Ein scharlachroter Tod

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Beitrag von Meister » 27 Jul 2011, 21:19

Prolog

721

721 erreichte den hinteren Ausgang. Die Gänge, sie mussten wohl von den Fremden errichtet worden sein. Nicht, dass es 721 kümmern würde. Nicht, dass es ihm einfach nur gleich wäre. Nein, es war eine Information, die er so schnell als unwichtig abgehandelt hatte, wie er einen oder tausend Gedanken fassen konnte.
Schließlich öffnete sich die Schleuse, und das Wasser trug ihn in den Pool 1278. 721 fühlte das einzige Gefühl, das er kannte: Zufriedenheit.

87

Die Macht des Pools aufzusaugen und das scharlachrote Lied der anderen zu hören, erfüllte 87 mit keinem anderen Gefühl als Zufriedenheit. Alles andere waren Gedanken und Entscheidungen. Die Entscheidung, zu fressen; die Entscheidung, zu töten - wie die erste aller Entscheidungen waren auch sie unwichtig: sein.
"Wir haben einen von ihnen erwählt."
"Das haben wir."
Der Pool färbte sich rot.

Baelon

Es war eine neue Zeit. Die Finsternis war besiegt, und endlich, endlich hatte das Land eine Königin. Theresia von Breton erfüllte alle Erwartungen. In Kürze würde der neue Rat zusammenkommen, und endlich, endlich würden all die Dinge getan, die Baelon von Glan nicht allein schaffen konnte.
Zufriedenheit.
Alea iacta est.

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Beitrag von Meister » 18 Okt 2011, 16:22

Kapitel Eins: Die Weiße Sonne


1

Aurelion

"Amur, was willst du, was soll ich tun?"


Der Mann in Rot

Die Informationen zu übermitteln, das war keine Schwierigkeit gewesen. Als einer von ihnen das "lachende Kind" erwähnt hatte, da wäre er fast geneigt gewesen, selbst zu lachen. Sie hatten einfach keine Ahnung, was es bedeutete. Doch manche Dinge, so hatte es sein Meister immer gesagt, ergaben sich erst nach dem letzten Pinselstrich.


Baelon

Der Diebstahl der Reichskrone war endlich aufgeklärt worden, wenn auch nicht zu seiner vollständigen Zufriedenheit. Als man die Leichen der Soldaten und Arbeiter in der Ausgrabungsstätte entdeckt hatte, war Baelon sofort alarmiert gewesen - steckte einer der unzufriedenen Wilderlandlords dahinter? Oder waren es gut organisierte Räuber, die einen mächtigen Auftraggeber hatten?
Dann hatte er erfahren, dass es untote Kreaturen waren, nicht lebend und nicht tot, die Wachen und Arbeiter abgeschlachtet hatten - aber die alte Reichskrone, in den Bürgerkriegen verschwunden, hatten sie nicht erbeutet.
Vielmehr waren es Maga Aethel und ihre Begleiter, die der Spur des Mörders gefolgt waren, den man nunmehr "den Schlächter" nannte. Ein Diener des Roten Todes.
Und was waren Lord Maegranths Pläne? Er hatte den Blauen Turm angegriffen - ohne sichtbaren Grund, ohne Provokation.
"Lord Baelon, Ihr sorgt Euch."
"Was Ihr nicht sagt, Sir Allyen. Natürlich. Wir wissen nur, dass die Krone, vermeintlich mit Nekromantie beladen, an einem sicheren Ort aufbewahrt wird - aber wir wissen nicht wo. Einzig zwei Personen, sagte die Magierin, wissen es. Und eine dritte Person, ihr Geliebter, wird es nicht wissen, aber eine schriftliche Weisung darüber bei sich tragen. Für die allgemeine Sicherheit! Kann man das verstehen, alter Freund?"
Sir Allyen nickte leicht. "Die Königin hält es für weise und richtig. Vielleicht es auch so. Wer weiß, wozu die Diener des Roten Todes in der Lage sind. Und wer weiß, wer der Krone nachjagen wird."
"Damals war es leichter. Als ich nur meine wahnsinnige Schwester und meinen nicht minder wahnsinnigen Bruder gegen mich hatte. Und jetzt? Schattenhafte Entitäten, die sich der Rote Tod und die Weiße Sonne nennen."
"Wir werden auch das überstehen", murmelte Sir Allyen, "so wie es immer war."
Baelon seufzte. Natürlich würden sie das. Und wer würde es dieses Mal überleben?
"Sir Allyen, stellt eine kleine Flotte zusammen, welche die Insel des Leuchtturms erkunden soll, gemeinsam mit zwei Priestern und zwei Magiern. Und entsendet eine zweite Truppe, in derselben Zusammensetzung, zur Nebelküste. Was auch immer das Sternbild 'der Schild' uns für vortreffliche Neuigkeiten bringen möchte."
"Jawohl. Und, verzeiht meine Frage, Lord Baelon: Warum glaubt Ihr, nach allem was gewesen ist, nicht an die Zeichen des Himmels?"
Baelon schaute Allyen einen Moment an. "Weil Menschen sich selten daran halten."
Nachdem er seinen ersten Ritter entlassen hatte, wühlte er durch alle Unterlagen und Dokumente, Bücher und Schriften, die er sich hatte bringen lassen von der Akademie und der Abtei. Er musste sich einlesen in diese Dinge. Wie es schien, war der Rote Tod ebenso eine Legende der Valkyn. Doch auch oben, weit im Norden, wo die Welt aus Eis ist, kannte man dieses Wesen - wenn es denn ein Wesen war. Doch über die Weiße Sonne konnte Baelon nichts finden.
Vermutlich, dachte er, waren die betreffenden Dokumente gestohlen oder vernichtet worden. Er musste sich also auf das verlassen, was man ihm berichtet hatte. Dass die Weiße Sonne das Land verbrennen würde, dass am Ende nur noch der Tod bliebe und das Unleben über den Kontinent herrschen würde.
Wie sollte man so eine Macht aufhalten? Und welche Rolle spielten Maegranth, die Krone?
"Die Krone!", rief er plötzlich.
"Herr?", fragte ein Hausdiener hinter der Tür.
"Schon gut, schon gut."


Ulfgar

Die Argumente dieses Hauptmannes Pentagast waren nicht von der Hand zu weisen. Magie war eine gefährliche Sache. Dass Aestrinor jedoch einzig auf die Herkunft einiger Hohenfelser anspielte, hatte die Argumentation nicht gerade glaubwürdig gemacht. Vielleicht müsste er in Kürze Aestrinor zeigen, wie man argumentierte.
"Mylord Roglund, wir haben einen weiteren Gefangenen."
"Zauberer?", fragte Ulfgar.
"Ja, Herr."
"Werft ihn zu den anderen. Untersucht ihn nach Anzeichen für den Harnisch der Weißen Sonne - im Nacken, wie bei den Kindern."


Cleophos

Lord Aestrinor saß gemeinsam mit seinem Weib in der Gartenlaube; sie tranken heißen Wein mit Früchten, denn der Winter kam schnellen Schrittes in das Wilderland.
"Du hast uns blamiert, Cleophos", sagte Tysandra.
"Ach ja? Ich bin mir sicher, es handelt sich um eine tectarische Intrige. Man will nun auf diese Weise den Schrecken der Inquisition ins Land tragen. Aber das hier ist nicht Tectaria!"
Sie kicherte. "Natürlich will man das, natürlich ist es das nicht. Aber du solltest subtiler vorgehen. Verschaffe dir Verbündete, fang mit Hohenfels an."
"Ausgerechnet Hohenfels? Hat dir die Weiße Sonne den Kopf verbrannt?"
"Nein, aber Lord Harilos hat eine Idee."


Brutus

Brutus von Dagharn warf erst den Krug und dann die Hure vom Bett, die ihm beide die letzten Stunden versüßt haben. "Kleide dich an, das Gold liegt auf der Kommode."
"Aber mein Großer, was betrübt dich?", fragte das Mädchen, kaum älter als vierzehn Jahre.
"Das ganze Gefasel über Magiegesetze. Ich kenne mich mit der Hexerei nicht aus, aber wir brauchen keine Gesetze, wie sie in Tectaria galten. So einfach ist das."
"Ohh, soll ich den kleinen Lord zwischen Euren Beinen besänftigen oder beschäftigen? Es wird auch den großen Lord beruhigen."
"Wie du willst, meine Sonne, wie du willst."


Mephyn

Der Tempel an der Nebelküste - oder das, was von ihm geblieben war - war fast im Nebel versunken. Der Regen prasselte auf die Zelte und die Rüstungen seiner Soldaten. Auch der Altar, den er mit seinen eigenen Händen errichtet hatte, stand halb im Wasser. Das Orakel der Weißen Sonne hatte zu ihm gesprochen - nun wusste er, was zu tun wäre.
Mephyn von Harilos blickte noch einmal in den Himmel und betrachtete die Sterne. Der 'Schild' leuchtete hell, doch was dahiner war, war wesentlich interessanter. Wie lange würde es noch dauern?
Noch einmal überdachte er sein Gespräch mit Maga Aethel und ihren Begleitern. Sie hatten ihn gefunden, obwohl er so vorsichtig gewesen war. Da hatte er improvisieren müssen. Aber es war richtig. Sie konnten helfen. Er hatte ihnen die Asche jener einen Frau gegeben, die die Dinge in die richtige Richtung lenken könnte. Das uralte Geheimnis, er hatte es freigegeben. Tat er es zu seinem eigenen Schutz? Oder tat er es, weil er daran glaubte, dass man den Roten Tod wirklich besiegen konnte?
"Mylord? Wir haben Besuch."
"Wer?"
"Seht selbst", sagte die Wache.
Mephyn schritt vom Altar fort und ging zum Eingang seines kleinen Lagers.
"Lord Harilos, erklärt Euren Marsch hierher", forderte der Soldat der Königin, der in Begleitung einiger Männer eingetroffen war.
Jetzt musste er wieder improvisieren. "Ich habe nicht die Absicht, mich zu erklären. Wir führen nichts Böses im Schilde, und meine Interessen gelten dem Reich."
"Dies mag sein. Und doch fordern wir im Namen der Königin eine Erklärung, Mylord."
Die Soldaten wirkten motiviert. Es musste etwas geschehen sein. Vielleicht irgendwo ein Angriff, eine Attacke von Maegranth?
"Wie Ihr wünscht. Ich vermute, hier liegt ein Geheimnis verborgen, welches uns die Macht gibt, die Bedrohungen, die sich dem Reich nähern, zu besiegen. Meint Ihr nicht, es ist unsere Pflicht, es zu bergen?"
"Natürlich ist es das. Was ist hier verborgen?", fragte der Soldat.
"Eine Waffe."
"Geht das genauer?"
"Nein, aber ich lade Euch ein, mit mir hier zu verweilen."
Der Soldat überlegte einen Moment. "Ich muss Euch bitten, umgehend bei der Königin vorzusprechen. Ein Teil meiner Männer wird Euch geleiten. Ich werde hier mit Euren Truppen warten."
Mephyn zögerte. Er wollte es selbst sehen, aber er konnte es nicht riskieren, die Königin zu verärgern. "Ich bin einverstanden. Aber weist Eure Soldaten an, Geduld zu üben und nichts zu berühren. Mein Hofmagus wird zur Stelle sein."
So ließ er sich in die Kernlande führen. Die Waffe würde sich bald offenbaren. Er könnte sich nützlich machen am Hof. Vielleicht würde er Maegranths Leben retten.
Vielleicht.


Caldorvan

Dass sein Sohn Aran nunmehr der Bewacher der Quelle Blyrtindurs war, damit hatte sich der Untote angefreundet. Immerhin gab es der Familie Torbrin einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Seine Tochter Aurelia und sein Sohn Saban verwalteten Burg Witrin, wie es sich gehörte. Zwar hatte der Untote nicht all seine Ziele erreicht, aber im weitesten Sinne gab es durchaus Vorteile, die er sich nutzbar machen konnte. Das Reich schien ihn vergessen zu haben - er war keine Bedrohung mehr.
Langsam schritt er durch den unterirdischen Tempel, Julthos an seiner Seite.
"Du wartest hier."
"Ja, Herr", antwortete er monoton.
Caldorvan öffnete die schwere Eisentür, lief in den Gang hinein und verschloss sie hinter sich. Die alten Gemälde waren staubig, die Pergamente vergilbt oder von Ratten angefressen. Kein sehr würdevoller Ort - aber es musste für den Moment genügen.
Der Unbekannte wartete schon im Zimmer. Es war spärlich eingerichtet.
"Sagt mir, warum ich Euch beschütze", knurrte Caldorvan.
"Ich habe unschätzbares Wissen über eine bestimmte Kleinigkeit."
"Und die wäre?"
"Das lachende Kind."
"Ihr sprecht vom Sternbild? Oder etwa vom Gemälde? Wie kann ein Bildchen nützlich sein? Stellt meine Geduld nicht auf die Probe!"
"Hört Euch an, was ich zu sagen habe."
Und Caldorvan lauschte. Seine toten Finger spielten derweil mit dem Amulett und dem schwarzen Stein.


Zhaerius

Zhaerius von Maegranth beendete sein Gebet zu den Göttern. Dann fasste seine bleiche Hand die Schale und führte sie zum Mund. Seine Gebete galten dieser Tage der Sicherheit seiner Männer und dafür, dass wenigstens einer im Reich, gleich wer es sein mochte, die Dinge so sehen würde wie er sie sah.
Auf der Versammlung, die auf Antrag von Hauptmann Pentagast zu Hohenfels einberufen worden war, hatte er den Fürsprecher gemimt. Zhaerius war nie ein großer Freund der akademischen Magie gewesen, aber die Dinge, die da kommen würden, sie wären nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Dass er dennoch für eine solche Lösung war, stand außerhalb seiner Macht. Seine Magie war anders. Sein Wissen war groß, und seine Soldaten waren zahlreich - und all dies half ihm nicht. Als er von dem Angriff auf sein Lager in den Kernlanden gehört hatte, wurde ihm klar, dass auf jeden Fall einer im Reich, wer auch immer es war, ahnen mochte, wie es in Wahrheit um ihn stand.
"Warum hast du nicht mich angegriffen, Fremder...", murmelte er leise. Aber so gnädig war Liras nicht - und Leban schon gar nicht.
Die Türe öffnete sich.
"Wir brauchen Euch. Es ist ein Schreiben eingetroffen."
"Von wem? Der Königin?", fragte Zhaerius.
"Nein. Von Theornon Waldyr von Hohenfels. Man wünscht, Euch am Hofe zu sprechen. Offenbar haben er und Hauptmann Pentagast das Lager entdeckt, nachdem es angegriffen worden war. Man will eine Erklärung."
"Für einen Angriff auf eines meiner Lager?"
"Nein. Für den Angriff des Hauses Maegranth gegen den Blauen Turm."
Zhaerius schluckte. "Was?"
"Zögert nicht. Ihr erhaltet entsprechende Anweisungen. Leider konnte die Krone nicht erbeutet werden."
Die Krone. Mephyn hatte ihn gewarnt. Wo war nun die Asche, wo das lachende Kind? Er musste etwas unternehmen - schnell.
Dann löste man seine Ketten, heilte alle Narben und Wunden. Man führte ihn in die Kammer der Verbindung, wo der Unbekannte auf ihn wartete.
"Der Prophet hat Anweisungen für Euch, Maegranth."


Der Prophet und seine Hand

"Die Hand ist zurück, Prophet."
Der Prophet musterte die Hand. "Du hast versagt. Im Jorganschelf. Und deine Kinder - die Sonne hat sie für sich gewonnen. Finde sie."
"Ja, Herr", antwortete die Hand. Seine trüben Augen sahen nichts, doch sein Herz umso mehr.
"Eines Tages werden wir frei sein", flüsterten die, die keinen Namen haben.


Die Dienerinnen der Weißen Sonne

Das Orakel war gestört worden, als die Leblosen durch die Reihen der noch Lebloseren geschritten waren. Aber die Aufgabe war vollbracht.
Alara, die Weiße Sonne, bald würde sie wieder scheinen.


721

721 stürzte in den Mutterhaufen und nahm das Wissen auf, das im Schelf erlangt worden war. Menschen, zweibeinig, eine einfache und ungenaue Sprache. Der Rote Tod, eine Bedrohung. Die Weiße Sonne, eine andere. Alle zwischen dem Pool und dem Ziel.
Die neuen Entscheidungen ließen 721 anwachsen zu einer Gestalt, der man vertrauen würde. Zuerst musste der Schlächter fallen, dann wäre der Weg frei. Der Weg an den einzigen Ort, den er und die anderen liebten.
Alea iacta est.

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Beitrag von Meister » 18 Nov 2011, 14:02

2

Baelon

Die Momente der Ruhe waren wieder eine Weile her. Baelon stand vor dem Spiegel und betrachtete sein Haar, wie es hier und da ergraute. In den letzten Wochen war sicher die ein oder andere Strähne hinzugekommen. Zuerst die Morde, die letztlich Caldorvan anzulasten waren, dann diese unsäglichen Versammlungen!
Da der Untote gezwungen worden war, zeigte wieder einmal, wie leicht es war, die Hand der Götter, wie er sich selbst nannte, zu manipulieren. Wäre es nicht sinnvoller, ihn endlich loszuwerden? Caldorvan war ein Unsicherheitsfaktor. Andererseits würde er damit vermutlich das Haus Torbrin gegen sich aufbringen, denn wie man so hörte, schien sich das Verhältnis zwischen Aurelia und ihrem Vater deutlich zu bessern. Nun, dann würde er sie bitten müssen, ein wachsames Auge auf den Untoten zu halten, den sie Vater nannte.
Und was den Antrag dieses Hauptmannes betraf, so war Baelon geradezu erleichtert, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Der Bericht Theornons jedenfalls war eindeutig gewesen: In einer anderen Wirklichkeit, entstanden durch eine Manipulation durch den Unbekannten, den Mann in Rot, herrschte die Lebankirche über das Land und über eine schwache Liraskirche. Ministranten verseuchten das Land mit ihren Feuern, und kein Magier war mehr sicher. Grund genug für die Königin, den Antrag nachträglich abzulehnen. Jetzt musste aber darauf geachtet werden, dass Pentagast keine anderen Wege gehen würde, sein Ziel zu erreichen. Baelon traute ihm nicht, wie er ohnehin nur wenigen traute.
Die Wilderlandlords kochten ihr eigenes Süppchen, das war schon immer so gewesen. Zhaerius von Maegranth war ebenso ein Opfer der Manipulation geworden wie Caldorvan, und Mephyn von Harilos schien dieser Sonnenpriesterin zu dienen. Ja, waren denn nun alle verrückt geworden?
"Mylord, ich habe hier die Liste, die Ihr verlangt habt", sagte Sir Allyen, als er eintrat.
"Lasst sehen."
Baelon las die Namen der Soldaten, die bei der Schlacht im Tal Beltain gestorben und verwundet worden waren. Es waren viele, zu viele. Wenn jetzt die Diener der Weißen Sonne kämen, sie würden eine unvorbereitete Armee vorfinden, bestehend aus Milizen und jungen Burschen. Die einzig gute Nachricht war, dass die Wesen der Finsterschlucht, die von den Dienern des Roten Todes in ihre Armee gezwungen worden waren, das Weite gesucht hatten. So sollte es besser bleiben.
"Ich will die Grenzen gesichert wissen, insbesondere im Süden. Teilt dem Khagan mit, dass ich noch heute zu ihm kommen werde, um eine gemeinsame Truppe zum Schutze von Thyms Rast und der Ebene zu erstellen. Wenn diese Sonnenanbeter durchbrechen, dann sind wir alle fällig."

