen. Aber auch dies werde ich beenden, wenn das Buch erst zerstört ist. Und dann schenke ich der Welt eine Dunkelheit, die sie trösten kann. Dann werde ich auf einem Thron aus Licht sitzen, und alle werden zu mir schauen, als wäre ich ein Stern.

Benutzeravatar
Tharon
Beiträge:4108
Registriert:22 Dez 2006, 20:06
Wohnort:Iserlohn

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Tharon » 08 Jul 2017, 13:29

ZWISCHENSPIEL I


Fragmente - Teil Eins

Ein Palimpsest. Fragmentarisch erhalten aus unbekannter Quelle, zusammengetragen von Lethos Cyrian II., im fünften Jahr des Dunklen Winters. Geordnet und verwahrt in der Sternwarte der Ruinen von Terra Brumalis. Es ist festzuhalten, dass der unbekannte Verfasser entweder bei einigen Ereignissen dabei war oder seine Schriften durch Augenzeugenberichte und Hörensagen vervollständigt hat. Auch erscheint es uns möglich, dass es sich hier um fiktionale Fragmente handelt, die allerdings auf wahren Ereignissen beruhen - Ereignisse, die wir erlebt haben oder deren Folgen wir heute ertragen.


~~~


Ein verirrter Wanderer traut seinen Augen nicht

Irgendwo musste er doch zu finden sein, dachte sich der Wanderer, während er an einem kleinen Bachlauf die Feldflasche füllte und sich danach fragte, ob er wohl besser auf dem Pfad geblieben wäre, den der Druide ihm beschrieben hatte. "Er war eigentlich ziemlich spezifisch in seiner Warnung", murmelte der Bretone in seinen Bart. "Wieso höre ich dann nicht auf ihn?"
Die beschriebene Höhle hatte er schon eine Weile hinter sich gelassen, und es stimmte, was die Kelten berichtet hatten. Sie war leer, da war nichts mehr zu finden bis auf das Zeichen von Phaeton, dem Ersten Vampir, dem Hüter des Blutes. Wäre er auf dem ausgetretenen Weg geblieben, dann hätte er jetzt Burg Waldwacht erreicht, würde in Melthers Kastell ein kühles Bier oder eine warme Milch trinken. Stattdessen blieb er wohl unvernünftig und ging tiefer in den dichteren Wald hinein. Bald schon war das Rauschen des Baches nur noch eine leise Erinnerung. Der Bretone schüttelte sich, als die Bäume immer enger standen und so etwas wie eine Art Pfad undenkbar geworden war. "Na, wenn er sich hier versteckt... kein Wunder, dass niemand ihn findet", sagte er ganz vorsichtig, als wenn er die Eichen und Tannen nicht stören wollte. Trotz der Dunkelheit schien ihm das Versteck passend zu sein, falls der Gesuchte hier irgendwo wäre. Immerhin nannte man ihn den Alten Tannenmann, das musste doch was bedeuten.
Sinnierte er eben noch, so hielt er jetzt inne und fasste instinktiv an seinen Talisman, den ihm der Wicht gegeben hatte, der ihm auch den Weg zum Druiden erklärt hatte. Denn die Erde schien leise zu beben, als würde die Welt atmen, und als würde sich die Brust der Gigantin heben und senken, wie wenn jemand bald aus einem langen Schlaf erwachen könnte. "Oh oh...", gab der verirrte Bretone noch von sich, dann sah er, wie ein Steinkreis, der in einiger Entfernung auf einer Lichtung zu sehen war, einfach verschwand. Ein riesiges Monument aus Fels und Geröll erhob sich dort aus der Erde, riss viele Bäume einfach nieder, schien einen Moment über dem Boden zu schweben - und dann verschwand es einfach. Das Loch in der Erde schloss sich von allein, und auch das Beben war fort.
"Wäre ich doch in Edailech geblieben. Was hab ich mir nur dabei gedacht", murmelte der Bursche, der nicht älter als 16 war. "Wenn ich das hier überlebe, dann gehe ich ins Kloster, dann werde ich nur noch euch dienen, Liras und Leban."

---

Der Behüter des Reiches hat eine Erleuchtung

Er hatte Lariena gebeten, auch einmal nach Alysare zu sehen, denn ihm ging es schon viel besser, aber die junge Prinzessin benötigte alle Kraft, die man aufbringen konnte. Die Nachricht, die er von Brioless bekommen hatte, sie hatte ihn seine Wunden von der Schlacht schnell vergessen lassen. Und zum Glück waren sie ebenso zügig geheilt. Dank guter Heiler und Larienas Aufmerksamkeit fühlte Baelon sich heute sehr gut. Die Sorgen um Alysare ließen ihn zwar kaum los, aber eine merkwürdige Zuversicht verwandelte sich in Hoffnung. Bald war aus der Hoffnung die Gewissheit geboren worden, dass Alysare gesund werden würde. Wie genau, vermochte er nicht zu erkennen. Das Mädchen war schon immer stark gewesen, und ihr jetziger Zustand musste vielleicht nicht als Krankheit betrachtet werden. Vielmehr war es eine Veränderung zum Guten, denn auf diese Weise würde sie dem Hüter des Blutes ebenso dienen wie er selbst es von nun an tat.
"Emes", rief er schließlich. Der Bretonianer kam umgehend hinein. "Emes, ich benötige den Rat von Schwester Isanya, bitte bring sie her."
Kurz darauf betrat die Ordensschwester sein Gemach. "Herr? Wie kann ich Euch helfen?", fragte sie.
"Hat man schon etwas von Caläus gehört? Ist er immer noch auf Reisen?", wollte er wissen, denn er sorgte sich um das Wohlergehen des königlichen Zeremonienmeisters.
"Er ist sicher wohlauf, bitte sorgt Euch nicht. Wollen wir gemeinsam beten?"
Er nickte. Schwester Isanya kam näher und nahm seine Hände. Sie lächelte, schloss die Augen, und sie sprachen gemeinsam ein Gebet zu Liras und Leban. Dann öffnete Baelon die Augen, sah sie an und sagte:
"Ich... ich brauche noch mehr.. bitte."
"Du warst sehr folgsam, Baelon. Die Keltin ist nicht hier, so wie ich es wollte. Ich will dir deinen Wunsch erfüllen, und dann musst du etwas für mich tun."
"Alles, alles werde ich tun."
Isanya schnitt sich mit dem Nagel ihres Zeigefingers in den Arm und ließ das Blut in seinen geöffneten Mund tropfen. Bald schon fasste Baelon ihr Handgelenk und trank mehr und mehr.
"Ah, ah, genug", mahnte sie. "Jetzt geh und erfülle den Auftrag."
Und Baelon verließ seine Gemächer. Emes begleitete ihn in den Thronsaal. "Majestät, ich habe unangenehme Informationen über Skjöldbur erhalten."

---

Ein Magier fasst endlich Mut

"Was wollt ihr von mir, ihr garstigen Kreaturen", rief der Magier empört. Man hatte ihn und seinen werten Kollegen einfach entführt, was nicht nur eine Frechheit, sondern bestimmt auch sehr gefährlich war. Zum Glück hatte Taynos das Ecaloscop am Blauen Turm alles aufzeichnen lassen, sodass Mithraniel und Leandara es sehen würden. Und bestimmt waren sie schon dabei, sich um seine Befreiuung zu kümmern. Immerhin war er ja ein wichtiger Diener des Blauen Turms, oder etwa nicht? Diese grässlichen Vampire fanden ihn zumindest wichtig genug. Hoffentlich würden seine Freunde das auch so sehen. Sie waren doch seine Freunde, oder? Nun, zumindest würden sie bestimmt Maestlin suchen wollen, und der war ja bei ihm, wo auch immer genau sie gerade waren. Maestlin war wichtig, dann würden sie ihn bestimmt nicht einfach hier verweilen lassen, wenn sie ihn befreiten.
Da keiner ihm antworten wollte, sah er sich um. Abgesehen von den Vampiren, die unerfreulicherweise auch noch Tirinaither waren, sah er auch ein paar schattenhafte Gestalten. Das waren doch veränderte Ledharthien! Hatte Lazarus etwa gelogen, und war er es, der ihn hatte verschleppen lassen? Wie frech das doch wäre. Taynos wünschte sich, für solche Dinge gäbe es eine Art Beschwerdestelle. Oh, was hätte er schon oft entsprechende Dokumente ausgefüllt, um es all diesen Schurken in dieser Welt so richtig heimzuzahlen! Was hatten sie nicht alles gemeinsam erlebt und wie oft waren es seine Hinweise gewesen, die zum Erfolg geführt hatten. So wie es vorher Thelosch gewesen war. Ach du meine Güte, und was wenn sie ihn jetzt doch einfach töten würden, so wie damals Thelosch gestorben war? Vielleicht wollten sie ja doch nur Maestlin, und er war ein Versehen gewesen? Die ganzen Gestalten jedenfalls würdigten ihn keines Blickes. Das war erleichternd, aber irgendwie auch nicht. Wenn er wichtig wäre, warum sprach dann keiner mit ihm? Oh, bestimmt warteten sie auf Lazarus. Vor dem hatte Taynos auch Angst. Natürlich hatte er das, denn er fürchtete irgendwie alles und jeden. Deshalb war er ja so gern am Blauen Turm, wo es doch eigentlich immer sicher gewesen war. Und mit dem Ecaloscop konnte er all die fremden Orte und Wesen sehen, die er nie bereisen und denen er nie wirklich begegnen würde, weil er zu feige war. Bestimmt hatte ihm deshalb noch nie jemand angeboten, mitzukommen auf ein solches Abenteuer. Nun, er hätte ja sowieso abgelehnt. Viel zu gefährlich. Und das wussten sie natürlich, und darum war er nicht wichtig genug und würde hier versauern. Oh, wie er hoffte, dass sie wenigstens Maestlin suchen würden!
"Wo sind wir", fragte dieser leise.
Taynos sah sich noch einmal um. "Ich glaube, das hier ist eine der Quellen", sagte er dann leise. Und auf einmal bemerkte er eine kleine ihm ganz fremde Gestalt, die das Treiben zu beobachten schien. Natürlich hat er Angst vor der Kreatur, aber sie sah nicht so gemein und unfreundlich aus wie die anderen hier. So beschloss er, das Wesen im Auge zu behalten. Immer mal wieder zwinkerte er und sah in seine Richtung, um sich zu vergewissern, dass ein zeuge für die anstehenden Ungeheuerlichkeiten präsent wäre. Dann würde wenigstens jemand berichten können, wie er und Maestlin ihr Ende gefunden hatten.