Aurelion

Die Hausdiener servierten gerade den Nachtisch, als Theresia ihren Löffel zornig auf den Tisch krachen ließ. Und ihre Faust hinterher.
"Was ist?", fragte Aurelion.
"Ach, ich hätte diesen verdammten Antrag von Anfang an ablehnen sollen. Das Ganze roch doch nach Tectaria, dass es schon gestunken hat."
"Das ist es nicht, was dich ärgert. Du weißt genau, dass du keine Wahl hattest, wenn du nicht eine unbestimmte Anzahl von Lords gegen dich hättest aufbringen wollen. Nämlich die, die nichts gesagt haben. Man weiß nicht, was sie denken. Also, was ärgert dich wirklich, Liebste?"
"All die Toten. Wird das Reich denn niemals zur Ruhe kommen? Man könnte meinen, das Land wäre nicht gesegnet, sondern verflucht."
"Es ist eine Prüfung, die niemals endet."
Theresia sah ihn nun an. "Sag mir bitte nicht, was Amur denkt. Sag mir, was du denkst, Aurelion."
"Ich denke, dass es wahr ist", antwortete er lächelnd, "du wirst sehen, eines Tages herrscht der Frieden, den wir uns wünschen."
"Ja, vielleicht. Aber nicht, solang Solayne im Süden ihre Armee aufbaut. Haben wir was vom Lethos gehört?"
"Er führte ein langes Gespräch mit Mephyn von Harilos. Über seine Gründe, sich mit der Priesterin der Weißen Sonne zu verbünden. Harilos glaubt wirklich, dass Solayne Liras stärken will und das Reich in eine neue Zeit führen möchte."
"Hat er ihm gesagt, dass ich Solaynes Angebote, uns zu verschonen, wenn sie die Sonne gerufen hat, ablehne? Er muss doch sehen, dass sie ganz andere Pläne verfolgt."
"Er tut Buße. Lethos Mercutio hat ihn unter seine Aufsicht gestellt. Er ist sehr phantasievoll, wenn es um Bestrafungen geht", antwortete Aurelion. Und das war der Lethos in der Tat. Emes hatte berichtet, wie Mercutio Harilos abführen ließ und ihn Bekanntschaft schließen ließ mit einer eisernen Jungfrau in den Kellern der Lebankirche.
"Gut. Ich dulde keinen Verrat. Es kann keinen Frieden geben, wenn die Lords nur an sich und nicht an das Ganze denken. Vielleicht ist Harilos ein Exempel."
Theresia schob die Schale zur Seite und erhob sich. Dann bat sie einen Diener, mehrere Wagen mit Nahrungsmitteln, etwas Gold und einer Mitteilung des Königshauses zu befüllen. "Für die Angehörigen der verstorbenen Soldaten. Sagt ihnen, dass ich morgen zu ihnen sprechen werde. Sie sollen wissen, dass ihre Männer, Brüder und Söhne tapfer starben und warum", befahl sie und verließ die Halle, nachdem sie Aurelion einen Kuss gab.
Er hatte ihn erwidert, die Augen dabei geschlossen. Er fürchtete sich, dass sie sonst sehen würde, was er wirklich dachte: Das Reich würde nie Frieden finden, solange es Blyrtindurs Legenden gab, die nichts außer Tod und Vernichtung brachten. Darum hatte er vor einigen Tagen seinen Vater aufgesucht.
Um das zu beenden.

Daryptus

Der Fäulnisdämon schritt über die Uferstrände, ließ das Wasser seine schwarzen Knöchel berühren. Die Maden, die aus den Poren seiner fahlen Haut krochen, nahmen ein Bad, bevor sie durch andere Öffnungen seines verwesenden Leibes wieder hineinkrochen. Dort, wo sie das Wasser berührt hatten, erhoben sich aus dem Schlamm die Untoten. Schweigend folgten sie ihrem Herrn bis zur Steilküste.
"Ich weiß, dass ihr mich hören könnt. Ihr seid Diener. Erkennt die Gnade, die der rote Tod euch gewährt. Ihr habt eine Aufgabe, Krieger. Verlasst die Gestade der Vergangenheit und denkt an die Zukunft. Gemeinsam werden wir etwas Neues schaffen. Doch uns steht etwas im Wege. Es ist dieses Kind - wir wollen es haben. Ich will in sein zartes Fleisch beißen und sein Blut schmecken!"
Erst leise, dann immer laute brummten die Wasserleichen, während sie sich langsam zusammensetzten.
"Auf nach Brulund!"

Ulfgar

"Abgelehnt?", fragte Ulfgar und schmetterte seine Faust gegen das Mauerwerk. "Abgelehnt? Warum?"
"Ich kenne die Gründe der Königin nicht", antwortete Cleophos von Aestrinor, "aber sie braucht keine Gründe. Sie ist die Königin. Ich bin nur hier, um Euch zu informieren, Lord Roglund."
"Oh, ich seh schon, es freut Euch. Ich weiß genau, dass Ihr etwas plant, Aestrinor. Eure Affinität zur Magie ist mir nicht entgangen."
Aestrinor schmunzelte. Am liebsten würde Ulfgar ihm das Grinsen herausschneiden. "Mein lieber Ulfgar, Ihr wisst so gut wie ich, dass wir alle unsere Vorlieben haben. Man munkelt, die Eure wäre, Zauberkundigen nicht nur ihre Angewohnheiten, sondern auch ihr Leben zu nehmen."
"Lasst ruhig alle munkeln. Ich habe nichts zu verbergen. Und nun schert Euch zum Teufel!"
Er ließ Lord Aestrinor samt Gefolge der Burg verweisen. Die Magiegesetzte hätten Ulfgar sehr geholfen. Er wäre der nächste Kanzler geworden, hatte er doch schon in allen Belangen vorgesorgt. Und nun das!
"Diener!"
"Mylord?"
"Holt mir sofort Hauptmann Pentagast her! Wir haben Dinge zu besprechen."
"Jawohl, Mylord. Ach, wir haben noch einen aufgegriffen. In der Akademie kennt man ihn nicht."
"Gut. Herein mit ihm."
Wachen brachten einen jungen Burschen herein. Er trug eine Robe. Den Stab hatte man ihm abgenommen.
"Ich brauche einen Hofmagus. Zeig, was du kannst."
Der Bursche schien erfreut, vielleicht eine Anstellung gefunden zu haben und zeigte in einfachen Zaubertricks sein Können. Nach einer Weile hatte Ulfgar genug. Er nahm den Stab des Zauberers an sich, schlug dem Burschen gegen die Schläfe, dann brach er ihm das Genick.
"Zu jung, bringt mir erfahrene Zauberer!", brüllte er.

Phaeron

"Es ist so leicht, Mephyn. Bittet Liras und Leban um Vergebung für Eure Sünden, und Ihr seid ein freier Mann", flüsterte Lord Yren leise.
Mephyn von Harilos trug blutige Male am ganzen Körper, nachdem er ein Weilchen in der eisernen Jungfrau verbracht hatte. Danach hatte Yren ihn auf ein Rad gespannt und kräftig gezogen; Harilos dürfte jeden Muskel und jede Sehne spüren. "Ich habe nichts Unrechtes getan!"
"Der Lethos sieht es anders. Und damit sehen es die Götter anders. Also, Mephyn, was sind Eure Pläne? Wo will Solayne zuerst angreifen, hm?"
"Ich weiß davon nichts!"
"Ich kann das hier ewig fortsetzen. Mit dem Segen der Götter. Wäret Ihr im Recht in ihren Augen, wäret Ihr dann hier, Mephyn? Was sind die Pläne?"
"Sie wird nicht angreifen, nicht hier!", schrie Harilos.
"So? Und wo dann?"
Einige Minuten darauf ließ Phaeron von Yren nach Emes schicken.
"Mylord?"
"Sofort einen Boten schicken!"
"Wohin?"
"Blyrtindur."

Solayne

Die Priesterin der Weißen Sonne war sehr ungehalten. Zweimal noch hatte sie ihr Angebot, die Bretonen zu verschonen, anderen mitgeteilt, und dann der Königin selbst. Alle lehnten ab. Nun, dann könnte sie nichts mehr für diese Leute tun. Die Anrufung Vairocanas stand kurz bevor, und dann würde das Land brennen. Den Schlüssel dazu sah sie im Schoß einer sterbenden Valkyn. Das lachende Kind - das Sonnenkind - war der Weg, all die Ziele zu erreichen.
Vairocana hungerte, sie brauchte neue Nahrung. Und diese Welt war so saftig und rein, es wäre ein Festmahl für die Sonne, wenn sie ihre Flammenarme und ihren feurigen Hauch auf das Land speien würde, um sich fett und satt zu fressen.
"Sind die Spiegel in Position?"
"Ja, Herrin."
"Bringt mir den Sonnenstein. Es hat begonnen."

Lebanus

Die finsteren Träume, wie er sich in den Roten Tod verwandeln würde, wie er der Herr über die Untoten wäre, sie hatten aufgehört. All die Jahre, die er als einsamer Jäger auf der Insel verbracht hatte, sie spielten keine Rolle mehr, wenn er in die Augen seines kleinen Sohnes blickte. Kryna war gestorben, aber ihr Erbe lag in seinen Armen. Hier in Brulund war etwas, das er vorher nicht gekannt hatte: Heimat. Plötzlich war Blyrtindur nicht mehr ein kalter Fleck, auf dem er zufällig wandelte, es war der Ort, an dem sich sein Schicksal zum Guten wenden würde.
So schien es ihm. Die Hüter bestärkten ihn darin, zu bleiben, wachsam zu sein, seinen Sohn zu erziehen und ein gutes Leben zu führen. Zwar war er sich sicher, dass die Diener des Roten Todes niemals aufgeben würden, aber nun hatte Lebanus zwei Dinge, die er vorher niemals gehabt hatte: einen Sohn. Und Freunde.
Seine guten Gedanken brachen ein, schienen weit weg zu sein, als ein heftiger Schmerz in seinen Kopf stieg. Er musste das Kind der Wölfin geben, denn er spürte, wie ihn die Kraft verließ, es zu halten.
"Was ist mit ihm?", fragte Ofeigur.
Es waren die letzten Worte, die Lebanus hörte, bevor er sich in ein dunkles rotes Licht getaucht fühlte.

Caldorvan

Mit einiger Befriedigung hörte der Untote vom Tod des Mannes in Rot, des Unbekannten. Ein Diener der Zeit war er gewesen, letztlich ein Erfüllungsgehilfe der Legenden Blyrtindurs. Die Frau mit dem zweiten Gesicht hatte diesem Mann das Leben genommen. In Zho-Ra, der Stadt des Liras - in der tiefen Vergangenheit Blyrtindurs.
"Schade, dass es nicht mir vergönnt war, ihn zu richten", knurrte Caldorvan.
"Ja, mein Lord", antwortet Julthos, bevor er sich schnell herumdrehte. "Ein Gast, wir haben einen Gast."
Caldorvan war durchaus überrascht, seinen Sohn hier anzutreffen. "Aurelion, Leban mit dir."
"Und mit dir, Vater."
"Du nennst mich Vater, obwohl du gleichsam denkst, dass du und ich nicht weiter voneinander entfernt sein könnten. Was willst du?"
"Deine Hilfe."
"Meine Hilfe?", fragte Caldorvan amüsiert. Er hätte nicht gedacht, den Tag zu sehen, an dem ausgerechnet die strahlende Lichtgestalt der Familie zu ihm käme mit einer Bitte.
"Wenn du nicht weißt, wie du deinen Schatz befriedigen sollst, dann gehst du am besten in ein Bordell oder fragst die hiesigen Bauern, sie haben sicher eine Menge Vieh übrig, woran du üben kannst."
"Spar dir das, Untoter."
Ah, nun erinnerte Aurelion ihn daran, was er war. Als würde er es nicht in jedem wachen Augenblick spüren, die eigene Kälte und das stete Verwesen. Und Caldorvan war immer wach. "Sprich aus, was du willst, Sohn."
"Es geht nicht um mich. Wenn dir das Reich wirklich wichtig ist, dann hilfst du mir, es zu retten."
"Ich werde nicht gegen Solayne ziehen. Ihr Licht ist nicht gut für mich."
"Nein, darum geht es nicht. Es geht um Blyrtindur."
"Was sollte mich an diesen Ort führen? Hat das Inselchen nicht die Allianz aus Steinhaufen und Ochsen, die es beschützen?"
"Nein, Vater, es geht nicht darum, die Insel zu beschützen. Ich möchte sie zerstören, sie soll für immer auf den Grund des Meeres fallen. Von ihr geht nur Schlechtes aus. All ihre Legenden bringen den Tod."
Jetzt war er wirklich überrascht. "Du willst, dass alle dort verrecken?"
"Nein, ich werde alle warnen, wenn es soweit ist. Rechtzeitig, damit jeder gehen kann. Aber die Insel, sie ist eine Gefahr für die ganze Welt, für mich, dich, Theresia, alle - für jeden. Ohne sie wäre Solayne nicht, ohne sie wäre Vairocana nicht."
"Auch ich wäre nicht", sagte Caldorvan.
"Vielleicht. Aber du bist da, das kann leider niemand ändern. Doch Blyrtindur, man kann es vernichten."
"Wie stellst du dir das vor? Ich sage nicht, dass ich dir helfen werde. Ich will hören, was deine Pläne sind, bevor ich entscheide."
Caldorvan lauschte genau. Was er hörte, klang recht plausibel. Eine längerfristige Sache, aber es würde tatsächlich das Reich schützen - und einige Probleme mit sich begraben.
"Ich werde zu ihnen sprechen."
"Danke, Vater", antwortete Aurelion leise.
"Skrupel?"
"Nein."
Doch, die hatte er. Von all seinen Kindern war Aurelion der, von dem er sich am meisten versprochen hatte - und der ihn am meisten enttäuschte. Bis heute.
"Was wird wohl Aran dazu sagen?", fragte er seinen Sohn.
"Er interessiert mich nicht. Wir haben uns ohnehin wenig zu sagen."
"Ausgezeichnet, da sind wir nun zwei."

Ein Lager der Sonne

"Wer da?", fragte die Wache.
"Nur ein Bote."
"Ein Bote von wem?"
"Solayne wünscht, dass ihr marschiert."

721

Es war ein gutes Gespräch. So sagten es die Zweibeiner. 721 passte sich etwas an. Das war wichtig, um endlich das zu erreichen, was sie alle liebten. Das Wasser der Dvergenquelle wärmte ihn und die, die er mit sich trug. 721 war ein folgsamer Mutterknoten. Und hier könnten sie sich verstecken, bis die Zeit gekommen wäre.
Dann ein Signal. 876 war in Gefahr. War er nicht damals aufgebrochen, um die Zweibeiner zur Insel mit dem bewegungslosen Zweibeiner aus Eisen zu rufen?
Sofort rief er 654, 243 und 101, aber keiner von ihnen hatte weitere Informationen.
721 fühlte etwas Neues: Angst.

Auf der Glasinsel

"Es ist fort, alles fort!", rief einer.
"Was ist hier los?"
"Esthelion, alles ist weg, das Gegenmittel, weg!"

Die Schatten aus der Anderwelt

Namen waren so vergänglich. Die sentimentalen Gefühle der Menschen, allem einen Namen zu geben, sie amüsierten die Ketten. Rasselnd schlugen sie aus, scharrten an den Wänden entlang, dass sie ihre Spuren hinterließen.
Ja, Namen, überall Namen. Nur dieser einen Rasse, den Wesen aus der Quelle, keiner hatte ihnen einen Namen gegeben. Vielleicht war es deshalb so leicht, sie zu Gefangenen zu machen. Dann würde es sicher ebenso leicht sein, sie zu zwingen, den Ketten zu geben, was sie verlangten.

Zwei Brüder

"Die Zeit ist gekommen, Erec."
"Schon?"
"Fürchtest du dich?"
"Nein, das ist es nicht. Aber ist es Recht, was wir tun?"
"Wir machen Blinde sehend, Lahme gehend, was daran ist Unrecht? Es ist der Wille des Herrn."

Im Stock

Augen schlugen auf. Facetten wurden heller. Tausend Beinchen regten sich. Von oben Geräusche, die sie in Wellen fühlte. Stimmen. Fremde Sprachen. Umrisse. Türme, Fenster, Wesen.
"Wo bin ich?", fragte ein Duft.
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

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Beitrag von Meister » 26 Nov 2011, 14:40

Kapitel Zwei: Ab Abysso


Prolog: Zur Zeit der Weißen Sonne


Zwei Brüder

Die Kriegsgolems der Allianz, metallene Giganten, aktivierten ihre Magnetwaffen, und im nächsten Moment schleuderten sie zusammengewürfelte Soldaten gegen die feindlichen Reihen, bis sie sich selbst vernichtet hatten. Minotauren und Trolle stürmten die Fliehenden nieder, und die anderen Truppen schlossen diejenigen ein, denen es nicht vergönnt war, das Weite zu suchen - die Armee der Allianz und ihre Verbündeten besiegten die Truppen Solaynes.
All dies sahen die zwei Brüder, doch mehr interessierte sie das, was auf dem kleinen Eiland hinter dem Turm geschehen war: Eine kleine Gruppe hatte den Sonnenspiegel erreicht und ihn benutzt. Offenbar hatte man eine Spur gefunden, um Solayne und Vairocana aufzuhalten.
"Sind wir im Zeitplan?", fragte der Jüngere.
Der Ältere nickte. "Sie werden Vairocana aufhalten. Aber der Herr sagt, dass genug Wärme entstanden ist. Das Abyssarium ist erwacht. Ja, Erec, wir sind im Zeitplan."
"Dann hat es nun begonnen?"
Hrabanus nickte wieder. "Ja, das hat es. Der Herr ist zufrieden. Ich spüre ihn."
Die Brüder beobachteten, wie die Allianz die Ebene absuchte nach weiteren Flüchtigen, während die Kelten sich um die Verwundeten kümmerten.
"Wir können helfen", sagte Erec.
Und Hrabanus stimmte zu. Sie mischten sich unter die Kaplane, nickten Elyrio kurz zu, dann legten sie ihre Hände in das Gras - keine Wunde blieb zurück.