"Bringt Maestlin zu dem anderen Gefangenen, den Tirinaither direkt daneben, damit wir eine Verbindung herstellen können", sagte eine krächzende kalte Stimme, die Taynos erkannte. Ihm wurde ganz übel, denn das war Khelains Stimme. Auch das noch. Diese Person war äußerst unangenehm und außerdem noch sehr hässlich anzuschauen. Nicht so schön wie Mithraniel zum Beispiel oder wie Dunja. Er dachte an die beiden Damen und lächelte. Wie dumm musste das aussehen: Umringt von Missetätern und gemeinen Kerlen, und er grinste wie ein verliebter Student.
"He", stieß er dann empört aus, als ein Vampir ihn packte und in einen der Spiegel schob. "Was sollen wir für Euch machen?", wagte Taynos dann zu fragen.
Khelain lachte. "Sehr tapfer, kleiner Zauberer. Ich will es dir sagen: Wir suchen eine Manifestation der Hauptquelle Blyrtindurs. Und du wirst uns helfen, sie zu finden. Du und Maestlin. Er wird mit Freuden helfen, denn bald wird er seine Geliebte wiedersehen. Aber nur wenn er uns hilft."
"Sie lügt, Maestlin", sprach Taynos zu ihm. Aber Maestlin antwortete nicht mehr, denn als er neben dem Konstrukt stand, schien ein Strahl ihn zu lähmen wie den dritten Gefangenen neben ihnen. Der kam ihm auch irgendwie bekannt vor. Als ihm der Name einfiel, da musste Taynos plötzlich lachen.
"Was ist so komisch?", krächzte die untote Hexe.
Taynos hielt sich die Hände vor die Lippen, dann schob er sie zurück an seinen Rumpf und zupfte nervös an der Robe, denn er hatte wieder Angst bekommen. "Oh, nichts, das kitzelt nur etwas."
"Das ist die Energie, die wir der Quelle entziehen. Siehst du, es ist doch alles recht angenehm. Und nun beginnen wir. Konzentriere dich auf die Sonnen Tirinaiths, mein Freund."
Nichts drgleichen würde er machen. Er gab vor, ihren Worten Folge zu leisten, fasste sich ein Herz und dachte an Mithraniel und Dunja. Für die beiden schönsten Frauen dieser Welt würde er endlich einmal Mut beweisen. Wenn sie ihn dann tot hier auffinden würden, dann würden sie wenigstens sehen, dass er nicht als Angsthase gestorben war. Er konzentrierte sich schließlich auf den dritten Gefangenen, um dessen Ströme zu nutzen. So würden sie die Sache nämlich umdrehen können! Das kleine Wesen beobachtete sie immer noch und schien nun zu nicken.
"Jetzt fang nicht wieder an, Angst zu haben", flüsterte Taynos leise zu sich selbst, als sein Herz unangenehm schnell pochte. Bestimmt würde es gleich stehenbleiben. Das hatte er ja immer befürchtet: Einfach tot umzufallen, weil er zu viel Angst hatte.

---

Ein Betrunkener wird schlagartig nüchtern

Die ganze Idee war immer noch töricht. So weit in den Norden sollte man nicht fahren, dachte Blakkur, Hetman der Jütungen in der Ostfold. Sie hatten doch hier wahrlich genug Probleme. Gerade erst war die Vestfold befreit worden von den Wesen des Faulwassers, da wollte Hrafna schon wieder in das nächste Abenteuer ziehen. "Die Reise ist notwendig. Wir können den Winterkönig und den Jäger aus der Kälte im Herzen ihres Reiches aufhalten. Außerdem müssen wir Gwayan und die Alte Krähe befreien", hatte der Hetman aus Skjöldbur ihm gesagt. Blakkur schmunzelte, während er ans Ufer ging und in das salzige Wasser pisste. Zu viel Met. Er lachte, als er sich daran erinnerte, wie er Hrafna einen Preis für das gepanzerte Schiff, das sie für die Reise in das Jorganschelf benötigten, genannt hatte. Und er hatte bereitwillig bezahlt, ohne sich zu beschweren. Dazu würden fünf Mann aus der Ostfold die Reisenden begleiten. Die Sache war närrisch, aber niemand sollte Blakkur später vorwerfen, die Hände in den Schoß gelegt zu haben - sollte das Abenteuer erfolgreich enden. Und wenn nicht, dann wäre er derjenige, der es von Anfang an gesagt hatte.
Er packte gerade seinen Schwanz wieder ein und fragte sich, ob er ihn vielleicht am Abend in die junge Svenja schieben sollte, da schlug das Wasser kleine Wellen. Es war ganz windstill. Blakkur musterte die Stelle, dann glaubte er, unter der Oberfläche, hinter seinem eigenen Spiegelbild und dem Abbild des Mondes ein Gesicht zu sehen. "Na gut, es war wirklich zu viel Met heute", brummte er.
Schon packten ihn blasse kalte Hände, zogen ihn mühelos in das kalte Wasser des Fjords. Er wurde schlagartig nüchtern und glaubte, zu ertrinken.
Später am Abend dann schob er seinen Schwanz in die junge Svenja, leckte ihren Hals und biss in ihre Schlagader. Das war besser als Met.

---

Eine Reisende wird aufgehalten durch eine wahrlich unangenehme Überraschung

In der Dunkelheit der Nacht hörte sie nur das Plätschern von Wasser und wie es die Tropfsteine weiter wachsen ließ. Sie liebte diesen Ort, der schon so vieles gesehen hatte. Ihre Begleiter versammelten sich und schienen sich zu verneigen. Auch die Frau senkte höflich ihr Haupt, hob langsam eine Hand und führte sie an den Kopf der Königin, die die anderen führte. "Ich habe euch so nah wie es geht an eure alte Heimat gebracht. Ich hoffe, ihr werdet dort in Frieden leben", sagte sie. Und die Königin antwortete in ihren Gedanken. Die Frau spürte Dankbarkeit und so etwas wie Erfüllung. Das Abyssarium war heimgekehrt. Sie waren am Rand der Außenwelt, weiter konnte die Nacht sie nicht bringen. Die Insektenwesen folgten der Königin, als sie ihren Hinterleib in die Höhe streckte, der dann glühte wie eine Laterne und ein Tor in eine versteckte und gänzlich verdunkelte Dimension jenseits dieser Welt öffnete. Sie folgen ihr alle, dann war die Frau allein.
Auf dem langen Rückweg vermisste sie sogar die Gesellschaft der Ameisen und Käfer. Sie waren zwar keine guten Gesprächspartner gewesen, aber allein ihre Gegenwart ließ sie ihr Heimweh und die Sehnsucht nach Maestlin vergessen, der sicher schon am Blauen Turm auf sie wartete. Die Einsamkeit in der Nacht gab ihr die Gelegenheit, ihre Studien zu vertiefen. Sie las in alten Archiven und Bibliotheken, ohne dass jemand sie bemerkt hätte. Über die Sprachen in der Welt, die Länder Kheldrons, die Meere und Flüsse. Sie wusste, was sich in Bretonia zugetragen hatte. Die Wesen des Faulwassers, die Rückkehr von Lazarus und Remigius. Alles danach konnte sie nicht sehen, denn das Ecaloscop musste das Gewölbe durch das Grenzmathricodon steuern, was viel Energie erforderlich machte.
Ihre Studien wurden unterbrochen, denn plötzlich ging ein Beben durch die Nacht. Das Ecaloscop blitzte einmal auf, dann schaltete es sich aus. Es hatte einen schweren Stoß abbekommen. Jetzt war es wirklich dunkel geworden. Kein Licht, kein Geräusch außer dem Wasser.
Schritte in der Schwärze.
Feuer. Augen aus Feuer.
"Wer seid Ihr?"
"Dein Retter, Kind", sagte die knabengleiche Gestalt, die nicht allein gekommen war. Ein Nephyr fasste ihren Arm und fletschte die Zähne. "Noch nicht", sagte der Unbekannte, "wir benötigen sie noch. Wir wollen sie mit ihrem Geliebten vereinen."

---


Ein älterer Herr erhält Besuch

Schon beim Morgengebet hatte er die alten Knochen gespürt, die sich aneinander rieben wie Zahnräder, um den alten Körper irgendwie in Bewegung zu halten. Wahrscheinlich würden sie bald einfach zerfallen, so wie Korn in einer Mühle. Dann wäre er einfach fort und bei den Göttern. Doch so würde es natürlich nicht kommen, das wusste er. Aber in seinem Alter durfte er sich ab und zu närrische Gedanken erlauben, man würde ihm das vergeben. Nicht dass er über allem stehen würde. Menschen waren voller Fehler, und er war nur ein Mensch, ein einfacher Diener von Liras und Leban, der in Bescheidenheit anderen ein Beispiel sein musste. Ein wenig wie der Lethos, jedoch auf andere Weise; einfacher und vielleicht besser zu verstehen für die Bewohner dieses Landes, das von Anfang an schwierige Aufgaben für sie alle bereitgestellt hatte. Mit dem Krieg gegen die Orks hatte es angefangen, und mehr als einmal zogen die riesigen Krieger gegen die Menschen, die sie für verflucht hielten, denn so hatten es die Schamanen ihnen gesagt. Man hatte ihn schon oft gefragt, ob er daran glaubte. "Nun, ob wir verflucht sind oder nicht, wer kann das schon sagen? Ihre Schamanen sind so wirklich wie du und ich. Wenn ich dir nun sagte, wir sind es nicht, würdest du mir glauben?", hatte er den Novizen aus Edailech nach dem Morgengebet gefragt. "Ja, denn Ihr seid weise, Herr", hatte die Antwort des Jungen gelautet. "Siehst du, mein Sohn, und dasselbe hat sicher schon ein junger Ork zu einem Schamanen gesagt."
Damit war diese Diskussion schon beendet. Er wusste, was zu sagen war, und er stand auch immer hinter seinen Worten. Und wenn er eine Antwort nicht wusste, dann sagte er dies ebenso wie er die Weisheiten der alten Schriften zitieren konnte, wenn es notwendig wäre. Denn er war nicht nur Vorbild, sondern für manchen auch so etwas wie eine Art Gesetz. Was er sagte, wurde befolgt. Es gefiel ihm nicht, den Weg manches Suchenden auf diese Art zu lenken, bevor dieser ihn selbst beschritten hatte, aber manchmal gab es nur diese Möglichkeit, einen Rat zu erteilen. Denn Rat wollten sie alle. So war es auch früher gewesen, in Tectaria. So wie er in Bretonia zwei Lieblingsschüler hatte, war es auch dort gewesen. Hier Erec und Hrabanus, dort Remigius und Lazarus. Und alle vier hatten ihm große Freude und gleich viel Enttäuschung gegeben. Denn der Abt wusste, dass sie Teil des Zyklus waren, wie das Verbotene Buch es verheißen hatte nach dem Fall des Menschen aus Cüd. Er hatte sich nie vor dieser bitteren Wahrheit, dass vielleicht auch seine Erziehung aus den Brüdern Feinde gemacht hatte, versteckt. Vielleicht war es der Preis für das Trinken aus der Quelle, das ihm dieses lange Leben geschenkt hatte; zu sehen, wie seine größten Hoffnungen sich im ewigen Zwist befanden, weil sie gar nicht anders konnten. So war die Nachricht, dass Remigius und Lazarus Frieden gefunden hatten unter der Insel der Finsternis, wo Hrabanus sein Ende gefunden hatte, ein Trost auf seine alten Tage gewesen. Aber gleichsam hörte er die Nachrichten über den dritten Bruder. Als er einen Mönch in die Akademie begleitet hatte, damit Prinzessin Alysare auch geistlichen Beistand finden würde, hatte er den Namen vernommen: Phaeton.