Baelon

"Nicht so hastig!", fuhr Baelon den Kaplan an.
"Verzeiht, Herr, aber wenn ich die Wunde nicht schnell reinige, könntet Ihr ein Fieber bekommen."
Und war das jetzt wichtig? Wenn diejenigen, die durch den Spiegel gegangen waren, keinen Erfolg hätten, dann würde es keine Rolle mehr spielen. Das Land würde brennen. "Nur weiter, Kaplan. Wie ist Euer Name?"
"Elyrio, Herr. Ich lebe am Blauen Turm. Nun, eigentlich nicht, aber ich bin dort sehr oft zu finden."
"Verstehe. Hoffen wir, dass es so bleibt", murmelte Baelon und betrachtete die Sonne, wie sie greller und wärmer wurde.
"Sie werden es schaffen. Ich kenne sie. Einigen begegnete ich damals im Norden. Dort sagte ich, ich würde eine Kirche bauen wollen. Aber es ist nicht dazu gekommen, obwohl die Götter es so wollen."
"Eines Tages, wenn sie uns wohlgesonnen sind, wie Ihr sagt, wird es geschehen. Wenn Ihr etwas brauchen werdet, so lasst es mich dann wissen, Elyrio."
"Ihr seid sehr großzügig, Lord Baelon."
Dann warf der Kaplan einen irritierten Blick durch die Reihen. "Was ist?", fragte Baelon.
"Nichts, schon gut. Ich dachte nur, ich hätte einen Geist gesehen..."
"Wen würde das noch wundern?"

Die Schatten aus der Anderwelt

Der Plan war vereitelt worden. Die, die keinen Namen hatten, sie waren wieder in der Quelle. Und die Sonne, sie brannte schrecklich. Die Schatten suchten Schutz unter tieferen Schatten, in schwärzeren Gefilden. Ein neuer Plan musste her. Niemand würde ihnen helfen. Sie hatten die Ketten zerrissen - den Pakt gebrochen. Und doch waren die Fesseln noch da. Sie schmerzten. Aber bald, ja, bald würden andere Schmerzen fühlen. Alle Last und alles Leid, das ihnen widerfahren war, sie würden es in die Welt tragen.
Wenn schon keine Rettung, dann wenigstens Rache!
Wäre nur das Abyssarium nicht. Als sie das altbekannte Krächzen unter Skjöldbur gehört hatten, da fuhr es ihnen in den Leib wie ein brennendes Messer: Sie waren zurück!

Lebanus

Die Hüter hatten eine schützende Blase um Brulund geworfen. Sie würde nicht mehr lange Bestand haben, aber wenigstens gab sie etwas Zeit, bis die Sonne durchbrechen würde. Zeit, die er mit seinem Sohn verbringen wollte; Zeit, ihm einen Namen zu geben.
"Was ist mit den anderen Lagern?", fragte Leif.
"Die Bewohner von Terra Brumalis haben sich in ihre Katakomben begeben. Viburna und Trollheim haben viele andere aufgenommen. Wer jetzt noch draußen ist, der steckt in Schwierigkeiten", antwortete Albertus.
Lebanus lauschte den Gesprächen, während er das Kind in den Armen hielt. Was für ein Name wäre angemessen? Und wie lange würde er gehört und gesprochen werden?
Immer wieder schaute er in das schimmernde Licht, das durch die Blase gebrochen und geschwächt wurde.
"Ich nicht wissen. Keinen Namen wissen", sprach er leise.
Kurz darauf erschien eine Gestalt in Brulund.
"Du?", fragte Ofeigur und griff nach einer Rune.
"Es gibt keinen Grund, mich jetzt noch zu fürchten. Ich bin, wer ich war", sagte der Mann.
"Wer bist du denn?", fragte der kleine Klabauter.
Als Lebanus den Namen hörte und wer dieser Mann war, traf er eine Entscheidung.

Eine Drohne

Der Käfer schlich durch die vielen Gänge. Es war nicht schwer, sich die Wege zu merken. Dass die Menschen diese Wesen hier unten als Meister der Tarnung und der Unterwelt betrachteten, verwunderte die Drohne. Die Gänge waren leicht zu entwirren und zu verstehen. Nur die Türme an diesem Ort, sie wirkten störend. Zu viele Türen und Fenster. Das musste man ändern.
Die Drohne war wie alle anderen dankbar dafür, dass ihre Königin geduldig war und ihre Geduld auf alle anderen übertragen hatte. Jetzt war endlich die Zeit gekommen. Sie hatten viel über die Menschen, Elfen und andere Völker gelernt, seit diese mit dem gleißenden Licht gekommen waren.
Jetzt war der Käfer hungrig. Zusammen mit den anderen lief er auf den großen Platz, wo die Soldaten die Krieger zusammengetrieben hatten. Die besten hob man für die Königin auf, dennoch gab es einige Leckerbissen, die man den Arbeitern und Soldaten gelassen hatte. Ein guter Tag war es, hier in Szithlin.

Elyrio

Bevor es zu warm sein würde, musste Elyrio unbedingt die Abtei erreichen. Er nutzte jeden Baum und jeden Fels, um der Sonne zu entgehen. Der Geist, den er auf dem Schlachtfeld glaubte gesehen zu haben, er ließ ihn nicht mehr los.
In der Abtei hatten sich die Menschen versammelt, um zu beten. Das erste Mal sprachen sie eher zu Leban als zu Liras, die Nacht möge endlich kommen. Elyrio sah den Abt unter den Betenden, kniete sich neben ihn und faltete die Hände.
"Ich muss Euch sprechen. Dringend."
"Jetzt, mein Sohn?"
"Ja, jetzt", flüsterte Elyrio.
"Was ist?"
"Ich glaube, ich habe Hrabanus gesehen."

Taynos

Trotzdem das Ende der Welt gekommen war, ließen die Tirinaither nicht von ihren Forschungen ab. Das gefrorene Insekt kühlten sie weiter mit Magie, alle anderen Experimente gingen weiter. Mithraniel wollte, dass alles seinen Gang ging. Trotz allem.
"Maynos, was ist das für ein Buch?"
"Baldor, Thelosch und Mithraniel fanden es vor langer Zeit unter dem Turm. Es enthält Informationen über diese Insekten. Sie herrschten vor Jahrtausenden. Und doch scheinen sie uns zu kennen."
"Seltsam."
"Das ist nicht alles. Das ist ein Gebetsbuch."
"Wer hat es geschrieben?"
"Unbekannt..."

Der stärkste Mann der Welt

"Ein guter Platz. Hier bleiben wir. Vorausgesetzt, die Sonne brennt uns nicht die Kundschaft ab", kicherte der Direktor.
Der stärkste Mann der Welt brummte etwas, dann nahm er die Befehle des kleinen Mannes entgegen und half dem Lungerer, die Zelte aufzubauen. Mystico indes entzündete die Fackeln - die Sonne war nun machtlos an diesem Ort.
Wie das alles funktionierte, das verstand der stärkste Mann der Welt nicht, aber Ramponius hatte ihm ein Heim gegeben und eine Aufgabe. Alles andere war nebensächlich.
"Schon Nachricht aus Marjastika? Es wird eng", murmelte der Direktor.
"Noch nichts", antwortete die alte Frau.
"Es wird werden."
Der stärkste Mann der Welt schritt über den Platz, half noch dort, wo man seine riesigen Arme benötigte, dann ging er zur bärtigen Frau und sprang über seinen Schatten: "Du wollen teilen Lager mit mir?"
Es wurde Abend, es wurde Nacht - die Weiße Sonne war verschwunden.
Sie alle nahmen es zur Kenntnis, aber überrascht waren sie nicht - immerhin wussten sie genau, was geschehen würde. Wann, wo, wie - der Wanderzirkus wusste immer alles.
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

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Beitrag von Meister » 14 Dez 2011, 16:36

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Ein Tagelöhner

"Ihr gebt mir so viel Gold? Was soll ich dafür tun, Herr?"
"Jemanden umbringen."
"Muss ein König sein", sagte der Tagelöhner grinsend.
"So etwas in der Art."

Taynos

Das Rätsel hatte sich gelöst: Die Aufzeichnungen über die Zeit des Abyssariums, Varathessa und den Krieg der Feenhüter - heute waren sie die Schatten aus der Anderwelt - stammten von Elyrio. Eine Zeitreise hatte ihn, Taynos und einige andere in die tiefe Vergangenheit der Welt gebracht. Und dort, im heutigen Seelenmoor, errichteten sie Elyrios Kirche - den Blauen Turm. Woher stammte das Licht? Was war es? Was war der Plan der Insekten, und wie konnte es sein, dass man sie all die Jahrhunderte nicht entdeckt hatte? Fragen über Fragen, die Taynos eines Tages beantworten konnte, wie er hoffte.
Doch jetzt standen sie immer noch ratlos vor dem eingefrorenen Insekt. Valertha hatte einige Proben genommen. Grundlegende anatomische Kenntnisse konnte man zwar gewinnen, aber die Tiefe der Materie blieb ihnen verschlossen. "Sie sind fast alle weiblich. Ich nehme an, dass die Männchen tatsächlich nach dem Akt sterben. Die Königinnen speichern den Samen über Jahrhunderte. Demnach muss es Abermillionen Exemplare geben. Arbeiterinnen, Kriegerinnen, einige Königinnen - vielleicht 100000 oder mehr", erklärte Valertha.
"Dieses Exemplar hier ist immun gegen verschiedene magische Effekte. Kälte, Blitze, Hitze und Feuer", ergänzte Keldos. Der Diener des Meeres half ihnen bei den Untersuchungen. Er wirkte seltsam fasziniert. Zwar kannte Taynos diesen Eindruck von Mithraniel, doch angesichts der Gefahr, die von den Kreaturen ausging, schien es Taynos ratsamer, weniger fasziniert als vorsichtig zu sein.
"Ihr mögt sie, nicht wahr?", fragte er Keldos.
Der schüttelte den Kopf. "Nein. Aber man muss zugeben, die Natur hat niemals Größeres hervorgebracht, nie Perfekteres. Sie passen sich vollständig an. Ein Wunder, dass erst die Weiße Sonne sie wecken konnte. Und genau da liegt der strittige Punkt: Ich sagte bereits, jemand hat dafür gesorgt."
"Aber wer?", fragte Elyrio.
Darauf hatte niemand eine Antwort. Aber Taynos fragte sich, ob die Diener des Meeres mehr wussten als Keldos zugeben wollte. Immerhin waren sie Forscher, immerhin taten sie dies eine halbe Ewigkeit. "Vielleicht gibt es ein Archiv Eures Ordens, in dem wir etwas dazu finden?"
Keldos schüttelte wieder den Kopf. "Wohl kaum. Im Krieg gegen die Dunklen Alten und Ecaltan wurden alle Archive aufgedeckt - nichts wurde dazu entdeckt. Ich vermute eher, dass das Buch der Legenden Blyrtindurs Antworten auf diese Fragen hat. Wo ist es?"
Dies wusste niemand.

Baelon

"Edailech eingenommen vom Abyssarium. Ich frage mich, wie das geschehen konnte. Es gab keinen Alarm, kein Signal, nichts", murrte Baelon, als Sir Allyen ihm die Neuigkeiten berichtet hatte.
"Wie es scheint, arbeiten diese Insekten mit einem Duftstoff, der den Gegner lahmlegt oder zur Flucht zwingt. Die Nordleute hatten keine Chance", sagte Allyen.
"Wie steht Lord Dryr dazu?"
"Er ist gewillt, den Ort anzugreifen. Was allerdings problematisch sein dürfte, nicht nur wegen der Duftstoffe. Es befinden sich noch Zivilpersonen im Ort, sie werden am Leben gehalten durch diese Viecher. Wir dürfen davon ausgehen, dass die Insekten ihre Geiseln töten, sobald sie angegriffen werden. Ich schlage vor, die Allianz einzuschalten. Ich hörte, dass sie mit ihren Golems experimentieren."
Baelon nickte knapp. "Ich werde mich in Kürze dazu mit Stomb und Brimir beraten. Es ist ja nicht unwahrscheinlich, dass diejenigen, welche die Golems lenken, beeinflusst werden könnten. Was wissen wir über die Nachschubwege dieser Bestien?"
"Alles unklar. Aber am Blauen Turm glaubt man, dass sie über unbegrenzte Truppen verfügen."
"Verstehe. Noch etwas?"
Sir Allyen nickte besorgt. "Ja. Nördlich von Nobs Stall gibt es einen Weiher, Ihr kennt ihn?"
"Natürlich. Mein Bruder und ich spielten dort in unserer unbeschwerteren Jugend."
"Kreaturen siedeln dort. Nach unseren Informationen handelt es sich um die sogenannten Schatten aus der Anderwelt. Ich habe mich erkundigt: Diese Wesen waren einst das, was man in der Anderwelt und im Tiefenwald Feenhüter nennt. Doch jetzt sind sie bösartig und verändert", erklärte Allyen.
"Das heißt? Wie wurden sie das, was sie jetzt sind? Was wollen die von uns?"
"Auch hier habe ich Erkundigungen eingeholt. Auf der Glasinsel erklärte man mir: Die Feenhüter kämpften einst gegen das Abyssarium - bevor die Welt uns Menschen und vorher die Elaya oder Zwerge sah. Dann begingen sie einen Frevel, und man bestrafte sie."
"Frevel? Was haben sie getan? Ist das etwas, womit wir arbeiten können? Ich möchte nicht mitansehen, wie das Reich von Rieseninsekten und schlecht gelaunten Anderweltlern auf der anderen Seite eingekreist wird. Die Jahre der Kriege, sie werden immer länger. Bald ist nicht mehr viel zu machen."
"In meinen Recherchen habe ich nur Andeutungen vernommen. Etwas, das 'Dybbuk' genannt wird, wurde von ihnen befreit. Es scheint, als würde die Anderwelt seit diesem Augenblick langsam sterben", antwortete Allyen.
"Dybbuk. Nie gehört. Was sagt denn die Abtei dazu?"
"Niemand kennt dieses Wort. Wohl aber habe ich auch Neuigkeiten hinsichtlich der Mönche Erec und Hrabanus. Sie waren beide einst in der Anderwelt. Ungewöhnlich, nicht wahr?"
In der Tat war das ungewöhnlich. "Hat sich Ascanio mittlerweile dazu geäußert, warum er beschlossen hat, sich diesen Gestalten anzuschließen?"
"Nun, er hörte wohl damals auch die Geschichte, wie Erec und Hrabanus in eine Höhle stürzten und durch ein Licht gerettet wurden. Muss ihn überzeugt haben..."
"Ich frage das, Sir Allyen, weil die Berichte, dass sich mehr und mehr Menschen den beiden anschließen, sich häufen. Ebenso Geschichten, wie sie Lahme zum Gehen und Blinde zum Sehen gebracht haben sollen. Ich möchte, dass man sie beobachtet."
"Ja, Mylord."

Ulfgar

"Nicht aufzufinden? Wo treibt sich Pentagast herum, ich will es wissen!", brüllte Ulfgar von Roglund, sodass der Diener zitterte.
"Ja, Herr. Und... Herr?", fragte er vorsichtig.
"Ja, was ist?"
"Jemand möchte Euch sprechen. Sein Name ist Erec."
"Kenne ich nicht. Soll sich einen Termin geben lassen."
Der Diener schluckte. "Es ist ein Mönch der Abtei."
"Selbst die Götter kennen ZEIT. Und ich habe gerade wenig davon, sag ihm das und verpiss dich!"
"Jawohl, Mylord."
Ulfgar knurrte. Die Dinge liefen gerade nicht zu seiner Zufriedenheit. Zwar hatte er schon viele Magier in seinen Kellern, aber der richtige war ihm noch nicht untergekommen. Pentagast könnte ihm helfen, aber der hielt es wohl nicht für nötig, sich blicken zu lassen. Und dann auch noch die Anordnung der Königin, dass alle Vasallen ihre Truppen bereithalten sollten, um notfalls gegen diese Insektenplage vorzugehen. Was scherte es Ulfgar, dass die Nordleute zu schwach waren, ihr Protektorat Edailech zu verteidigen? Das war doch wohl eher Elyarns Sorge und nicht seine. Nein, Ulfgar hatte ganz andere Pläne.
"Lord Roglund. Danke, dass Ihr mich empfangen wollt", sprach eine leise Stimme.
Ulfgar fuhr herum. "Was?"
Da war ein Mönch, vielleicht 25 Jahre jung. "Die Götter zum Gruße, Herr."
"Ich glaube, ich habe mich missverständlich ausgedrückt, ja?", knurrte Ulfgar.
"Dies vermag ich nicht zu sagen. Ich bin nur hier, um kurz einige Worte mit Euch zu wechseln."
Ulfgar wollte ihn gerade packen und einmal kräftig rütteln, aber etwas Unbekanntes, das er nicht greifen oder benennen konnte, ein seltsames Gefühl, hielt ihn davon ab. "Was gibt es?"
"Mein Name ist Erec. Ich weiß, was Ihr tut."
"Wie meinen?"
"Ulfgar, ich weiß, was Ihr tut. Lasst Gnade walten und besinnt Euch, oder der Zorn Lebans wird Euer Herz zersplittern lassen", sagte Erec, und seine Stimme erhob sich kein einziges Mal.
Im Normalfall hätte Ulfgar einen solch dreisten Burschen erschlagen, aber er konnte nicht. "Warum sagst du mir das, Mönch?"
"Weil nichts stärker ist als das Licht."

Argus

Der Lebaner schritt durch Terra Brumalis. Der Dolch war verschwunden. Seine Nachforschungen hatten das ergeben, was er schon vermutet hatte: Diese Leute, allen voran der Bruder Lady Hlifas, hatten ihn entwendet und vermutlich der Hexe übergeben. Das musste Konsequenzen haben, gleich ob der Dolch einen Wert hatte oder nicht. Es durfte nicht sein, dass Zivilpersonen sich in die Belange des Reiches einmischten! Er befahl, eine Nachricht für die Königin aufzusetzen.
"Leutnant?"
"Ja, was ist?"
"Jemand möchte Euch sprechen. Es handelt sich um Prinzgemahl Aurelion."
"Ich erwarte ihn unten im Gewölbe, dort können wir in Ruhe sprechen. Sagt ihm das."
Aurelion. Hier? Was trieb denn die hohen Herrschaften auf die Insel? Galt Blyrtindur nicht als das Ende der zivilisierten Welt? Selbst Aran hatte den Posten des Anführers der Kolonie für eine Verlegenheitslösung gehalten. Wer würde sich freiwillig in diese Wildnis begeben, gegängelt von Viburna und Trollheim, bedroht von den Drow und ausgerechnet auf der Hauptquelle sitzend, dem Ort, den jeder Wahnsinnige und jeder Tyrann besitzen wollte?
Als Argus das Gewölbe erreichte, hatte man Aurelion, der in einfacher Kleidung und bewaffnet gekommen war, ohne Gefolge, bereits einen Krug Wein und etwas Brot angeboten. Der Prinzgemahl erhob sich. "Grüße, Leutnant Argus."
Argus salutierte. "Leban mit Euch, Prinz Aurelion. Es ist eine Ehre Euch zu sehen, wenn auch ungewöhnlich."
Aurelion schmunzelte. "Schon gut. Setzen wir uns. Ich dachte mir, ich sehe mal, wie es der Kolonie ergeht und ob Ihr etwas benötigt."
Das wäre nun eine Gelegenheit, dem Königshaus die Angelegenheit mit dem Dolch zu erklären. Aber vorher wollte Argus etwas anderes wissen: Der Prinz oder ein anderer des hohen Hauses würde niemals einfach hierher kommen, um einen Plausch darüber zu halten, wie man sich hier fühlte. "Es geht uns ausgezeichnet. Schon seit einigen Monaten hat niemand mehr versucht, den Ort in Schutt und Asche zu legen oder die Quelle zu erreichen", sagte er dann, zynischer als er es wollte.
Aurelion aber schien ihm das zu vergeben. "Ich weiß, dass es schwierig ist. Aber Brumalis wollte weitgehend unabhängig sein. Das bedeutet natürlich auch, dass es für sich allein sorgen muss. Doch wenn es an Hilfe mangelt, lasst es mich wissen."
"Nein, wir sind versorgt. Viburna und Trollheim sind gut zu uns", sagte er ironisch.
"Ich verstehe. Und es gibt ja auch die Hüter, nicht wahr?"
Hier hingegen war die Antwort deutlich. "Ja."
Wenn er nicht bald sagen würde, warum es ihn hierher verschlagen hatte, müsste Argus wirklich nachfragen. Aber Aurelion ersparte ihnen diesen Moment. "Ich will ehrlich sein, Leutnant, es gibt einen speziellen Grund, warum ich hier bin."
"Bitte, sprecht."
"Ich muss Euch dazu sagen, dass ich Stillschweigen erwarte. Auch im Königshaus wurde dieses Thema noch nicht diskutiert."
Schweigen, das konnte er. "Ich schwöre es bei Leban."
"Ich nehme an, Lord Caldorvan ist Euch ein Begriff?"
"Es ist Euer Vater. Und auch Lord Arans Vater."
"Während die Weiße Sonne, Vairocana, tobte, versteckte er sich im Untergrund. Aus naheliegenden Gründen."
"Die Hitze hätte den Untoten zerfetzt, ja", sagte Argus trocken.
"Und sicher sind Euch die Legenden Blyrtindurs ein Begriff?"
"Ja, natürlich. Ihnen verdanken wir einige Bedrohungen, wie zum Beispiel Lazarus oder die Finsternis. Aber, mein Prinz, vielleicht sagt Ihr mir, was Euch beschäftigt? Eure Fragen sind jedenfalls kein Staatsgeheimnis, wenn ich das so sagen darf."
Aurelion nickte. "So ist es. Die Legenden Blyrtindurs bedrohen aber nicht nur die Insel selbst, sondern in regelmäßigen Abständen auch das Festland. Das Reich. Die Königin."
Argus traute Aurelion mehr zu, als sich nur um sein Eheweib zu sorgen. "Eure Ehefrau."
"Es geht mir nicht darum", sagte Aurelion lächelnd, "es geht mir um alle Bewohner und Freunde des Reiches."
"Ich verstehe. Ja, tatsächlich scheinen die Bedrohungen sich nicht nur zu häufen, sondern ebenso stärker und stärker zu werden."
"Ich habe Caldorvan hierher geschickt, um dem ein Ende zu machen."
"Was...?"
"Ja. Ich beschloss, dass mit einem Versinken oder Zerstören der Insel auch ihre Legenden endlich Geschichte werden könnten. Aber ich irrte mich."
"In welcher Hinsicht?", fragte Argus, nun nicht ohne Sorge.
"Caldorvan fand etwas heraus. Jemand... oder etwas... hat bereits das Ziel, genau dies zu tun."
Na, das wäre nicht der erste Versuch, dachte Argus. "Und wer ist es nun?"
"Ich habe keinen Namen dafür. Aber es gibt eine Art Licht. Purpurn, vielleicht rot. Ist es hier irgendwo erschienen?"
"Nein, ich weiß darüber nichts. Aber ich werde mich bei den anderen Völkern erkundigen. Doch... verzeiht, wie kann ein Licht uns schaden?"
"Nicht das Licht. Sondern das, was dahinter ist. Es steht fest, dass es geschehen wird. Ich sehe nichts, was es verhindern kann."
"Woher nehmt Ihr dieses Wissen, Prinz?"
"Ich fand ein Pergament. Genauer, es war eine Abschrift. Wollt Ihr es lesen?"
Nachdem Argus die Zeilen gelesen hatte, verstand er vollkommen. "Wie groß ist unser Zeitfenster? Wir müssen hier alle weg."
"Ich werde Euch erneut kontaktieren. Bis dahin kein Wort davon. Nur die Hüter werden es erfahren. Das wird Eure Aufgabe sein, sobald Ihr meine Nachricht dazu erhalten habt."
"Jawohl, mein Prinz."
Sie tauschten sich noch etwas aus, dann verließ Aurelion den Ort. Argus hingegen blieb noch eine Weile allein im Gewölbe. Alles, was sie aufgebaut hatten, dazu die Unabhängigkeit, es würde also bald in den Fluten versinken. Wie konnte Blyrtindur es zulassen? War alles, was man glaubte zu wissen, all die Macht, am Ende nur eine Lüge?
"Worte", knurrte Argus und sah in die schwarze Einsamkeit.
"Worte", flüsterte eine Stimme.
Schnell fuhr der Leutnant herum. In der Dunkelheit blitzte eine Klinge auf, durchbohrte seinen Hals. Argus schmeckte sein Blut, wie es langsam seine Kehle ertrinken ließ. Dann fiel er zu Boden und schloss die Augen.

Die Herrin der Schlangen

Zuleikha spürte, wie ihre Brustwarzen sich aufrichteten, als der Bursche, der ihren Tanz gesehen hatte und noch nicht gehen wollte, mit der Zunge ihre Schenkel entlang fuhr, um dann mit vorsichtigen Griffen ihre Beine zu spreizen. Er küsste ihr Geschlecht und flüsterte immer wieder, wie sehr er sie liebte. Natürlich erwiderte die Schlangentänzerin die leeren Worte, wie es sich gehörte. Dann führte er sein Gemächt endlich in ihre Weiblichkeit und befriedigte die Hun. Leider waren die meisten bretonischen Männer nicht sehr ausdauernd und geschickt, aber sie war schon immer eine gute Schauspielerin gewesen und stöhnte brav. "Das war schön, nicht wahr?", fragte der Tölpel.
"Ja, das war es", flüsterte Zuleikha.
Ob er die Antwort noch hörte, wusste sie nicht, denn er schnarchte kurz darauf. Ach, dachte sie, hab ich den Jüngling wirklich so beansprucht oder hab ich ihn gelangweilt? Sie kicherte leise.
Mystico riss den Vorhang zur Seite. "Er will dich sehen. Wirf den Jungen hinaus. Und vergiss nicht, was wir sind."
Zuleikha gehorchte und weckte den Knaben auf. Sie erklärte ihm, er müsse nun gehen, aber sie würden sich sicher bald wiedersehen. Er gehorchte auch.
Ramponius erwartete die Tänzerin in seinem Zelt. "Mir ist aufgefallen, liebste Zuleikha, dass du dich für die Leute interessiert hast, die kürzlich hier waren. Du weißt, wen ich meine."
"Ja, ich weiß."
"Wenn sie wieder hier sind, schaffe Vertrauen. Ich habe den Eindruck, dass sie mir nicht abnehmen, was wir hier tun und dass sie uns gerufen haben."
"Warum ich?"
"Na, du weißt schon. Du und die Männer", sagte er zwinkernd.
Sie nickte. "Ja, ich und die Männer. Ich werde tun, was du mir sagst."
"Zuleikha, du musst unsere Lage verstehen. Vergiss nicht, was wir sind. Du hast dir selbst diesen Körper ausgesucht."
"Ja, ich weiß", wiederholte sie.
"Sie werden nach Dybbuk fragen. Kein Wort dazu. Es ist noch zu früh. Wir dürfen nichts riskieren. Sag ihnen alles, was du willst, aber sprich nicht darüber. Und dann zeigen wir ihnen den Schatz. Es wird sie freuen."
"Gut."
Zuleikha erinnerte sich an die alten Tage, bevor sie den Zirkus das erste Mal gesehen hatte. Ihren wahren Namen hatte sie schon vergessen, so lange war es her. Aber den Frevel, sie würde ihn nie vergessen. Genau so, wie sie stets an die Frau dachte. Und an Dybbuk.
Ihr wurde auf einmal sehr kalt.

Die Schatten aus der Anderwelt

Wo sie auch suchten, Dybbuk war nicht zu finden. War er es nicht gewesen, der so lang geschrien und geklagt hatte, bis sein Leid sie in ihre Träume verfolgt hatte? Und war er es nicht, der schon vor langer Zeit, bevor man sie bestraft hatte, die Wiederkehr des Abyssariums prophezeit hatte? Warum schwieg er nun? Wo war Dybbuk? Das Licht: er war nicht dort. Der Stock: er war nicht dort. Allmählich glaubte Antrylacos, dass er in der Gewalt der Menschen war. Eine andere Erklärung gab es nicht mehr.
"Herr", grunzte ein Gnoll.
"Sprich, General."
"Es gibt ein weiteres Tor. Es ist aber schwer zu erreichen."
"Wo?"
"Wilderberg, so nennen die Menschen den Ort."
"Schickt einen Gesandten."

Erec

Auf seinem Weg in den Norden erreichte er den Eisenwall. Ein kurzer Blick über die Menschen dort, dann erkannte er ihre Not: Es war die Furcht vor dem Abyssarium, das bereits Edailech eingenommen hatte. Erec hoffte, dass die Anderweltschatten sich besinnen würden auf ihre alten Tugenden und Pflichten. Sie waren die einzige Möglichkeit, das Schrecknis der alten Zeit zu vernichten. Er hatte sie nur aus diesem Grund befreit.
Aber um die Welt zu verändern, ihr Frieden zu bringen, müsste er noch mehr tun. Vielleicht das größtmögliche Opfer bringen. Er erinnerte sich an das Licht, das er und Hrabanus gefunden hatten:
Ihre Eltern waren durch die Unruhen, die nach dem Tod des Penthos das Land heimgesucht hatten, in das Reich der Götter gegangen. Erec und Hrabanus irrten seitdem durch die Lande, verfolgt von Räubern, feindlichen Soldaten und der Wildnis selbst. Eines Tages hatten sie es geschafft, eine größere Menge Brot und Fleisch zu stehlen. Zufrieden lachend stolperten sie auf den Weg, der die Kernlande mit der Ebene verband. Ein Schritt folgte noch, da stürzten sie in die Tiefe. Erec spürte noch den knarrenden Schmerz im Fußgelenk, dann schlug sein Kopf auf das Gestein, und er schloss die Augen.
Seltsame Musik weckte ihn auf. Er sah Hrabanus, wie er das Fußgelenk mit feuchten Steinen kühlte. "Wir werden es schaffen. Hörst du die Musik, siehst du das Licht?", fragte er.
"Ja. Ich sehe es." Da war ein Licht, so hell, dass es nur von den Göttern kommen konnte. Es zeigte auf eine Stelle oben im Fels. "Ich rette dich, Bruder", sagte Hrabanus, bevor er aufstand, den seltsamen Stab musterte, der die Lichtstrahlen aussandte und schließlich die Spieluhr öffnete. Die Glasfrau war unbeschädigt. Es war ihr einziger wirklicher Besitz.
Hrabanus zeigte auf den Fels, der sich durch das Licht spaltete und den Weg hinaus zeigte. Die Stimme der Götter war zu hören, als der güldene Schein erst seinen Bruder und dann Erec berührte. Beide schienen nun ihr Schicksal zu kennen. "Wohin gehen wir nun, Hrabanus?"
"Zur Abtei. Wir wollen dienen."
"Ja."
Sie verschlossen den Eingang mit Gestein und Erde. Hrabanus warf noch einen Blick durch den letzten Spalt, lächelte, dann schloss er auch diesen.
Heute. Erec hatte keinem davon berichtet. Das hatten sie einander geschworen. Diese Höhle sollte ihr Geheimnis bleiben. Dass nun andere davon erfahren hatten, war traurig, aber er glaubte daran, dass sie seinen Wunsch respektieren würden.
Als er die Bergkette zwischen dem Wall und Edailech erreichte, schaute er auf den Ort. Die Insekten hatten einige Menschen als Nahrungsquelle am Leben gehalten, und alle Wachen waren geflohen. "Eines Tages werdet ihr erkennen, dass der Abgrund den Abgrund ruft", flüsterte Erec, bevor er seinen Weg über die Brücke und Tilhold fortsetzte. In Nordstein sah er einen weinenden Jungen. Der Kleine hatte einen Pferdefuß und wurde von anderen verspottet.
"Lachet nicht, denn eines Tages mag euch dasselbe Elend treffen. Wünschet ihr nicht, dass man euer Leid sieht und mit euch weint?", fragte Erec. Die Burschen verschwanden.
"Danke, Herr", flüsterte der Junge.
"Dank nicht mir. Dank den Göttern, dank dem Herrn."
Er berührte den Fuß des Jungen.
"Du kannst nun gehen."

Die Irrsinnige

Da war das Tor. Oder war es dort nicht? Sie humpelte durch das dichte Gras, fern der Wege. Wo war sie nur, die liebe Frau? Und wo war er nur, wo war ihr Sohn? Sicher flog er mit den anderen Tauben davon.
Da war es, das Tor. Hinein, hinein, schrie eine Stimme in ihren Schläfen. Sie war brav und folgsam.
Die Irrsinnige erreichte das Tor und roch salzige Luft. Hier war es bestimmt, das goldene Kraut, ja, bestimmt!
Die Arme eines Dämons packten sie.
Die Irrsinnige aber sah das Schönste, was sie je gesehen hatte: Liebe.

Die Weise

Die Druidin lag neben ihren Kriegern im Gras. Das Dickicht bot ihnen allen Schutz, während sie die Klippen, die Serpentinen und die Ruine auf der Spitze des Berges beobachteten. Die Sterbewelt war das, was ihnen geblieben war. Und wie sie die Däumlinge vermissten, wie sie stets an Ramponius dachten.
Sie schüttelte sich. Die Gegenwart, so dunkel sie war, war alles, was zählte. Das Dybbuk hatte in der Nähe die Trophäen versammelt - jene, die es nicht verhindern konnte. Lästig musste es für das Dybbuk sein, aber für die Druidin und ihr Gefolge war es eine Spur gewesen.
"Interessante Strategie, sie hierher zu bestellen", flüsterte einer der Krieger.
"Ja. Sie kommen bald hier an. Das macht es jetzt schwieriger."
Die Insekten erkletterten den Fels. Es hatte ihnen wohl befohlen, die Lebenden zu erwarten. Die Druidin war schon lange tot, aber in diesen Momenten spürte sie ihren Herzschlag sehr deutlich. Zuletzt war das so, als sie ihr Kind verlassen musste.

Der Jäger

Jetzt war das Wort gesprochen worden. Er hatte wirklich gehofft, die Skjöldburer nicht in diese Dinge zu verwickeln. Aber die Schatten aus der Anderwelt hatten sie schon angegriffen, und der Riese war hier gewesen. Vielleicht war es so gewollt, dass sie nun alles erfahren sollten. Belcarnus würde ihnen erklären, warum Erec sterben musste und was das Dybbuk war.
Vor allem, was es tun würde. Ja, vielleicht war es der Wunsch der Druidin, dass er Verbündete unter den Lebenden suchte.

Der Tagelöhner bekommt seinen Sold

"Gute Arbeit, mein Freund."
"Wie... wie geht das?", fragte der Tagelöhner entsetzt, als er den sah, der ihn bezahlen sollte. Der Zahlende lachte leise. Wie dumm sie waren, dachte er sich.
"Hier, dein verdienter Lohn", flüsterte er, nahm den Kopf des Tagelöhners und brach ihm das Genick. Der Zahlende verließ das Gewölbe, den Ort und ging nach Brulund.

Im Stock

Die Königinnen versammelten sich und riefen ihre Krieger zusammen. Man beriet sich. Krächzende Laute, Nicken, verschiedene gedankliche Ratschläge und auch Düfte erfüllten die Versammlung des Abyssariums. Am Ende hatte man sich für einen Sprecher entschieden. Einer, der den Zweibeinern erklären würde, warum das Ende ihrer Herrschaft gekommen war.
Aber wo war der Heilbringer aus dem Licht? Warum antwortete er nicht?

In Brulund fragt jemand nach Aurelion

Lebanus kehrte von der Jagd zurück. Er begrüßte seinen Sohn Beshar und die Hüter. Liurroccar hatte bereits das Gemüse geschnitten, und Heron kümmerte sich nun darum, das Fleisch zuzubereiten. Lebanus genoss den Frieden. Alles war gut.
Leif schaute auf, einige Männer griffen zu den Waffen, als eine einsame Gestalt das Lager erreichte. "Schon gut, wir kennen ihn."
"Verzeiht die Störung. Ich hatte kürzlich Besuch... von Prinz Aurelion. Kam er hier durch? Ich habe noch eine Frage an ihn."
"Er war nur kurz hier, Leutnant Argus."
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

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Beitrag von Meister » 28 Dez 2011, 15:56

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Der weise Mann

Körper und Geist zu trennen, dies erforderte höchste Konzentration. Der weise Mann saß unbekleidet, schlaflos und hungrig seit Jahrhunderten auf demselben Stein, bis er endlich das Licht sah, welches die anderen als Erleuchtung bezeichneten. Ohne Geist erhob er sich, schaute auf die Berge und Flüsse Yaruns, lächelte.

Ulfgar

In den Tagen, die seiner Begegnung mit dem Mönch Erec folgten, fühlte Lord Roglund die Ahnung, dass sein Plan durchschaut worden war. Woher Erec davon wusste und erfahren konnte, wollte ihm nicht aufgehen. Würde er diesen Mann töten lassen, es fiele früher oder später auf ihn zurück. Man würde Fragen stellen, die er irgendwann nicht mehr beantworten könnte; eines Tages stünde man vor seiner Türe, und die Wahrheit käme ans Licht. Auch spürte er Furcht - immer dann, wenn er versuchte, eine Lösung für sein Problem zu finden, die mit Erecs Tod enden würde. Es gelang ihm nicht, auch nur einen klaren zielführenden Gedanken zu fassen.
Die Keller, bewohnt von den Zauberkundigen, die er dort folterte und für sein Endziel vorbereitete, musste er meiden. Tat er nur einen Schritt auf die dunkle Treppe, die in das Gewölbe führte, sah er den Mönch vor seinen Augen, eingerahmt in ein Licht, das von den Göttern selbst kommen musste. So schlief er nicht, saß allein im großen Saal und wartete. Pentagast schien unauffindbar zu sein - oder zu beschäftigt mit den eigenen Plänen - und seine Soldaten warteten mit ihm. Auf den Befehl, den Plan in die Tat umzusetzen. Aber da war dieser Mönch, der es nicht erlaubte. Woher kam diese Macht?
Ulfgar trank viel. Als er eines abends benebelt vor den Gemälden seiner Ahnen saß, jenen, die erfolgreicher waren als er, spürte er einen kalten Hauch. Das Fenster schlug auf, aber nicht vom Wind: Da war ein Mann. Er stand im Halbschatten der Vorhänge und war nicht zu erkennen.
"Wer da?", fragte Ulfgar leise.
Ein Flüstern. "Ein Freund."
"Ich habe zu tief in meinen Krug geschaut, das ist wohl alles. Ist es das nicht, genügt ein Ruf, und meine Soldaten werden Euch in die Finsternis peitschen, Eindringling."
"Wir sind Verbündete. Ich kann dir helfen, Ulfgar."
"Helfen? Womit? Wer bist du?"
"Es ist unwichtig, wer ich bin. Aber wenn ich dir helfe, den Mönch zu vertreiben, willst du dann auch mir helfen?", fragte die schwarze Gestalt.
"Es kommt darauf an."
"Was sind deine Bedingungen, Ulfgar?"
"Zeige dich."
Die Gestalt trat näher, damit das Kaminfeuer sie sichtbar machte. "Wie glaubst du, mir helfen zu können?", fragte Ulfgar.
"Ich will es dir erklären."
Nachdem der Kelte seine Bedingungen geschildert hatte, stellte Ulfgar den noch vollen Krug das erste Mal an diesem Abend zur Seite. "Was soll ich tun?"
"Nichts. Überlasse alles mir."