Man würde ihm nie vergeben, dass er ihn so lange verleugnet hatte, dass dies eines seiner letzten Geheimnisse war. Geheimnisse, die er nie in ein Grab tragen könnte. Er müsste ewig mit ihnen leben.
"Vater Aldwyn, es ist zu lange her", sprach die knabenhafte Stimme des Mannes, der ihn die ganze Zeit mit seinen güldenen Feueraugen angesehen hatte, während er sich in seinen Gedanken verloren hatte.
"Phaeton. Ich habe dich erwartet. Wenn du mir ein Ende bereiten willst, habe ich nur eine Bitte. Verschone die Unschuldigen."
"Niemand ist unschuldig. Wisst Ihr nicht mehr, wir werden schon in Sünde geboren, seit Cüd. Und ich bin nicht hier, um Euch zu töten."
Der Abt musterte ihn einen Augenblick, das feurige Antlitz, die zarte Gestalt, in der so viel Bitterkeit und Bosheit lagen. "Was möchtest du? Was kann ich tun, dass du Frieden findest?"
"Es gibt nichts, was Ihr tun könntet, Vater Aldwyn. Wir haben alle unsere Rollen zu spielen, das habe ich aus Kenans Schriften gelernt. Aber Ihr könnt mir vielleicht eine Frage beantworten. Vielleicht werde ich dann davon absehen, in Euren heiligen Hallen zu toben und Mönch um Mönch, Schwester um Schwester zu zerfetzen und ihr Blut zu trinken wie Wein", sagte er mit dieser lieblichen Stimme, die Aldwyn noch aus den glücklichen Tagen in Tectaria kannte.
"Bitte verschone die heiligen Männer und Frauen, Phaeton. Sie dienen den Göttern, denen du dein Leben schuldest."
"Mein Leben? Und was ist mit meiner armen Mutter, die ihre drei Söhne verloren hat? Was ist mit mir, der ich im Staub aufgewacht bin, nackt und allein, so dass ich mich ernähren musste von Ratten und Schlangen?", fragte er, und die Augen stießen Flammen in die Luft. "Ich bin der Drache, das Unheil, und alle fürchten mich nun. Fordert mich nicht heraus, Vater."
Der Abt senkte einen Moment sein Haupt. "Dann stell deine Frage, denn du bist verloren, und ich kann dir anders nicht helfen."
"Ich muss wissen, wer das Verbotene Buch erschaffen hat, nur so kann ich seine Kraft vollkommen nutzen. Kenans Zeit ist fast abgelaufen."
"Ich soll dir das Geheimnis des Verbotenen Buches verraten? Damit du noch schneller die Welt in Dunkelheit hüllen kannst?"
"Die Welt wird gereinigt werden, sie wird neu entstehen, ohne Falschheit, ohne Leid und Schmerz. Dann werden wir alle eins sein", sagte Phaeton.
Und Abt Aldwyn hielt seine Hände vor das Gesicht, suchte nach Rat in seinen alten Gedanken. Dann sah er seinen Ziehsohn wieder an, erkannte die Ähnlichkeit, die er mit seinen Brüdern hatte. Und mit seiner Mutter Isabella. "Deine Mutter würde mehr leiden, wenn sie dich jetzt sehen könnte. Mehr noch als an dem Tag, an dem sie euch drei verloren hat. Siehst du es nicht?"
"Sprecht nicht von ihr, Abt! Sagt mir das Geheimnis, ihr müsst es wissen."
Aldwyn sah ihn fest entschlossen an. Seine Augen weit geöffnet, die Stimme klar. "Ich kenne das Geheimnis nicht. Wenn ich nur einen Menschen retten könnte, du würdest es von mir erfahren. Also musst du wohl mich und alle hier töten und unser Blut trinken!"
Phaeton schien zu zögern, sah ihn durchdringend an, als würde er ihn lesen können. "Ich... ich glaube Euch, Vater. Ihr wisst es nicht."
So schnell wie er erschienen war, verschwand der Hüter des Blutes wieder. Und Aldwyn atmete aus. Wenn er eines gelernt hatte, in all den Jahren, dann war es, dass die Wahrheit viele Gesichter hatte. Und dass Lügen, wenn sie die Welt retten würden oder ihr noch mehr Zeit schenken könnten, notwendig waren. Der bescheidene Diener der Götter dankte seinen Herren und ging zum Mittagsgebet, als wäre all dies nicht geschehen. Es war ein weiteres Geheimnis, das er mit sich tragen würde. Die Last auf den Schultern ließ seine Knochen wieder schmerzen.

Benutzeravatar
Tharon
Beiträge:4108
Registriert:22 Dez 2006, 20:06
Wohnort:Iserlohn

Re: Die letzte Sphäre

Beitrag von Tharon » 10 Jul 2017, 16:12

ZWISCHENSPIEL II


Drei Herrscher

Ein Palimpsest. Nur fragmentarisch erhalten aus verschiedenen Quellen erster oder zweiter Wahl. Gesammelt und geordnet von Erzmaga Aethel, Erste Wächterin im Orden des Himmelswagens, verwahrt in den Archiven Neu-Jütheims in der Bretonischen Provinz Ostfold. Zeitindex unbekannt.


~~~


Der fromme König

"Es erscheint mir nur passend, die alte Glocke einzuschmelzen in Burg Waldwacht. Ich verdanke dem Tiefenwald und seinen Bewohnern viel, noch mehr hat das Reich ihnen zu danken. Aus dem geschmolzenen Eisen soll eine Hälfte an die Kelten gehen, dass sie sich Waffen und Werkzeuge schmieden können. Die andere Hälfte soll in Waldwacht bleiben", verkündete König Helemos der Fromme nach den Feierlichkeiten zur Einweihung des neuen Glockenturmes der Kirche Bretonias. "Für die Götter, für Liras und Leban", fügte er wie immer hinzu. Auch ihnen hatte er alles zu verdanken. Wenn jemand die Weisheit der Majestät anpries, dann verwies Helemos stets auf die Götter, die ihn erst zu dem Mann gemacht hatten, der er heute war. Und wenn der Hofstaat ihn feierte für den Friedensvertrag mit den Orks, dann erinnerte er zuerst an die großen Verluste bei der Schlacht am Fontis Silvan, bevor er gleichsam die Elaya wie auch die Kelten in seine Gebete einschloss. Ohne sie wäre all dies niemals geschehen.
Der Lethos neigte sein Haupt, nachdem Helemos gesprochen hatte. Gernot von Caenor salutierte seinem König. "Wie Ihr wünscht, Majestät. Es wird so geschehen."
Helemos nickte dankend, dann bat er den Lethos, Caenor und die anderen, ihn allein zu lassen. Er war müde und erschöpft. Die Verhandlungen mit den Nordmärkern waren erfolgreich gewesen, aber anstrengend. Sie waren nicht weniger stur als ihre Mütter und Väter, die Nordmannen. Und doch schloss er all jene in seine Gebete mit ein, denn die Berichte aus Midgard waren furchtbar gewesen. Zwar hatten die Völsungar das Heer der Jütungen vorerst aufgehalten, aber es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Nordmärker Bretonias Vater, Mutter, Schwester oder Bruder verlieren würde in diesem furchtbaren Krieg, der die Nordleute schon seit vier Jahren plagte. Seine Berater erwähnten zwar täglich, dass Ereignisse in Midgard unbedeutend für Bretonia wären, aber Helemos betrachtete jeden, der auf dieser Welt lebte, arbeitete, kämpfte und liebte, gleich zu welchen Göttern er auch sprechen mochte, als einen Bruder oder eine Schwester. Seine Vorstellung von vereinten Kontinenten, die in Frieden miteinander lebten und Handel treiben würden, wurde belächelt, das wusste her. Aber er glaubte daran. Schon allein, weil der Wissensbewahrer unter Waldwacht ihm gesagt hatte, dass eines Tages eine Zeit kommen würde, in der alle Völker gemeinsam handeln müssten oder alle sterben würden. Eine Zeit großer Dunkelheit und vieler Plagen. Eine Zeit, in der eine Seuche kommen würde, verursacht von einem Volk namens Zendavesta. Aber gleichsam wäre diese Seuche ein Mittel gegen ein viel größeres Übel, das Übel des Blutes.
Ja, Helemos hatte viel vernommen, und er war bereit, alles zu tun, damit die Herrscher nach ihm in Weisheit Frieden und Glück für alle Wesen Kheldrons erreichen würden.
"Tylgan", rief er schließlich.
Die Leibwache trat ein. "Mein König?"
"Bitte kontaktiert Schwester Isanya von der Abtei. Ich habe Fragen."

---

Die Königin der Quelle

"Ich danke Euch für diesen Bericht, Sir Theornon", sagte Theresia und ließ einen Diener etwas Wein bringen. "Maga Aethel hat mich ebenso in Kenntnis gesetzt. Ihr habt recht, Theornon, ihre Berichte sind sehr gut und umfassend. Und ebenso beunruhigend. Was schlagt Ihr vor, wie sollen wir gegen diese unsichtbar scheinende Bedrohung vorgehen? Sie haben bereits Prinzessin Alysare angegriffen, unbemerkt, schnell und vielleicht tödlich. Auf jeden Fall ist sie jetzt... einer von ihnen", sprach sie. Sie erschrak, wie sachlich sie bleiben konnte angesichts dieser Geschehnisse.
"Ja, Majestät. Die Ereignisse SIND beunruhigend, und die Bedrohung ist zur Zeit wenig greifbar, auch wenn sich das bald ändern könnte. Von meiner anstehenden geheimen Reise wurde Euch berichtet, nehme ich an?"
"Ja, ich bin informiert. Und Ihr müsst sehr vorsichtig sein, Theornon."