Sven, ein Hafenarbeiter

Den Leuten oben in Tilhold ausrichten, dass ein Kerl namens Belcarnus eingetroffen war, das dürfte nicht zu schwer sein. Nur der Name, den ließ sich Sven besser aufschreiben. Viel zu lang. Namen mussten kurz und knapp sein, alles andere war doch nur was für Weiber und Bretonen.
Sven arbeitete erst ein paar Monate in der Werft im Norden, seit ihm seine Kuh wieder einmal entlaufen war und wahrscheinlich gerade in einem dunklen Wald ein paar harmlose Wanderer angriff. Er hatte genug von diesem Ungeheuer - dann lieber hier ein paar ehrliche Münzen verdienen und nicht ständig diesem Viech hinterherlaufen und anderen erklären zu müssen, dass man nicht jede Kuh einfach füttern oder streicheln durfte. Manchmal glaubte er, einer dieser Dämonen, von denen die bretonischen Priester erzählten, wäre in sein Tier gefahren. Ja, Sven war froh, sie vergessen zu können.
"Hoffentlich kommt sie nie wieder", murrte er in seinen Bart, während er ein Schiff am Steg verteute.
Fenthros war bestimmt schon wieder auf der Rückreise. Er beneidete die Leute in Skjöldbur. Sie hatten es geschafft, hatten diesem Land den Rücken gekehrt und waren wieder in der Heimat. Eines Tages würde er auch zurückkehren, ganz bestimmt.
Nachdem er alles fest verknotet hatte, trank er einen Schluck aus dem Wasserschlauch, den er mit etwas Schnaps versetzt hatte. War ja auch mächtig kalt geworden in den letzten Tagen. "Na, dann wollen wir mal. Ist sicher etwas Met drin für mich", murmelte er, als er nach Tilhold aufbrechen wollte.
"Liras zum Gruße, Sven."
Er hielt inne und bemerkte einen Mönch. "Na, Thor mit dir, Bretone. Woher weißt du meinen Namen?"
"Na, es spricht sich herum: Du bist doch der mit dem wirklich arglistigen Haustier, nicht wahr?"
"Haustier? Das Viech ist eine Bestie. Glaube mir, da kann dir dein Liras auch nicht mehr helfen, wenn die mit dir fertig ist. Also, was willst du? Ich habe nicht viel Zeit, habe noch was zu erledigen."
Der Mönch fasste Svens Schulter und lächelte. "Natürlich will ich nicht viel von deiner Zeit stehlen. Lass mich nur etwas fragen, ja?"
"Na, mach schon, frag."
"Ahura Mazda?"
Sven verstand kein Wort. "Hä?"
"Ahura Mazda, schonmal gehört?"
"Nein, glaube nicht. Bist du besoffen oder so? Warum soll ich was darüber wissen? Wer bist du eigentlich?"
Der Mönch schüttelte den Kopf. "Ich wollte dich nicht belästigen, verzeih' mir."
"Na, schon gut", meinte Sven argwöhnisch, "aber jetzt muss ich weiter."
"Wohin geht es denn?"
"Tilhold. Willst du auch da hoch? Vielleicht hat da oben einer deinen Kumpel Ahura gesehen."
"Gibt es dort oben weise Männer deines Volkes?"
"Auf jeden Fall ein paar alte Männer. Ein paar davon sind vielleicht auch weise", antwortete Sven mit einem Schmunzeln.
"Ja, gewiss. Warum also nicht? Hast du viel zu tun dort oben oder meinst du, wir könnten uns noch etwas unterhalten?"
"Ach was. Da kommt nur so ein Kerl bald an. Irgendein Kelte namens Belcarnus. Das sollen die da oben wissen."
"Ach, wirklich?"
"Ja, kennst du den etwa? Wäre ja verrückt. Andererseits sagt man ja, die Welt ist ein Dorf, was?"
Der Mönch nickte. "Ja, so sagt man es. Weißt du, ich habe einen Vorschlag: Ich werde das für dich erledigen und dann komme ich wieder her. Für dich hat es den Vorteil, dass du dir den Weg sparst. Ich bringe auch Met mit."
Das erschien Sven sehr einleuchtend. "Einverstanden."
Der Mönch nickte erneut und lief dann nach Norden. Schon eine halbe Stunde darauf hatte Sven die Begegnung vergessen. Der Name des Kelten wollte ihm auch nicht mehr einfallen. Etwas später wusste er von diesen Dingen gar nichts mehr.

Antonia

Die Irrsinnige atmete die kalte Luft ihres Kerkers. Die Insekten hatten sie entdeckt, dann einige ihrer seltsamen Stacheln in ihren Leib gestoßen, ihr Blut getrunken, und dann hatten ihre Augen seltsam geleuchtet. Jetzt noch spürte sie, wie ihre Gedanken leerer wurden. Es war, als hätten diese Wesen ihr Wissen genommen.
Ach, wäre Dybbuk nur bei ihr. Er könnte sie retten. Aber vielleicht war er auch enttäuscht von ihrem Verhalten? Immerhin hatte sie viele Andeutungen gemacht und herausgefunden, was ihr helfen würde, endlich wieder klare Gedanken fassen zu können: Sie war diesem Mann begegnet, und er hatte ihr davon erzählt. Immer wenn sie an ihn dachte, dann sah sie ein Licht, so hell und gütig wie die Götter selbst. Vielleicht würde er kommen, um sie zu retten?
Plötzlich verschwand wieder die Wand, und eine Drohne packte ihren Arm, zerrte sie hinaus. Larven kletterten auf ihren Körper, während sie gehalten wurde. Die kleinen Würmer bohrten sich in ihr Fleisch, verspeisten etwas davon und krochen dann wieder in die schützenden Kokons. Es tat kaum noch weh. Die Zeit, sie verging in Windeseile, und gleichsam war es wie die Ewigkeit. Man hatte sie zurückgelassen und betrogen. Dies hier war der Preis für ihre Leichtgläubigkeit.
Die Irrsinnige versuchte, sich an die Gebete zu erinnern, die sie als Kind gelernt hatte. Aber es wollte ihr keines einfallen. Es war, als hätten diese Insekten ihr Innerstes ausgesaugt. Wie ein leeres Herz, das eben noch mit Lebenssaft gefüllt und nun wie ein leerer Kartoffelsack in einer dunklen Ecke lag, richtete sie sich wankend auf und hielt sich an einem Stein fest. Die Insekten umkreisten sie, manche schnappten nach ihr. Aber keines rührte sie wirklich an. "Warum lasst ihr mich leben?", fragte sie.
Dann sah sie ein Licht.

Die Schatten aus der Anderwelt

Der Befreier hatte sie zurückgehalten. Wäre er nicht gekommen, sie hätten die Festung Wilderberg bis auf den letzten Stein vernichtet, um in die Tiefe steigen zu können, um Dybbuk zu finden - jener, den sie so sehr liebten. Sie hassten die Welt, die Anderwelt und alles, was lebte. Aber Dybbuk liebten sie umso mehr.
"Was soll nun geschehen?", grunzte der Gnoll.
Antrylacos hob die Arme, und die Ketten rasselten. "Der Befreier wünscht offenbar eine andere Lösung. Er wird wollen, dass wir gegen den alten Feind kämpfen. Doch selbst er kann es nicht von uns verlangen! Wie lange haben wir gegen sie gekämpft, und wie vergeblich war unser Krieg? Nein, wir fügen uns nicht mehr. Findet das Buch und bringt es uns!"
"Ja, Herr."
Antrylacos öffnete einen Schleier, und die Gnolle passierten das wabernde Tor, bis es sich nach dem letzten Krieger wieder verschloss.
Die Ketten wogen immer schwerer. Der Ruf Dybbuks hatte sie dazu gebracht, ihn zu befreien. Zwar war die Folge gewesen, dass sie nun all dieses Leid bis heute zu ertragen hatten, aber nichts war bedeutsamer als sein Lied und sein Licht. Und so war auch das Licht ihr Ziel. Nur im Buch standen die Geheimnisse und Taten, die sie dafür zu vollbringen hatten.
"Wir wollen wieder leben", flüsterte er.
Die anderen stimmten ein, bis der ganze Weiher von ihrem Ruf erfüllt wurde.

Vor 500 Jahren

Moricantus beendete sein Werk. Als er den letzten Punkt an das Ende der letzten Zeile des letzten Kapitels gesetzt hatte, lehnte er sich zufrieden zurück. Sein Assistent kam herein und reichte ihm einen Krug Wein.
"Danke, Palomides. Du bist sehr gut zu mir."
"Es ist meine Aufgabe, Meister."
"Du musst mich nicht so nennen. Wir kennen uns schon viele Jahre. Darum widme ich die Dynamik dir."
"Meister, das ist eine sehr große Ehre - und nicht nötig. Ihr habt bereits den binomischen Lehrsatz mir gewidmet. Die Anhänger des Pytharas haben ihn gestohlen. Bitte, widmet es einem anderen."
"Die Dynamik des Asteroiden ist dir gewidmet, mein Freund. Ich werde daran nichts mehr ändern."
Moricantus trank einen Schluck Wein. "Bitte, setz dich."
"Danke, Meister. Darf ich Euch eine Frage stellen?"
"Natürlich."
"Habt ihr die Formel entdeckt?"
"Das Spektrum ist vorbereitet, ja."
"Das ist großartig."
Moricantus klopfte seinem Schüler auf die Schulter. Seit er ihn als Waisen vor der Türe eines Klosters gefunden hatte und ihn eilig mitgenommen hatte, weil er und seine Ehefrau keine eigenen Kinder hatten, war er bei ihm geblieben. Fast wäre Palomides erfroren. Nun war er der beste seiner Schüler, wissbegierig, klug und sehr schnell darin, die großen Zusammenhänge zu verstehen.
"Du wirst mir nachfolgen, wenn meine Zeit gekommen ist, mein Junge."
"Nein."
Moricantus verstand nicht. "Nein? Seit vielen Jahren bereite ich dich darauf vor. Du hast nie etwas anderes gewollt, oder?"
"Niemand folgt Euch nach, Vater."
Bevor Moricantus eine weitere Frage stellen konnte, spürte er ein Kribbeln in der Brust, als würden Blitze durch seine Adern zucken. Dann lächelte er zufrieden und verstand Palomides' Worte, als dessen lebloser Körper vor ihm lag - bereit, gefressen zu werden.

Vor 800 Jahren

Die Sandstürme zogen endlich vorüber, und die Krieger Ahurs sammelten sich vor dem Tempel. Die Plagen hatten ihre Spuren hinterlassen, und doch schien es ihnen, als würden sie nicht den Worten in den prophetischen Schriften entsprochen haben. Es war nicht das Ende der Welt, sie alle waren noch hier.
"Durchsucht die Hallen und seht, was die Winde und der Sand verschont haben", befahl Ahur.
Der Anführer der Horde kannte seine Aufgabe. Die Hamzahedin waren verpflichtet, die alten Schriften, besonders jene über den Meshiha Deghala zu bewahren. Eines Tages würde er zurückkehren und gegen Amur streiten. Aber er würde endgültig vernichtet werden - wie, das war das, was beschützt werden musste.
"Ist es noch da?", fragte er.
"Ja, Khagan, es ist noch da und in Sicherheit. Aber die Zendavesta ist fort. Mohad beschrieb eine riesige Hand, die er im Sturm gesehen haben will. Die Faust schlug in den Boden des Tempels, zerstörte die geheime Tür. Der Sturm hat die Zendavesta gestohlen!"
"Es war nicht der Sturm. Es war ein anderer."
Seine Krieger fielen auf den Boden und riefen Amur an. Dass es vergeblich war, weil das Ende aller Tage ein feststehendes Ereignis war, vergaßen die Menschen leicht, wenn sie sich fürchteten. Doch die Hinterlist des Zahâk war ohne Zweifel hier am Werke gewesen.

Vor einigen Jahren

"Herr, ich möchte Euch eine Frage stellen."
"Zögere nicht, mein Sohn."
"Wenn Abbadon kommt, dann kommt das Ende der Welt. Wieso lässt der Herr zu, dass einer seiner Engel uns heimsucht?", fragte der Novize.
"Ascanio, deine Fragen sind wie immer die eines naiven Jungen. Hast du denn nichts gelernt?"
"Ich frage, weil der Herr für die Gnade steht. So wie seine Söhne, Liras und Leban, die für uns die Götter sind."
"So ist es. Und da hast du deine Antwort. Er hat Liras und Leban erlaubt, sich von uns verehren zu lassen. Warum sollte er einem anderen seiner Söhne nicht gestatten, sein Werk zu vollenden?"
"Zu vollenden?", fragte Ascanio.
"Ja. Die Schöpfung und ihr Ende sind eins. Irgendwann endet sie, und alles beginnt von vorn. Abbadon erfüllt das, was der Herr will. Schau, in den uralten Mythen derer, die vor den Hun lebten, hat er den Namen Dahaka. Sie fürchten ihn und das Ende. Und doch ist es das, was der Herr will. Was Amur will. "
Ascanio hatte die Ausführungen verstanden, aber glücklich war er nicht. Verloren und enttäuscht irrte er über den Hof, als er zwei Jungen sah, die etwa in seinem Alter waren. Einer humpelte und wurde von dem anderen gestützt.
"Herr, Herr, wir brauchen Hilfe!", rief Ascanio, als ein paar andere Mönche die beiden Jungen stützten. Er nahm die Hand des Älteren und half den anderen, sie zum Abt zu geleiten.

Der ohne Körper

Der Noncorpus glitt durch die Jahrhunderte wie ein Schiff über das Meer. Auf der Suche nach anderen, die wie er waren, hatte er die Körper großer Herrscher, starker Krieger und berühmter Magier benutzt - aber in keinem fand er die Spur der anderen, die es doch irgendwo geben musste. Er war allein, wie es schien.
Bis heute.
Als er den Körper des Gelehrten nahm, da sah er die Welt mit anderen Augen. Er fand ein Buch, in dem über welche wie ihn berichtet wurde. Er las von riesigen Insekten, von einem Licht und Vairocana. Das Wort Dybbuk erfüllte ihn mit Vertrauen, und das Wort Abbadon ließ ihn lächeln:
Er hatte sein Heim und seine Bestimmung gefunden.
Alea iacta est.

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Beitrag von Meister » 30 Dez 2011, 00:51

Kapitel Drei: Abyssus abyssum invocat


Prolog: Zur Jahreswende


Belcarnus

"Ja, ich habe sein Lager gesehen. Aber ich erkenne ihn nicht. Wer ist es?", fragte er den Schatten, als er wieder in der Höhle war. Wie immer gab er keine Antwort, sondern ließ die Musik höher ertönen. Belcarnus verstand. Und er wunderte sich, dass niemand den Berg erkannt hatte, nach so langer Zeit.
Zufrieden mit den Angriffen gegen Skjöldbur wartete er schließlich auf die Antwort von Bjartur und den anderen. Er konnte dem Handel einfach nicht widerstehen.

Merod

Heimlich versuchte er, die Nacht wieder unter seine Kontrolle zu bringen, aber jeder Versuch scheiterte. Auch er hatte das Licht gesehen, aber im Gegensatz zu Antonia verstand er seine Bedeutung nicht.

Der Noncorpus

Er war es, das Licht, der Anfang und das Ende - so musste es sein. Stand es so nicht in den Schriften?
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

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Beitrag von Meister » 06 Jan 2012, 15:02

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Der erste Dybbuk

Zufrieden betrachtete Belcarnus, wie die Insekten des Abyssariums Skjöldbur angriffen. Sein Plan, dass Angbur für Zwietracht sorgen würde, war nicht aufgegangen. Dies war der erste Grund für die Attacke: Zorn. Doch die Skjöldburer hatten ihn beobachtet. Was hatten sie gesehen? Wie er mit Abbadon gesprochen hatte, in der Höhle der Trugbilder? Wie er die Melodie des Erschaffungsstabes, die er nicht verstand, in sich aufgenommen hatte? Oder wie er Erecs Lager in der Ebene betrachtet hatte? Dies war der zweite Grund für seinen Angriff auf Skjöldbur: Ärger.
Der dritte Grund war der Sonnendiener. Belcarnus hatte geplant, Salamos mitzunehmen. Aber da die Bewohner der Siedlung von den Dybbuk wussten, wäre es riskant geworden. Durch den Angriff wollte er Salamos rauben. Mit dessen Hilfe würde er die Zendavesta finden - in diesem schrecklichen Buch standen all die Dinge geschrieben, die ihn vernichten könnten, ihn und seine Brüder. Abbadon hatte ihnen erklärt, dass nur dieses Werk sie retten würde.
Aber was Belcarnus da sah, war nicht das, was er erwartet hatte: Die Skjöldburer waren extrem wehrhaft. Leider hatte er keine Zeit, einzugreifen, stand doch noch der Handel bevor: Die Drow gegen Antonia, Merod und Aenthalas. Das Abyssarium hatte diesen Handel eingefädelt. Er war davon nicht begeistert, jedoch stand es außer Frage, dass das Abyssarium die stärkste Macht in diesem Spiel war - er durfte sie nicht verärgern, wenn er ihre Kraft weiter nutzen wollte.
Nur wenige Insekten nahm er mit, als er die Ruine im Tal Beltain aufsuchte. Bjartur und die anderen hatten diesen Ort sicher nicht umsonst vorgeschlagen - er musste vorsichtig sein. Deshalb ließ er die Gefangenen in der Taverne bewachen. Als er den Pferdewagen sah, erkannte er, dass auch er in eine Falle gelaufen war. Keineswegs würden sie wirklich tauschen. Doch was war ihr Trumpf? Was verbarg sich im Wagen? Als der Zwerg ihm die Plane über das Gesicht warf, da war es zu spät. Kurz darauf beendete eine Donnerkrautexplosion die Existenz seines keltischen Wirtskörpers.
Zornig schlich der unsichtbare Geist davon, getrieben von Rache und Zorn. Zorn, dass man ihn betrogen hatte. Waren sie nicht die Betrüger? Und waren sie nicht Abbadons Diener? War es nicht der Wille des Herrn, die Welt möge enden? Warum ließ er es zu, dass sie scheiterten? Liebte er sie nicht? War das Licht nicht mehr warm?
In der Ferne sah er, wie das Abyssarium den Eingang zur Höhle betrachtete. Wer hatte ihnen davon erzählt? War es nicht Abbadons Anweisung gewesen, dass weder die Insekten noch die Feenhüter davon erfahren sollten?
Doch eines erfreute ihn, während er den Kampf an der Brücke beobachtete: Da lag ein toter Wanderer. Das musste für den Anfang genügen.
"Abbadon, kannst du mich hören?"
"Sprich, mein Sohn."
"Ich habe versagt. Ich habe die Drow nicht bekommen. Und auch nicht die Zendavesta", sagte der erste Dybbuk.
"Sorge dich nicht. Ich habe eine Spur gefunden. Die Welt wird enden, wie der Herr es will."

Aurelion

Wie häufig in den letzten Tagen erwachte der Prinzgemahl wieder aus unruhigen Träumen. Zuerst hatte er vermutet, sie kamen durch das, was er getan hatte oder hatte tun wollen: Blyrtindur beenden. Obschon er Theresia liebte wie nichts anderes auf dieser Welt, er hatte ihr verschwiegen, dass er seinen Vater auf die Insel geschickt hatte, um einen Weg zu finden, sie zu versenken. Damit all die Legenden endlich ein Ende finden würden! Den Plan hatte er verworfen, nachdem Caldorvan ihm berichtet hatte, was Namid und Garsil auf der Insel gefunden hatten. Und doch schwieg er. Wenn es aber nicht sein Gewissen war, warum träumte er diese schrecklichen Dinge? War es eine Warnung des Einen, eine Warnung Amurs?
"Was hast du, mein Liebster?", fragte Theresia.
"Wieder ein Traum. Ich sehe Tausende, wie sie in Flammen aufgehen. Es sind Zauberer, Hexen, Magiekundige."
"Sicher wegen der vergangenen Dinge. Aber das ist vorbei, Aurelion. Pentagasts Antrag wurde abgelehnt. Es wird nicht dazu kommen."
Er nickte. "Schlafen wir. Schließ die Augen, Theresia."
Sie umarmten einander, und es dauerte nicht lang, bis seine Königin wieder eingeschlafen war. Dass es Bretonianer waren, die unter ihren Augen die Zauberkundigen auf Scheiterhaufen verbrannten, hatte er nicht erwähnt. Auch nicht, wie Ulfgar von Roglund an Theresias Seite stand, die Reichskrone tragend. Wie war das alles möglich? Wenn es ein Traum war, der die Dinge voraussagte, die da kommen würden, dann wäre die Zukunft dunkel. Er sprach leise Worte zu Amur und flehte, dass dies alles nicht wahr wäre.
"Erhebe dich, Prophet", sagte eine Stimme.
Aurelion sah sich um. Theresia schien die Worte nicht zu hören. "Amur? Bist du es, der zu mir spricht?"
"Ich bin sein Diener. Ich bin der, dessen Ruf die Plagen auf die Welt bringen wird, denn sie ist an ihrem Ende."
"Abbadon, der fünfte Engel", flüsterte Aurelion.
"Ich habe dich erwählt, meine Worte zu verkünden, wenn es an der Zeit ist. Aber zuerst musst du etwas anderes für mich tun. Für Amur."
Das Ende der Welt. Aurelion wusste immer, dass der Tag kommen würde. Aber selbst für ihn schien es fern, wie der Hauch einer geflüsterten Legende, der am Tageslicht und in den alltäglichen Geschäften verblasste. Nun war es so gekommen. Es war kein Traum.
So brach er in aller Frühe auf, ließ ein Pferd satteln und ritt gen Norden. Er machte einen kurzen Halt in Tilhold, um schließlich von Nordstein in das Wilderland zu reisen.

Baelon

"Also gut. Wir haben genug Reservisten, um es mit einer Armee aufzunehmen. Und doch besteht das Risiko, dass die gesamte Kampfkraft nicht ausreicht, Edailech zu befreien. Vorschläge?", fragte Baelon und schaute in die Runde der königlichen Ritter, der Bretonianer und der Befehlshaber der Armee. Die Königin hatte sich unmissverständlich ausgedrückt: "Edailech muss befreit werden. Wir können es nicht dulden, dass diese Kreaturen die Menschen leiden lassen. Weder hier, noch im Norden."
Sir Allyen seufzte. "Ich habe bereits einen Boten zum Blauen Turm geschickt. Es gibt ein Mittel, den Düften der Wesen standhalten zu können. Doch Valertha hat klargestellt, dass unsere Chancen dennoch schlecht sind. Diese Mistviecher passen sich an."
Von den anderen kamen keine brauchbaren Vorschläge. Baelon schlug die Faust auf den Tisch. "Erwartet Ihr von mir, dass ich ernsthaft mit diesen Biestern in Verhandlungen trete? Das kann nicht Euer Ernst sein. Wir brauchen einen Plan!"
Bevor jemand antworten konnte, klopfte eine Wache an die Tür. "Lord Baelon, wir haben einen Gast. Phaeron von Yren wünscht, an der Versammlung teilzunehmen. Er sagt, er habe Informationen."
"Soll eintreten."
Yren nickte in die Runde. "Ritter, Mylord, Leban zum Gruße."
"Sparen wir uns das. Ihr sagt, Ihr wisst etwas? Ich denke, jeder Rat wäre gerade willkommen."
"Ich nehme an, es geht um die Fähigkeit des Abyssariums, feindliche Einheiten durch ihre Duftstoffe zum Aufgeben zu bewegen?"
"Das ist der Fall, ja."
"Es gibt eine Möglichkeit. Dazu müsste ein Gesandter auf die Insel Blyrtindur geschickt werden. Ich vermute, dort gibt es Einheiten, die gänzlich immun sind. Es wäre ein Pakt mit dem Teufel, aber einen anderen Weg sehe ich nicht. Leutnant Argus hat mich darüber informiert."
"Und um wen geht es da?", fragte Baelon.
"Es wird keinem gefallen. Es geht um eine Drow. Wie es scheint, gebietet sie über eine untote Armee."

Der zweite Dybbuk

Wie gern wäre er an Belcarnus' Stelle gewesen. Im Gegensatz zu ihm hatte er genaue Vorstellungen, wie man die Drow bekommen würde. Und er hätte Antonia nicht verloren. Aber es war Abbadons Wunsch, dass er sich im Hintergrund halten sollte. Als Reserve. Als jener, der zuschlagen würde, wenn alles verloren wäre. Natürlich gefiel er sich in dieser Rolle, aber sein Hass auf alles Lebende war groß genug, das Risiko einzugehen. Andererseits würde es bedeuten, dass sein Lohn ihm entrinnen würde, denn Abbadon hatte ihm die Herrschaft über die Anderwelt versprochen. Ja, das war etwas, worauf man warten konnte - all die Feen und Kreaturen zu quälen, über die Feenhüter zu herrschen, sobald Blyrtindur ertrunken wäre!
Und seine Position war gut. Nichts, was man einfach aufgeben sollte. Er hatte Zugriff auf alles, was im Reich Bretonia entschieden wurde. Die Worte der Vasallen, wie sie für oder gegen Mandas Pläne waren, er konnte sie studieren. Bald wusste er genau, wer wie dachte und wer mit wem befreundet war. Alles Dinge, die nützlich waren. Wie belustigt er gewesen war, als er die leidenschaftliche Rede Aethels gehört hatte oder die lächerlichen Anschuldigungen Mandas! Ja, es war ein Segen, so nah am Zentrum der bretonischen Macht zu sein. Wenig hatte er gesprochen, aber was er gesagt hatte, war genug gewesen, die Debatte auf eine neue Ebene zu bringen. Und all dies, ohne mehr tun zu müssen, als ein paar Worte zu sprechen.
"Sage mir, wen hast du erwählt? Wer ist bereit, den Irrsinn zu empfangen? Du benötigst eisernen Schutz am Hofe der Königin", erklärte Abbadon.
Nachdem der zweite Dybbuk den Namen des Auserwählten genannt hatte, da war Abbadon sehr zufrieden gewesen.

Die Schatten aus der Anderwelt

Myrtocan und Antrylacos tranken das Wasser des bodenlosen Weihers. Es war nicht notwendig, zu essen oder zu trinken, aber sie taten es, um sich an die Vergangenheit zu erinnern. Vergessen, das wollten sie nicht. Nicht nur, wie sie in sorgloseren Zeiten die Beschützer der Feen gewesen waren, auch wie sie den vergeblichen Kampf gegen das Abyssarium geführt hatten - alles für die, die sie später bestraft hatten. War denn nicht Mitleid eine der Tugenden? Hatten sie selbst nicht Mitleid gezeigt, als sie den Dybbuk befreit hatten? Und hätte nicht auch Mitleid verhindern müssen, dass man sie bestrafte? Das war nicht geschehen. Dafür gab es nur eine Erklärung: Es gab kein Mitleid. Und wenn es keines gab, dann gab es auch nichts, das gut war und nichts, das lebenswert erscheinen würde.
"Sie haben uns angeboten, zu helfen. Aber nur, wenn wir ihnen zuerst helfen", sagte einer ihrer Brüder.
Antrylacos krächzte zornig. "Wie immer stellen sie Bedingungen. Was wollen sie?"
"Hilfe gegen das Abyssarium."
"Sie verstehen es nicht! Das Orakel hat vor langer Zeit bereits gesehen, dass die Bestien aus dem scharlachroten Licht nicht vernichtet werden können. Sie sind zu stark. Sie sind die Plage, die die Welt vernichten wird. Wir können nur eines tun: Uns holen, was unser ist und eingehen in die Anderwelt. Aber dazu müssen wir werden, was wir waren! Verstehen sie denn nicht?"
"Nein, sie verstehen nicht."
Dann unterbrach sie etwas, das sie so lang nicht gesehen hatten. Etwas, das sie so sehr vermisst hatten: Dybbuk.
"Ich habe euren Ruf vernommen. Und ich sehe, dass man euch verwehrt, was euer Recht ist, meine lieben Gefährten", sprach er mit sanfter Stimme.
"Bitte, was müssen wir tun?", fragte Myrtocan, der sich wie alle anderen tief verneigte.
"Im Norden, wo die Welt endet und die Kälte das Meer frisst, werdet ihr etwas finden, das eure Suche beenden wird. Man nennt es Zendavesta. Ich habe euch etwas mitgebracht", sagte der Dybbuk und warf einen jungen Mann an das Ufer des Weihers.
"Wer ist das?"
"Ihr braucht ihn, um den Altar zu öffnen. Ein Opfer."

Vor einigen Jahren

Die gläserne Frau schlief, bis sie das Licht der Erschaffung spürte. Ihr Prinz war schon lange gestorben, und sie war geblieben. Sie hatte eine Aufgabe. Und als das Licht ihre Stirn berührte, da tanzte sie den Reigen der Erkenntnis. Die Strahlen berührten die Wand, fielen auf den toten Körper von Hrabanus und ließen ihn auferstehen. Er kühlte die Verletzung seines Bruders mit einem kühlen Stein, sah auf zum Stab und öffnete mit einer Handbewegung die Höhle; die Felsen fielen wie ein Vorhang zur Seite. Hrabanus nahm Erecs Hand, und zusammen verließen sie die Höhle der Trugbilder.
Es war geschehen - die gläserne Frau war glücklich. Einer von ihnen hatte seine wahre Bestimmung gefunden, der andere stürzte in einen Abgrund, der den Abgrund rief. Alles, wie der Reisende es ihr gesungen hatte.
Dann erinnerte sich die gläserne Frau an das, was einst geschehen war:
Wie der Noncorpus im Leibe von Moricantus in die Höhle stieg und den Stab der Erschaffung genau an die Stelle platzierte, die ihr der Reisende genannt hatte. Alles fügte sich, nach so langer Zeit. Nach der beschwerlichen Reise durch das Mathricodon, vorbei an den Seen von Zinor und den Bergen Javariens - sie war angekommen.

Der dritte Dybbuk

Argus schlich durch die Dunkelheit, vorbei an den Lagern, durch die Klamm, bis er die Hügel über Brulund erreicht hatte. Der Wolf und der Wicht waren noch nicht zurück. Sie durften das Lager niemals erreichen! Zu groß war das Risiko. Würde er scheitern, müsste sich einer seiner Brüder erheben und entblößen - die Sicherheit wäre vorbei, und die Informationen aus Bretonia gerieten ins Stocken.
Sie ließen die Wölfe ausschwärmen. Vermutlich hatte man sie in Kenntnis gesetzt, dass der Leutnant nun ein Dybbuk war. Aber was sollten sie schon tun? Terra Brumalis war in seiner Hand, und sein Besuch in Viburna - als Bittsteller, wie die Minotauren es liebten - war ebenso erfolgreich verlaufen. Niemand konnte ihm etwas tun, auch nicht die Hüter. Selbst die Schlange mit ihren Untoten wäre ein leichtes Spiel, galt sie doch für alle anderen als unberechenbarer Faktor. Hier eine Warnung, dort eine falsche Spur, man würde ihr nie wieder trauen, falls man das überhaupt je getan hatte. Nein, Argus war sicher, ganz bestimmt.
Es war an der Zeit, jemanden aufzusuchen. So kehrte er zurück und bestellte einen Milizionär zur Schmiede. "Eine Nachricht an Lord Aran. Ich muss ihn sprechen."
Eine Stunde später erschien eine Projektion des Königs der Quelle hinter der Markthalle. "Leutnant Argus, Ihr wolltet mich sprechen."
"Ja. Es geht um verschiedene Dinge. Ich hoffe, es ist Euch möglich, etwas Zeit zu entbehren, Mylord?"
"Warum so förmlich? Und: ja."
"Nun, Aran, zuerst geht es um Llionnara. Ich befürchte, der Verlust ihres Dolches dürfte sie erzürnen. Ich habe aus diesem Grund in Viburna um Schutz gebeten. Minotaurenkrieger sind auf dem Weg, um notfalls Brumalis zu verteidigen. Ich sage Euch das, weil es auch in Eurer Verantwortung liegt."
"Natürlich. Machen wir es so. Die nehmen uns sowieso nicht für voll, da können sie wenigstens zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt sind. Was gibt es noch?"
"Ebenso vermute ich, dass ein Wicht namens Garsil und der Wolf Namid dafür zu verantworten sind, dass wir bestohlen wurden. Ich möchte eine umfassende Fahndung starten."
"Garsil? Sagt mir nichts. Und Namid ist mir gleich. Wenn dieser Wolf uns schaden will, dann muss er aufgehalten werden. Genehmigt", murrte Aran.
Argus nickte zufrieden. "Nun der letzte Punkt. Es gibt Grund zu der Annahme, dass Euer Vater, Lord Caldorvan, auf der Insel war. Kurz darauf hat es ein Beben gegeben, und die Magier des Ortes haben vermutet, es besteht ein Zusammenhang. Ich schlage darum vor, mit einigen Zauberkundigen die Quelle zu untersuchen. Möglichst kurzfristig."
"Wenn es denn sein muss. Ich verwehre es nicht. Aber nur Leute, denen wir trauen. Und nicht ohne Lebaner!"
"Natürlich, Mylord."
Nachdem Aran verschwunden war, konnte Argus seine Freude kaum verbergen. Alles lief genau so, wie Abbadon es gewünscht hat!

Ein Kelte

Der Wind wehte kräftig durch die Thylianaeis, und das Wasser rauschte durch die Klamm. Gywinn hielt den Speer fest in der Hand, schaute in das Abendrot und war mit Stolz erfüllt. Er war zusammen mit seinen Waffenbrüdern auserwählt worden, den Hain zu beschützen - gemeinsam mit den Orchideen, der stärksten Waldläuferverbindung des Landes. Eine Ehre, die nur wenigen gegeben wird. Vergleichbar mit der Ehre, die man einst Erec und Hrabanus hatte zuteil werden lassen, als man ihnen gestattet hatte, die Anderwelt zu betreten.
Viel Zeit, seinen Stolz auszukosten, hatte Gywinn nicht. Ein Krächzen, dann ein seltsamer Duft, und er nahm den Speer fest in die Hand, rammte ihn einer Elaya in den Rücken. Er lächelte und erwartete die Umarmung des Todes, als er sich wie die anderen in die Tiefe stürzte.

Erec

Schwach und keuchend, bis die Füße schmerzten wie auf glühenden Kohlen wandelnd, lief Erec durch das Seelenmoor. Es hatte viel Kraft gekostet, das Abyssarium von der Taverne zu vertreiben. Eigentlich war er auf dem Weg gewesen, die Feenhüter aufzusuchen, um sie von ihren Irrwegen abzubringen. Er vermutete, dass die Dybbuk oder gar der Noncorpus selbst, der sich für Abbadon ausgab, sie lenkten. Wenn die Götter auf diesem Wege die Worte der Zendavesta und des Buches der Legenden erfüllen wollten, dann wäre er der letzte Sterbliche, der sich ihnen in den Weg stellen würde. Aber das bedeutete nicht, jedes Leid auf diesem Wege tatenlos anzusehen.
In der Nähe des Blauen Turmes warf er sich auf den Boden, streckte Arm und Bein aus und sprach sein Gebet. "Herr, Liras, Leban, und all ihr himmlischen Heerscharen. Ich bitte um Vergebung, demütig und bereit, jede Strafe für meine Sünden auf mich zu nehmen. Denn ich kam, um die zwei Zeugen zu finden, die dem Weltende und dem Weltenanfang beiwohnen werden. Den Salvator Mundi und seinen Begleiter. Aber ich wurde schwach, und ich beschloss, Bjartur und den anderen gegen die Plage beizustehen. Wenn es nicht das ist, was ihr wünscht, Gnadenvolle und Gnadenlose, dann streckt mich nieder oder überlegt jede Strafe, die euch einfallen mag. Ich bin unwürdig."
Er schloss die Augen und schwieg. Er wäre bis zum Ende der Welt an diesem Ort geblieben, im Schlamm und in kalter Erde, wenn nicht ein Zeichen des Himmels zu ihm gekommen wäre: Ein Licht, hell wie der Stab, erhob sich am Himmel, und es hatte die Gestalt einer wunderschönen Frau. "Mein Sohn, wisse, die Götter sind auf deiner Seite. Erkenne dich selbst."
"Wer bist du?"
"Ich bin deine Mutter. Nicht die, die dir ein Heim gab, aber die, die dich geboren hat, Erec."