"Wir werden keine unnötigen Risiken eingehen. Aber scheinbar könnten die verlorenen Seiten dieses Buches helfen, all dies zu verstehen und vielleicht ein Mittel gegen Phaeton und seine Brut zu finden. Es muss also sein. Was die Sicherheit des Reiches angeht: Ich schlage Euch vor, einige meiner Leute verdeckt in der Stadt operieren zu lassen. Ebenso im Palastviertel. Denn diese Blutsauger könnten sich überall verstecken. In einfachen Häusern und Kellern, direkt unter unseren Augen, die leider noch blind sind. Denn die Informationen sind allesamt entweder unvollständig, vage oder eventuell in den Bereich der Legenden und Märchen zu verorten", antwortete der schwarz gekleidete Ritter und sah sie ernst, aber aufrichtig an. "Majestät, ich denke, so können wir etwas erreichen", fügte er noch hinzu.
"Ich bin einverstanden. Gibt es Neuigkeiten vom Blauen Turm und den anderen Orten, die angegriffen wurden?", fragte sie schließlich.
"Die gibt es. Nach meinen Informationen sind aus dem Lager der Hun in derselben Nacht mehrere Händler dieses Volkes verschwunden. Es dürfte klar sein, dass ein Zusammenhang besteht. Am Blauen Turm sucht man derweil nach den zwei Vermissten, einem Magier namens Taynos und Maestlin. Wir können davon ausgehen, dass der Feind sie lebend wollte. Sobald es etwas Neues gibt, werde ich es erfahren. Was den Angriff im Wilderland angeht: Eine der freien Frauen, Oshinya, wurde verwundet. Soweit ich weiß, wurde niemand entführt und nichts gestohlen."
"Wer hat Euch die Informationen dazu gegeben?"
"Ein Völsungar namens Skjalgur. Er hat meiner Ehefrau Hlifa eine Nachricht zukommen lassen."
Theresia lächelte kurz. "Ich bin ihm begegnet."
"Ist mir bekannt, Majestät. Aber wenn ich eine Frage stellen dürfte?"
"Natürlich", sagte Theresia.
"Ihr habt mich bisher nicht gefragt, was ich davon halte, dass eine nordische Flotte auf dem Weg nach Bretonia ist. Ihre Intentionen sind unbekannt."
"Eure Meinung ist mir wichtig, Theornon. Aber ich musste schnell reagieren. Alle Vasallen sind zu den Waffen gerufen worden", erklärte sie.
"Gut. Ich denke, mit dem anderen Gerücht können wir aufräumen. Hetman Hrafna und seine Leute sind gewiss keine Verbündeten des sogenannten Jägers aus der Kälte und werden es nie sein. Maga Aethel war vor kurzem dort und hätte mir wohl von Seltsamkeiten berichtet, hätten sie sich zugetragen. Zumindest würde ich ihr das raten. Außerdem habe ich keinen Agenten in Skjöldbur abgestellt. Sir Allyen hat ja dankend abgelehnt, mir dann und wann einen Bericht zukommen zu lassen", sagte er knurrend.
Theresia lächelte. "Ich kenne Hrafna, und er würde mich niemals verraten. Aber sagt, Ihr habt Agenten in Midgard, oder?"
"Natürlich. In der Ostfold. Allerdings habe ich den Kontakt zu ihm verloren, was zeitlich konform geht mit dem Auslaufen dieser Flotte. Etwas ist also nicht in Ordnung. Ich werde versuchen, weitere Informationen zu erhalten auf anderen Wegen."
"Ich bitte darum."
Nachdem Theornon den Thronsaal verlassen hatte, erkundigte sich Theresia nochmals nach Alysare, deren Zustand unverändert war. Ein Druide war in der Kanzlei gewesen, um Lariena einige Mittel und Pflanzen aus dem Wald zu bringen. Aber bisher gab es keine Erfolge zu vermelden. Theresia wünschte sich so sehr, mehr tun zu können, als Baelon Mut zu machen, ihm zu versichern, dass man nichts unversucht lassen würde. Und doch waren da all diese Dinge, die sie verschweigen musste. Zum Beispiel was sie über den Erzähler wusste und über das Buch. Alles, was sie im Archiv erfahren hatte, musste sie in ihrem Herzen verwahren. Es ging ihr nicht anders als Vater Aldwyn, dem sie sich als einzigen anvertraut hatte und der wie sie von Albertus wusste. Aber Theresia konnte nicht frei sprechen. Sie würde keine Briefe schreiben und keinem davon berichten können. Weder Lariena, noch Theornon und schon gar nicht Hrafna und den anderen in Skjöldbur, denn der Kyn hatte sie gewarnt: "Du bist die Königin der Quelle, Theresia. Phaeton sieht dich, beobachtet dich. Ein falsches Wort, und er wird dich hören und alles wissen, was du weißt."
Da sehnte sich die Königin in die alten Tage zurück, als sie noch ein Kind war, und als die Hüter Blyrtindurs nicht nur die Insel, sondern in gewisser Hinsicht auch sie behütet hatten.