Hrabanus

Abbadon glitt durch die Jahrhunderte wie ein Schiff über das Meer. Auf der Suche nach anderen, die wie er waren, hatte er die Körper großer Herrscher, starker Krieger und berühmter Magier benutzt - aber in keinem fand er die Spur der anderen, die es doch irgendwo geben musste. Er war allein, wie es schien.
Bis heute.
Als er den Körper des Gelehrten nahm, da sah er die Welt mit anderen Augen. Er fand ein Buch, in dem über welche wie ihn berichtet wurde. Er las von riesigen Insekten, von einem Licht und Vairocana. Das Wort Dybbuk erfüllte ihn mit Vertrauen, und sein eigener Name ließ ihn lächeln:
Er hatte sein Heim und seine Bestimmung gefunden.
Das Licht im Stock, die scharlachrote Erfüllung, Leben wie Tod, Alpha und Omega, hatte ihn erfüllt. Der Schmerz, den es verursachte, war für Hrabanus nur eine Prüfung. Denn gleichsam spürte er die Nähe der Zendavesta, und an diesem Abend fühlte er, wo sie zu finden war. Es war an der Zeit, sie zu bergen - dann würde er den letzten Schritt tun.
Alles war, wie es verheißen wurde. Die Lehrzeit in der Abtei diente ihm nur als Zeitvertreib, doch auch, um Erec vorzubereiten auf seine Rolle. Er würde ihn benutzen, um die zwei Zeugen zu finden, die Schatten aus der Anderwelt zu befreien und das Abyssarium zu vernichten, sobald er es nicht mehr benötigte - denn er, Hrabanus, war Abbadon, der fünfte Engel. Wer sonst könnte er sein? Alles, was man über den Noncorpus berichtete, konnte nur eine Lüge der Feinde des Herrn sein, um ihn zu beirren.

Zur Zeit des großen Krieges der Zwerge gegen die Elaya

Der Kampf gegen die Elaya war für Glonnos und die anderen vorüber. Die Diener der Ewigen Flamme verbrannten die Körper der tapferen Krieger, zuletzt den ihres Generals. Zwei Bestien sollten das Grab bis in alle Ewigkeit bewachen.
"Möge die Flamme unsere Brüder an einen besseren Ort geleiten und sie nähren", brummte der weise Mann.
Da löste sich eine der Ketten, und die Bestie riss sich von der Wand los. "In Deckung", rief ein Krieger.
Es war zu spät - und die Magie Esthelions, die Glonnos bis an diesen Ort verfolgt hatte, erfüllte alles mit nekromantischer Energie.

Vor langer Zeit

Körper und Geist zu trennen, dies erforderte höchste Konzentration. Der weise Mann saß unbekleidet, schlaflos und hungrig seit Jahrhunderten auf demselben Stein, bis er endlich das Licht sah, welches die anderen als Erleuchtung bezeichneten. Ohne Geist erhob er sich, schaute auf die Berge und Flüsse Yaruns, lächelte.
Zur selben Zeit erfüllte sein Bruder auf andere Art denselben Ritus. Und Geist und Geist verfolgten einander durch die Ewigkeit.

Die gläserne Frau trifft auf den Reisenden

Saylah hüllte ihren Körper in seidenes Tuch, und die Kette, die um ihre Hüften gewickelt war, glitzerte in der Sonne. Die Männer lauschten der Musik und folgten mit ihren Blicken ihren Bewegungen. Saylah wusste, welche Wirkung sie auf die Krieger hatte. Während sie ihren Schleiertanz aufführte, entdeckte sie in den Reihen der Zuschauer einen großen Mann, dessen blondes Haar bis über die Schultern hing. Sie wagte es nicht, ihn lange anzusehen, aber als die anderen sich dem Tee und den Wasserpfeifen widmeten, schlich sie sich an seine Seite.
"Und wie ist dein Name, Reisender?"
Er stellte sich vor, dann sagte er: "Ich bin aus anderen Gründen hier als du denkst. Es ist eine schwierige Angelegenheit. Aber wir benötigen deine Hilfe. Du musst ein großes Opfer bringen. Mein Begleiter und ich werden dir alles erklären."
"Und wer ist dein Begleiter?"
"Sein Name ist Elyrio."
Alea iacta est.

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Beitrag von Meister » 28 Sep 2012, 01:08

2


Die Schlange entdeckt ein Problem


Zuleikha, die Herrin der Schlangen, hatte lange keinen richtigen Mann mehr. Es würde ihr nichts machen, denn mit den Schlangen zu tanzen, das gab ihr eine noch größere Erfüllung als das. Wenn aber so viele große starke Männer wie in diesem Land herumliefen, dann wurde das zu einem Problem, das es zu beheben galt.
Vor so langer Zeit, in der Anderwelt, vor den Schatten, vor Erec und Hrabanus, vor der Zendavesta und allen anderen Dingen, da konnte sie einfach durch eines der Tore gehen, um auf der anderen Seite durch einen Kreis aus Pilzen zu schreiten, die kleinen Flügelchen ausbreiten und einen jungen Jägersmann verführen. Aber jetzt? Nun stand sie da, im Zirkus, im Zeltkreis, in der Nähe Bredorfs und sie musste sich zügeln.
"Die Mission ist das Wichtigste von allem, versteht ihr?", hatte man ihnen gesagt. "Nichts geht darüber. Der Stein, er muss gefunden werden."
Tja, aber wo der Stein war, das wusste keiner so genau. Ihre Muttermuttermuttermutter hatte ihn irgendwo in dem Land versteckt, das nun Bretonia genannt wurde. Dummerweise war ihre Muttermuttermuttermutter eine recht verwirrte Frau gewesen, und ihrem Vatervatervatervater hatte sie leider nichts gesagt. Vielleicht dem Bruder ihrer Muttermuttermuttermutter? Aber ihr Onkelonkelonkelonkel war mit seinem Vatervater und dessen Schwester drittrechten Einzelgrades irgendwo auf den Quarnickelfeldern, um Schwarzfröhten zu kandisteln - die konnte sie also alle nicht fragen.
"Denk scharf nach, wo kann es sein?", fragten alle immer wieder.
"Ich weiß doch nicht, ich weiß doch nicht!"
Dann hatte sie von dem Angriff gehört: Ein Mann namens Ulfgar von Roglund hatte seine Truppen gegen die Wilderländer ziehen lassen. Die Schlacht war siegreich für die Menschen verlaufen, und Roglund hatte man lebend ergreifen können.
"Jetzt weiß ich's!", schrie sie.
"Wo?"
"Hohenfels! Natürlich, darum doch der Name! Das wusste nur niemand! Meine Muttermuttermuttermutter hatte den Namen als Hinweis hinterlassen und meinem Vatervatervater, also ihrem Sohn, davon erzählt!"
"Seht nach, ob der Stein noch dort ist."
Kurze Zeit später dann die Erkenntnis: Er war es nicht.

Baelon

Nachdem Theornon und Hlifa den Gefangenen übergeben hatten und von den Ereignissen berichtet, ließ er seine Heiler kommen und die Wunden der Herren von Hohenfels versorgen, bevor sie heimkehrten. Dann trank er einen großen Schluck vom Rotwein, legte sein Schwert ab und nahm lediglich einen Dolch zur Hand, als er die Treppen nach oben zum Gefangenen ging.
Ulfgar von Roglund lag in Ketten, an der Wand gelehnt. Er sah Baelon mit zusammengekniffenen Augen an als dieser die Wachen hinausschickte.
"Roglund, Ihr seht mich bestürzt."
"Ist das so?", fragte der Gefangene und hustete. Die Wachen hatten ihn etwas bearbeitet, so wie Baelon befohlen hatte.
"Allerdings. Von Euch hätte ich nicht erwartet, die Wilderländer anzugreifen. Mit welchem Grund, was war Euer Gewinn dabei?"
Der Gefangene antwortete nicht.
"Es gibt einen leichten und einen schweren Weg. Aber das müsste Euch doch bewusst sein, geht man danach, was in Eurer Feste gefunden wurde. Ein Kind von Traurigkeit seid Ihr wahrlich nicht, Verräter. Um ehrlich zu sein, das Wort 'Abschaum' wäre noch eine Schmeichelei. Und ich bin kein Freund von indirekter Wortwahl. Darum will ich eines von Anfang an klarstellen: Ihr werdet diesen Raum verlassen. Dies werdet Ihr aufrecht tun, um Euch Eurer Strafe zu stellen - oder waagerecht. Was dann bedeutet, dass ich Euch alle Knochen gebrochen habe ODER dass Ihr dabei gestorben seid. Das nenne ich dann einen Folterunfall."
Roglund lachte. "So? Die Königin wird dies nicht zulassen. Sie ist so milde und rein."
"Ach, wisst Ihr, das mag sein, aber sie weiß, dass ich alles tun würde, um ihre Sicherheit zu garantieren. Und wenn das bedeutet, die Regeln zu brechen, bei Liras und Leban, dann werde ich das tun. Testet mich nicht, sondern antwortet lieber: Warum der Angriff, was gab es dort, was nicht schon in Eurer Feste verrottet ist?", fragte Baelon und erinnerte sich an Theornons Bericht: Zu Tode gefolterte Zauberkundige, an den eigenen Gedärmen erhängte Elaya.
"Was, wenn ich sage: nichts?"
"Dann glaube ich Euch nicht. Ist das Eure Antwort?"
"Ja. Nichts."
Baelon nahm den Dolch und schnitt Roglund in die Handflächen. Er reagierte kaum. "Das geht noch besser", flüsterte Baelon und schnitt ihm den kleinen Finger einer Hand ab. Aus dem irren Gelächter Roglunds wurde ein lauter Schrei. "Was gab es dort?"
"Nichts!", schrie er. Dann verzog sich das Gesicht Roglunds zu einem Grinsen. So wirr, wie es Baelon noch bei keinem gesehen hatte, zumindest bei keinem Menschen.
Als er das erste Verhör nach einer Weile abgebrochen hatte, da erinnerte sich Lord Baelon von Glan nur noch an etwas Rotes. Keine Form, keine Substanz. Nur etwas Rotes.

Der Gelehrte

Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sich Archimäos an den kleinen Korb, in den man den Jungen gelegt hatte, damit er irgendwo auf dem Meer ein Tor erreichte, um in die Vergangenheit zu reisen. "Gott mit dir, Erec", hatte er geflüstert und eine Hand auf Elyrios Schulter gelegt.
"Es wird Zeit, du musst gehen", hatte Bjartur dann gesagt. "Die Melodie wird ihn erwecken. Sie müssen nur die Pflanze finden."
"Ja."
Schließlich hatte er drei Tage und Nächte gewartet, so wie die Tänzerin es verheißen hatte. "Wenn es um die Zendavesta geht, dann ist es...delikat", hatte sie gesagt.
Dann etwas Proviant, eine Karte und die Weisung, wohin er zu fahren hatte. "Finde einen Mann namens Maestlin. Du kannst ihm helfen. Und warne sie alle vor dem anderen Mann, dessen Namen ich niemals sehen kann."
Das Boot war fast von allein gefahren. Dann der Wirbel, das Tor und Schwärze, bis er am Ziel angekommen war.
Jetzt.
Hier.
"Verzeiht, mein Herr, wo finde ich die Abtei und einen gewissen Abt Aldwyn?", fragte er den Thel'Ein.
Der kleine Kerl, der sich als Davinicol vorgestellt hatte, erkärte ihm: "Na, also hier im Wald biste total verkehrt. Da musst du ganz doll weit Richtung Norden. Aber nicht ZU weit. Ach, weißt du was, ich mal es dir auf."
Mit Hilfe des Gekritzels fand er Thyms Rast, ließ sich ein Pferd geben und etwas Brot, das er mit ein paar kleinen Edelsteinchen bezahlen konnte. Schließlich machte er noch einen Halt, als er die Brücke erreichte: "Hier ist es also. Der Ort, an dem alles begann. Erec und Hrabanus", murmelte er leiste, bevor er ein Gebet zum Herrn sprach und eilig seinen Weg fortsetzte.
In Bredorf machte er nicht Halt, wohl aber warf er einen Blick auf den Zirkus und lächelte. Zuleikha hatte ihm gesagt, dass sie sich eines Tages wieder begegnen würden. Aber nicht jetzt. Er war in Eile!
Endlich hörte er die Glocke, welche die Geistlichen zum Gebet rief. Er nahm am Dienst teil, auch wenn er nicht zu Liras oder Leban beten wollte. Doch sie, Diener des einzigen Herrn der Erde, waren nah, das spürte er. Nach der Messe lief er zum Altar und kniete vor dem Abt nieder.
"Liras und Leban mit dir, Bruder", sprach der ehrwürdige Mann.
"Und mit Euch, Abt. Ich habe Euch gesucht."
"Ihr kommt nicht von hier, nicht wahr?"
"Nein, meine Reise brachte mich von Tectaria hierher", antwortete er und bedauerte es, den alten Mann anlügen zu müssen. Der aber lächelte und machte den Eindruck, die Wahrheit hinter den Worten sehen zu können. Er war jedoch zu weise oder höflich (oder beides?), als dass er es erkennen lassen wollte. "Wie kann ich dir helfen, mein Sohn?"
"Ich bin auf der Suche nach einem Grab. Es muss sich in der Nähe dieser Abtei befinden. Und ich will Euch bitten, mich allein zu lassen, wenn ich es gefunden habe. Bitte versteht, es sind meine einzigen Verwandten, die ich noch habe. Ich will ihnen meine Ehre erweisen. Sie flohen damals vor den dunklen Tagen Tectarias."
Eigentlich hatte er erwartet, dass der Abt dies nicht billigen würde, musste er doch die Lüge erkannt haben. Doch wieder das wissende Lächeln: "Natürlich."
Archimäos erreichte den Friedhof und suchte kein Grab auf. Stattdessen betrachtete er die Statue und suchte nach Zahlen. Er war so vertieft, dass er seinen Mörder erst bemerkte, als ein Rauschen hinter ihm zu hören war. Ein einäugiger Hüne hatte sein Schwert gezogen.

Roglund

"Greift in zwei Reihen an. Die Wilderländer mögen viele sein, aber sie haben keine Organisation. Richtet so viel Schaden an, wie ihr könnt. Lasst sie bluten!", rief Roglund seinen Truppen zu, die sich nach seinen Befehlen formierten.
Die Wilderländer schienen überrascht. Und doch griffen sie schnell zu den Waffen, schickten die Widder, Bären und Mammuts los, warfen Speere und ließen Pfeile regnen. Doch seine eigenen Soldaten waren geübt, rissen die Schilde nach oben und wehrten den Pfeilregen ab.
Der Boden erzitterte, als die Mammuts kamen. Die ersten Gruppen seiner Krieger zermalmten sie, bis die zweite Reihe die Pfähle nach oben schnellen ließ, um die Ungeheuer aufzuspießen. Widder stießen Soldaten um wie Zweige, Wölfe und Bären schlugen um sich, rissen seine Männer um wie Schafe.
"Das war zu erwarten. Die Kampfmaschinen, los!", brüllte der Lord.
Der Kelte hatte ihm diese mechanischen Monster versprochen, und er hatte seinen Worten Taten folgen lassen, bevor er verschwunden war. Nun stampften die Kolosse die Tiere nieder, um sich schließlich den verzweifelnden Wilderländern zu widmen. Der Nordmann namens Skjalgur war dort, konnte gerade noch einer Maschine entwischen. Aber andere hatten nicht dieses Glück. Den Ungetümen ließ er seine Männer folgen, die nun geschlossenen Schrittes auf das Lager zu liefen. Skjalgur und sein Kumpan Muraco hatten sich zu den Frauen begeben, um sie und die Kinder zu schützen. Bald aber wären sie fällig!
Und gerade, als Roglund den vom Fremden versprochenen Sieg vor Augen hatte, als er es spüren konnte, das Gefühl von Macht und Überlegenheit, da traf ihn ein Schwerthieb, dem eine Staubwolke folgte, aus der bretonische Reiter stürzten, umgeben von Hohenfelsern und ihren Herren, Theornon und Hlifa.
Alle Maschinen halfen ihm nicht. Seine Armee wurde aufgerieben und ihn machte man zum Gefangenen. Auf dem Weg nach Bretonia öffnete er einmal die Augen, sah ein rotes Licht dem weitere Dunkelheit folgte, als er in der Kammer Baelons erwachte, der seinen Finger abtrennte.
"Was gab es dort?", fragte Baelon.
"Nichts!", schrie er. Dann verzog sich das Gesicht Roglunds zu einem Grinsen. Er war nicht mehr Roglund. Nun war er ein anderer geworden.

Theornon und Hlifa

Die Schlacht war vorüber und sie waren siegreich.
"Ich frage mich, was sie wollten", sagte Hlifa, während sie einen Heiler zu Skjalgur schickte, den es an der Schulter erwischt hatte.
"Keine Ahnung. Sie kamen wie aus dem Nichts, und ihr einziges Ziel schien es zu sein, zu töten", sagte Muraco, dem gerade der Arm verbunden wurde.
"Sie sind besiegt, alles andere ist mir gerade egal", murrte Skjalgur.
"Mir aber nicht." Theornon sah sich um. "Gibt es hier mehr als Vorräte, Frauen, Kinder und Kämpfer? Ich meine etwas von anderem Wert als das?"
Beide, Skjalgur und Muraco, schüttelten den Kopf.
"Sehen wir uns einmal um", sagte Hlifa, nahm ihren Ehemann bei der Hand, dass sie das Lager einmal abschreiten konnten - erschöpft, humpelnd. Muraco und Skjalgur behielten derweil den Gefangenen im Auge.
Es war nichts zu entdecken. "Das war vielleicht nur eine Ablenkung vom Wesentlichen. Wenn auch mit hohem Preis für alle", murmelte Theornon.
"Ich schicke sofort all jene, die noch auf den Beinen sind, nach Hause. Vielleicht ein Angriff gegen unser Heim", zischte Hlifa. Theornon nickte einverstanden. "Wir bringen Roglund in die Stadt. Sehen wir uns derweil seine Festung an. Da gibt es noch mehr Leute zu verhaften."
Die wenigen, die noch dort waren, leisteten keinen nennenswerten Widerstand. Skjalgur hatte die beiden begleitet und ein paar Wachen ausgeschaltet.
"Da geht es wohl in den Keller. Es riecht nach Blut und Tod", brummte der Völsungar.
Was die drei dort sahen, ließ sie erstarren: Gefolterte Menschen, Elaya, Frauen, Kinder, Alte, Junge. Gestorben in den eigenen Körpersäften, gequält über den Tod hinaus. Allen war gemein, dass sie scheinbar Zauberer waren, zumindest nach der Kleidung zu urteilen.
"Dafür wird er bezahlen", knurrte Hlifa.
"Ganz sicher." Theornon ließ die Toten zählen. "Sucht nach Spuren, irgendwelchen Erkenntnissen. Nehmt alles mit an Papieren und Gegenständen. Stellt Wachen auf. Wir werden sehen, was hier getan werden muss. Ich informiere Baelon und auch die Abtei. Jemand muss außerdem zu den Elaya gehen, auf die Glasinsel."
"Ich will heim", flüsterte Hlifa.