---

Die Regentin

Sie verzog das Gesicht, als sie die Hallen betrat. Der Gestank des Waldes drang selbst in dieses Gewölbe hinein, obwohl sie bestimmt tief unter der Erde waren. Irinia hatte Baelon im Ungewissen gelassen, was diese Reise betraf. Als Regentin konnte sie ihrem Kanzler alles befehlen, was sie wollte. Sollte er sich um das Reich kümmern, ihre Aufgaben waren ungleich wichtiger geworden. Von dem Archiv der Könige, das Helemos vor über 20 Jahren hatte ausbauen lassen, wussten anscheinend nur die bretonischen Herrscher, der Abt und der Lehnsherr Waldwachts. Und Irinia, nachdem sie von der Ordensdienerin davon erfahren hatte. Schwester Isanya war die einzige gewesen, die von Anfang an die Androhung der Folter offenbar ernstgenommen hatte. Und so hatte sie geredet, viel berichtet und erklärt, was die anderen nicht preisgegeben hatten. Isanya hatte ihr das Amulett gegeben, das in die Hallen führte, ihr die Falle erklärt und ebenso von dem Wissensbewahrer erzählt, der hier wartete. "Er ist ein Kyn, aus der Zeit des Krieges gegen die Dunklen Alten. Er weiß viel, und er wird Euch alles sagen, was Ihr wissen müsst", hatte sie gesagt. "Das hoffe ich für Euch, Schwester Isanya", hatte die knappe Antwort Irinias gelautet. Jetzt, da sie den großen Block aus Eis sah, der ihr beschrieben worden war, erinnerte sie sich an die seltsame Reaktion der Schwester. Sie fürchtete sich nicht. In den rötlichen Augen der Götterdienerin waren viele Eindrücke zu sehen gewesen, aber Angst gehörte nicht dazu.
Nachdem der Kyn erwacht war, neigte Irinia kurz ihr Haupt. "Verehrter Wissensbewahrer, ich bin auf der Suche nach Antworten auf meine Fragen."
"Du bist keine Königin", sprach das Wesen.
"Nein, ich bin die Regentin dieses Reiches. Und zum Schutze meines Hauses und des Volkes Bretonias muss ich dich befragen."
Der Bewahrer sah sie aus dem einzelnen Auge in der Mitte seiner Stirn an. Es war, als würde er sie durchdringen. "Ja, es sind unruhige Zeiten für das Volk Bretonias. Viele Helden sind nun fort, auf der Insel Blyrtindur. Und der Große Krieg hat euch alle geschwächt. Ich sehe, es herrscht ein neuer Krieg in diesem Land. Darum bist du hier?"
"Es ist ein Bürgerkrieg. Doch unsere Feinde werden bald besiegt sein. Ich bin hier, weil ich ihn sehen will, den Jäger aus der Kälte."
"Eine große Gefahr geht davon aus. Denn er wird auch dich sehen, wenn du zu ihm schaust. Was treibt dich dazu, den alten Wächter von Eis und Frost zu stören, Weib?"
Irinia blickte den Kyn herausfordernd an. "Es gibt bestimmte Anzeichen, dass er schon lange auf dieses Land schaut. Ich will ihm einen Handel anbieten, damit wir verschont werden", log sie, denn in Wahrheit erhoffte sie sich ein Bündnis mit ihm, um den anderen, der sie plagte, loszuwerden. "Ich kann dir befehlen, ihn mir zu zeigen."
"Ich nehme von keinem Befehle entgegen, Regentin", rief der Bewahrer mit fester lauter Stimme, dass Irinia zurückwich.
Und sie spürte, dass ihre Lüge von ihm gesehen wurde. Es war dieses Auge, das in ihre Gedanken sah. "Ich habe Kinder emordet und Frauen gefoltert. Aber ich wollte es nicht. Stets höre ich eine Stimme, die mir diese Befehle gibt, und ich kann mich nicht mehr wehren. Wollte ich Macht? Ja. Habe ich dafür bewusst Unrecht getan? Und ob. Doch was er verlangt, es ist zu viel. Er hat mir ein langes Leben versprochen, aber gleichsam will er, dass ich all diese Dinge für ihn tue. Ich brauche einen Verbündeten", sprach sie, und ihre Stimme zitterte. Es war die Wahrheit.
Der Kyn sah sie lange an, bevor er antwortete. "Du bist das Opfer eines Fluches geworden, mein Kind. Der schlimmste Fluch von allen Flüchen. Es ist Phaeton, der dich plagt, und er beherrscht den Erzähler, der aus dem Verbotenen Buch dein dunkles Schicksal liest", sagte er. Dann berichtete er vom Verbotenen Buch, von den vielen Erzählern auf der Welt, die daraus schon gelesen hatten und darin schrieben, den Einflüssen, die das Buch hatte, und wie es in vielen Händen sein finsteres Treiben vollführte, denn das Buch konnte sein wahres Selbst stets verbergen. "Das Verbotene Buch vergiftet das Mysterium, vergiftet uns alle. Ich war der erste Erzähler, aber das Buch ist zeitlos, und es kann überall und nirgendwo sein, Regentin. Phaeton ist der Hüter des Blutes", erklärte er weiter. Und er sprach von Cüd, dem Fall des Menschen und wie auf Blyrtindur ein neuer Zyklus ausgefochten worden war. Etwas, das Phaeton half, seine eigenen Pläne zu verfolgen. "Er will alle Erzähler beherrschen, damit das Buch allein auf ihn hört."
Irinia zitterte. Sie glaubte dem Wesen alles. Wieso sollte es sie belügen? Diese Geschichte klang unfassbar; niemand würde sich das ausdenken! "Wer hat dieses grausame Buch erschaffen, das mich zu einem hässlichen Monster gemacht hat, bitte, sprich", flüsterte sie, und sie hörte ihr Herz pochen.
"Sein Name ist Albertus Magnus, und er ist einer der Hüter Blyrtindurs."
Die Regentin hielt inne, fasste ihr Herz und weinte. Sie hatte so lange nicht mehr Tränen gespürt, zumindest ihre eigenen. So viel Leid hatte sie anderen gebracht, war dies also der Preis? "Albertus... ich habe von ihm gehört. Die Berichte Arans waren sehr deutlich. Aber wieso sollte der Hüter der Insel so etwas tun?"
"Er weiß es nicht. Denn vielleicht hat er es noch nicht getan. Das Buch ist zeitlos. Er könnte es heute erst erschaffen, morgen oder in einigen Jahren. Es bedeutet nichts."
"Ich benötige Hilfe", sagte sie und spürte große Furcht. Sie zählte die Namen derer auf, die Albertus kannten und seine Freunde waren. "Dunja. Ich werde Dunja um Rat bitten."
Sie versteckte den Schlüssel in ihren Gemächern. Ihre Gedanken kreisten nur um eines: Wie sollte sie Dunja begegnen? Sie war einer ihrer ärgsten Feinde. Aber war sie nicht auch eine Gesandte der nordischen Götter? Schnell nahm sie ihr Schreibzeug, um einen Brief zu verfassen, als es klopfte. "Ja?", fragte Irinia und versteckte das Pergament unter dem Schreibtisch.
Schwester Isanya trat ein. "Herrin?"
"Was wollt Ihr jetzt? Behandelt man Euch etwa schlecht? Ich habe die Wachen angewiesen, dass Ihr ein besseres Quartier erhalten sollt. Bald ist dies alles ausgestanden. Wenn der Krieg vorüber ist. Wenigstens könnt Ihr Euch frei bewegen, wie ich es angeordnet habe. Also... was ist?"
Isanya kam näher. Sie berührte Irinias Gesicht. "Es ist Zeit, findet Ihr nicht, Regentin?"
"Was soll das?", wollte Irinia fauchen, aber anstatt mit fester Stimme zu sprechen, flüsterte sie, ließ sich die Berührungen gefallen, als Isanya in ihren Schritt fasste. Dann biss sie sich selbst in den anderen Arm und ließ das Blut auf Irinias Gesicht tropfen. Die Regentin fasste den Arm und trank davon. Mehr und mehr. "Jetzt sind wir eins", sagte Isanya, "ich will dir nun sagen, wer ich wirklich bin. Und dann musst du etwas für mich und unseren Meister tun. Für Phaeton".
Am nächsten Tag hatte sie den Brief an Dunja vergessen. Sie verschloss den Umschlag und versiegelte ihn. Soeben hatte Irinia von Glan ihr Testament geändert.

Gesperrt