Am Globus

Die Weisungen von Hrabanus waren eindeutig gewesen und der Ort nicht schwer zu finden. Das Gedächtnis dieses Lebandieners war sehr vollständig erhalten. Manche Leiber vergaßen alles, dieser hier nicht. Der Dybbuk namens Argus sattelte ein Pferd und verließ Terra Brumalis, das er nunmehr schwer bewachen ließ. Für den Fall, dass die Hüter doch hineinkamen.
"Ah, hier fand die Schlacht gegen Lazarus statt. Nun, hier finde ich was ich brauche." Denn zum Glück, so befand er, hatte man in Eile recht oft manch Toten an Ort und Stelle begraben. Argus sprach die Worte der Außenwelt und schon erhoben sich die Toten. Mit einer klapprigen Armee begab er sich an den Ort, von dem er schon so viel gehört hatte. "Bewacht dies hier. Und lasst mich wissen, wenn die Dunkelelfenhexe hier auftaucht. Sie würde meine Arbeit stören."
Die Zendavesta erschien, und er sprach die Zahlen, dass sie ihn eintreten ließe. Im nächsten Augenblick schon hatte er das Ziel erreicht. Der Globus schimmerte in einem angenehmen Blau. Schnell machte er sich mit der Steuerung vertraut. "Und hier das Ziel."
Er sah den Mönch, wie er die Statue studierte. Nun, es wäre das Letzte, was er tun würde, dachte sich Argus und lächelte.

Die Schatten aus der Anderwelt

"Es ist entdeckt", flüsterte der eine.
"Es ist geschehen", flüsterte der andere.
Sogleich entstiegen noch mehr Gefährten dem Weiher, der noch einzig bestehenden Verbindung. Sie tanzten in den Bäumen, stießen die Schreie aus und fügten sich den Fesseln der Erinnerung.
"Warnt sie. Und wenn sie es verlangen, müssen wir uns fügen. Die Dinge haben sich geändert. Vielleicht können wir nicht mehr auf Erec warten!"

Jemand erwacht

Er sah einen Mann, wie er die Arme ausstreckte wie um einen Segen zu sprechen. Die Worte waren warm und sanft, und er fühlte sich geborgen, obwohl er die Worte nicht verstand. Auch erkannte er den Mann nicht, der ihm so vertraut vorkam. Der Mann war umgeben von Menschen, die ihm zuhörten. Auch hier sah er bekannte Gesichter, die er nicht beim Namen nennen konnte. Erst jetzt bemerkte er, dass er selbst dieser Mann war. Er kannte sich selbst nicht.
Alle Wärme verschwand und wich dem Frost, der sich wie auf Spinnenbeinen um sein Herz gelegt hatte, um es zu erfrieren. Das Bild war ein anderes. Die Sonne war verschwunden, und kein Stern war am Himmel zu sehen. Eine Krähe bohrte in sein Gedärm, zog es heraus und fesselte ihn damit - Schmerzen spürte er keine. In seinen Armen waren rote Augen, die ihn betrachteten. Aber er war ein Spiegel, er war nicht wirklich.
Dann ein Schlachtfeld, wieder war er der Mann. Er umsorgte die Toten. "Sie haben mir nicht geglaubt", sagte er und betrachtete Hrafna, der tot am Boden lag, mit einer Hand die Hand seines Weibes Erika haltend, denn auch sie war gestorben. Viele Gesichter, die er nun erkennen konnte.
Und dann war er am Ziel. Roter Himmel, rotes Licht, darin ein weißer Schatten. Wie die Symbole Vairocanas und des Roten Todes - nur dass sie nicht wirklich waren, sondern ein Spiegel. Aber er war kein Spiegel, auch wenn er kein Mensch war. Er war eine Pflanze, eine einzelne Blume in einem Meer aus Ödnis und Verzweiflung, umgeben von jenen aus der Außenwelt. Er war so etwas wie die Zendavesta, wenn auch aus Materie.
Als Aurelion von Torbrin erwachte, konnte er sich an alles erinnern. Doch etwas Rotes, das war das, was am stärksten in seinen Gedanken brannte. Er wusste nur eines: Dies war die größte Furcht.


3

Der große Wächter betritt die Bühne

Seine Seele brannte wie Feuer. Schon lang war es her, dass man ihn gebraucht hatte. Ihn und die Feder, ihn und das Pergament. Als der Vorhang wie ein Schleier ferner Tage sich lichtete, wie der Nebel auf den Ozeanen der Erinnerungen, da fühlte er, dass der Moment gekommen war. Denn er wusste alles. Er wusste um die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft - es war alles deutlich geworden.
Das war ganz natürlich, denn sein Name war...

(wird fortgesetzt)
Alea iacta est.

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Beitrag von Meister » 28 Sep 2012, 13:32

(Fortsetzung Kap. 3)


ZWISCHENSPIEL I

An der Gezeitenmündung

Die Königin erhob sich. Ihre Beine stützten einen fetten Leib, gefüllt mit ihren Kindern. Am unteren Ende des Körpers hing ein glänzender Dottersack. Der Glanz entstand nicht etwa durch das grelle Licht, das von der endlosen Weite des steinernen Himmels schien. Es war vielmehr ein feuchter Film, der wie Butter eine große Hautblase umgab, die sich immer weiter spannte, je mehr krabbelnde und kriechende Schatten darunter zu sehen waren.
Manchmal entstand ein feiner Riss unter dem Schleim. Dann kroch ein Wurm hervor, der sofort den Dottersack hinab kletterte, dass er die roten Pfützen auf dem Boden erreichte. Einmal darin gefangen, zuckte er kurz, bevor die Flüssigkeit ihn ertränkte, nur um eine Puppe zu bilden, die ohne Unterlass wuchs.
Derweil brachte die Königin ihre Jungen zur Welt, die durch einen Schlauch am Ende des Dottersacks den Leib der Mutter verließen. Einige versuchten, die verpuppten Würmer zu fressen. Aber die Königin ließ es nicht zu und trieb sie mit ihrem Krächzen hinaus in die Gänge, dass sie die Jungen des feindlichen Stocks fraßen.
In der Außenwelt gab es kein anderes Licht als das der Zendavesta (obschon das Abyssarium einen anderen ungleich längeren Namen dafür hatte), und gäbe es ein anderes, dann wäre es schon lang von dem roten Schein verschluckt worden. Manchmal formte sich aus diesem Licht zwar ein anderes, aber es gehörte dazu. Und der einzige Zweck war Vermehrung - so wie es auch der einzige Zweck der Königin war:
Sie hatte sich gegen zahllose Rivalinnen durchgesetzt, die sie einfach verspeist hatte. Ihr Sinn war es, zu fressen. So wie es der Sinn aller Außenweltler war. Manche aßen die Furcht, andere Liebe oder Hass. Sie hingegen begnügte sich mit weniger, denn ihr reichten körperliche Nahrungsquellen vollkommen aus. Diese Anspruchslosigkeit war es, welche ihr Volk, die Abyssarier, so lange hatte überleben lassen in der Außenwelt. Von den Portalen in andere Welten hatte sie gehört, aber es lag nicht in ihrem Interesse, zu erobern. Ihr Sinn und Zweck waren eins mit ihr, denn sie war vollkommen. Es herrschte ein gewaltiger Frieden in der Außenwelt, der auf einem einzigen Prinzip beruhte: Fressen.
Zufrieden folgten ihre Facettenaugen ihren Neugeborenen, dann betrachtete sie die verpuppten Würmer, die Brüder ihrer Kinder. Ab und zu streifte das hellere Licht (wenn es aus dem roten entstanden war) eine Puppe. Dann kletterte etwas anderes heraus. Kein Wurm mehr, sondern etwas Neues.
So war es Jahrtausende gewesen.
Als jedoch eine Hand und ein Schock durch die Außenwelt fuhren, in Form eines Liedes, da traf ein großer Stein den Rand der Außenwelt. Höhlen und Gewölbe brachen zusammen, es war Zerstörung. Die Königin hörte die ängstlichen Schreie all ihrer Kinder, als das Heimatgewölbe begann, sich von den Grenzen der Außenwelt zu lösen. Instinktiv griff sie nach den Puppen, um auch die Würmer zu retten.
Zu spät.
Eines Tages stieg aus der ersten Puppe ein Zweibeiner heraus. Er sah sich um, verängstigt, betastete seinen behaarten Körper und lief hinaus in eine Welt, die grün war. Und neu.

Vor dem Thron

Auf dem großen Stuhl aus schwarzem Holz, versehen mit zahllosen Augen, die den ganzen Saal betrachteten, saß eine Gestalt. Wer sie sah, der vermochte sich später an nichts mehr zu erinnern. Was man aber wusste, das war, dass diese Gestalt viele Nachkommen gezeugt hatte. Eines seiner Kinder war der Rote Tod gewesen, ein anderes stand gerade vor ihm.
"Was gibt es, mein Sohn?"
"Ich spüre sie. Sie handeln. Die ohne Körper. Die Betrüger."
"Was willst du, dass wir tun?", fragte die Gestalt.
"Es ist an der Zeit, Vater. Reagieren wir in deinem Namen."
"Wer ist im Besitz des Steines?"
Alea iacta est.

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Beitrag von Meister » 03 Okt 2012, 16:31

(Fortsetzung Kap. 3)


Argus

Der Wunsch seines Herrn Hrabanus musste erfüllt werden. Der Mönch namens Archimäos (oder zumindest der Mann Archimäös, der sich als Mönch kleidete) musste sterben.
"Was für eine Rolle spielt er?", hatte Argus gefragt.
"Seit wann hast du Fragen zu stellen? Unser Ziel ist Blyrtindur. Bist du nicht bereit, alles dafür zu tun?"
Ja, das war er. Doch mehr und mehr stellte er sich die Frage, ob Hrabanus ihn auch noch brauchen würde, wenn alles getan wäre. Es lag nicht in der Natur eines Dybbuk, zu teilen. Das galt für Hrabanus wie auch für ihn selbst. Also würde er zwar die Befehle befolgen, doch würde er gleichsam etwas wie eine Hintertür finden müssen, um sich für das Kommende abzusichern. Dass Hrabanus selbst Herren gehorchte, den Zendavesta, machte es nicht leichter. Wenn er schon spüren würde, dass sein Untergebener unzufrieden wurde, dann wüssten es die Zendavesta ganz bestimmt.
Argus hatte von der Rebellion in den Reihen der Lichtwesen gehört. Zuerst waren es nur Gerüchte gewesen, die aber nach und nach immer mehr Gewissheit wurden; spätestens als der Name Cardun gefallen war, stand es fest. Vielleicht wäre es gut, mit ihm Kontakt aufzunehmen.
"Ein einfacher Mensch", stellte Argus fest, als er Cardun in der Nähe der Thylianeis begegnete.
"Was habt Ihr erwartet, Argus?"
"Vielleicht mehr."
"Es kommt nicht darauf an, was wir sind, sondern was wir tun und wie wir es tun. Ich bin bereit, meine Rolle zu spielen. Ihr auch? Was ist es, das Ihr wollt?"
Argus lächelte. "Die einfache Antwort wäre: Ich will alles. Aber es ist komplizierter. Ihr wisst, wem ich diene."
"Natürlich. Hat Hrabanus Euch gesagt, dass ich sterben muss?"
"Er hat gar nichts gesagt, was Euch betrifft. Ihn interessiert ein anderer."
"Lasst mich raten", sagte Cardun und schmunzelte.
"Ja, genau."
Sie mussten den Namen nicht nennen. Cardun schien alles zu wissen. Es konnte nur bedeuten, dass auch er von der Rebellion Wind bekommen hatte. "Ich spiele mit dem Gedanken, Archimäos nicht zu töten", sagte Argus schließlich. Damit riskierte er alles. Wenn Cardun ein Loyalist wäre, dann würde Hrabanus sie nun beide in den Tod schicken.
"Ihr wollt Eure Befehle missachten. Das wäre Euer Ende."
"Was kümmert es Euch?", fragte Argus.
"Eine ganze Menge. Nicht dass mir das Leben eines Dybbuk etwas bedeuten würde, aber Ihr würdet der richtigen Sache dienen, würdet Ihr Archimäos töten."
"Dann steht Ihr auf Hrabanus' Seite. Der nächste Schritt wird sein, dass Ihr ihm von diesem Gespräch berichtet."
Cardun schüttelte den Kopf. "Damit wäre keinem gedient, und ich hätte keinen Gewinn davon."
Nach dem Gespräch dachte Argus lange nach, bevor er sich entschloss, den Befehl auszuführen. War etwa die Furcht vor Hrabanus und den Zendavesta größer als sein eigener Wille, Macht zu erlangen? Macht, die Hrabanus niemals aufteilen würde?
Über all diese Fragen konnte der Dybbuk nicht mehr nachdenken, nachdem er den Milizionär auf die Mission geschickt hatte: Derkos und die anderen kamen, dann wurde es dunkel vor den Augen des Dybbuk.

Der Große Schatten erreicht seine Schar

Die Ketten seiner Nachkommen rasselten. Das Metall klirrte im Wind, vermischte sich mit den gequälten Schreien, die sie alle schon so lange mit sich getragen hatten. Er spürte den Schmerz aller. Es war so stark, dass er seinen eigenen Schmerz nicht mehr von dem der anderen unterscheiden konnte. Sie hatten gegen das Abyssarium gekämpft, vor langer Zeit:
"Sie haben die Ebene südlich der Thylianeis eingenommen. Es gibt kein Durchkommen. Crantavos und Lycirian sind gefallen, und ihre Armeen stehen ohne Heerführer, mit schwacher Bewaffnung und ausgehungert dem Feind gegenüber."
Der Bericht des Feendrachen ließ keinen Zweifel aufkommen: Es musste gehandelt werden. Man konnte keine Rücksicht mehr nehmen auf Pläne, Strategien und spätere Ereignisse. "Bewaffnet alle. Schickt die Feen als Kundschafter voraus, sattelt die Rösser und Drachen, es kommt nun auf uns an!", rief der General.
So zog die Armee der Grünen Felder in den Krieg. Der Marsch dauerte drei Tage, bis sie das Salzwasser in der Luft schmeckten. Aber der General spürte noch etwas anderes im Wind. Da war ein süßlicher Geschmack, der ihn erquickte und die Schmerzen in allen Gliedern verschwinden ließ. Und als sie sich dem Turm näherten, da fühlte er, wie die Verlockung von dort in seine Sinne gestiegen war. "Was ist das...", murmelte er.
"Herr?"
"Schon gut. Sammelt Euch. Zu den Waffen. Dort sind sie!", schallte es aus der Kehle des Generals, als er auf die Insekten deutete, die sich an der Küste formierten. Vom ehemals hellen Sand war kaum etwas geblieben, denn überall hatten sie ihre Nachkommen ausgebrütet, die sofort bereit waren, in den Kampf zu ziehen.
"Vernichtet sie, endgültig!"
Nachdem die Nebel des Krieges sich gelichtet hatten, da waren zahllose Insekten geflohen, zurück in die Erde. Truppen, die sie verfolgt hatten, berichteten, wie sie die Ungeheuer bis weit unter die Adern der Welt getrieben hatten, wo sie sich verpuppten und in einen Schlaf gefallen waren. "Wir können sie nicht verbrennen, es würde der Welt großen Schaden zufügen", erklärten die Weisen. "Dann versiegeln wir jedes Loch, aus dem sie gekommen sind. Und von da an müssen wir wachen - wenn sie eines Tages zurückkehren, müssen wir bereit sein." So geschah es.
Während die anderen sich darum kümmerten, lief der General zum Turm. Im Inneren fand er eine Quelle. Es war kein Salzwasser. Als er davon trank, schlossen sich seine Wunden, und er spürte endloses Leben in sich.
"Gefällt dir, was du siehst?", fragte eine unsichtbare Stimme.
"Wer bist du?"
"Im Gegensatz zu dir kann ich nicht davon trinken. Aber du kannst mir helfen, hinabzusteigen und meinen Weg in die Mitte der Welt zu finden. Ich kann dir helfen, das Leben der deinen, das Leben aller, zu schützen."
Der Stimme der Versuchung folgte ein dunkler Schatten. Der General erkannte, dass das, was dort war, mit gespaltener Zunge zu ihm sprach. Es war etwas Dunkles, hier an diesem lichten Ort. "Nein. Was immer du bist, geh fort von mir, ich will dich nicht!"
Die Stimme antwortete nicht mehr. Aber sie hatte von Kanälen gesprochen, die zur Mitte der Welt und einer noch größeren Quelle führen sollten. Eines Tages würde er versuchen, sie zu finden. Bis dahin aber wollte er das Geheimnis für sich bewahren. So beschwor er die Geister des Wassers und der Erde, und er versiegelte die Quelle, damit sie keine Macht mehr hätte. Er tat es, um alle zu schützen. Denn Gier war von Anbeginn der Zeit etwas, das es unter allen Wesen gab. Dass er in Wahrheit nicht teilen wollte, sprach er niemals aus.
Auch heute nicht. "Ihr habt mich gerufen. Und ja, ich spüre es auch, bald wird Erec uns rufen. Wir müssen seinen Ruf erhören!"
So würde er das Abyssarium erneut schlagen. Nicht nur Ruhm wartete auf ihn, auch die Quelle.

Aurelion findet Antworten

Der Prinzgemahl gab seiner Königin einen Kuss und verneigte sich, bevor er sich ein Pferd satteln ließ und in den Norden ritt. Er überquerte die Marmorbrücke und trug die Kapuze tief im Gesicht, dass ihn niemand erkannte. Sein Ziel war ein Turm, der in der Nähe des Berges, welcher die Straße von der Zwergenmine trennte, schon lang gestanden hatte.
Eine riesige Hellebarde versperrte ihm den Weg. "Ich muss den König sprechen, es ist dringend. Er hat mich eingeladen. Mein Name ist Aurelion."
Ein Oger führte ihn auf die Spitze des Bauwerkes, wo Tepok bereits wartete. Er gab dem Krieger ein Kommando, sodass dieser sich wieder nach unten begab. Offenbar hatte der König der Oger die Dringlichkeit erkannt.
"Majestät", sagte Aurelion und verneigte sich tief.
"Berichte mir von dem Traum, Prinz", sprach Tepok in einem beinahe befehlenden Tonfall. Aurelion erzählte ihm von dem, was er gesehen hatte. "Ich würde einen Traumleser um Rat fragen, doch nach allem was ich weiß, gibt es sie nicht mehr. Oder sie sind schwer zu finden."
"Ich habe einen Berater. Er lebt nicht in meinem Turm oder in der Nähe. Du hast einen weiten Weg vor dir, denn er zieht es vor, als Einsiedler seine Tage zu verbringen. Er ist weniger hilfsbereit als ich es bin. Deshalb werde ich dich begleiten."
Der König der Oger führte ihn durch den Norden. Sie mieden die Straße nach Tilhold, überquerten die Hügel bis sie die Schwarzberge erreichten. Dort führte ein Pfad mitten ins Gebirge. Kahl waren die Wiesen, die bereits von Reif und in den höheren Lagen von Schnee bedeckt waren. "Dort", brummte Tepok und zeigte auf eine Behausung, die nur aus Leder und Pelzen bestand, verbunden mit Sehnen und Knochen.
Der Oger, der heraustrat, war größer als sein König, hatte einen Buckel und nur noch ein Ohr. Das andere, so hatte er es unterwegs von Tepok erfahren, hatte der König ihm für seine Frechheiten abgeschnitten. "Dass ich dich wieder ertragen muss, Tepok", grunzte der alte Mann. An der Seite baumelte eine Keule aus Knochen, deren Spitze ein Ogerschädel war.
"Manchmal kann man es sich nicht aussuchen. Du bist sehr höflich und sprichst die Sprache des Menschen. Das bedeutet, du wirst ihn anhören", stellte Tepok fest.
"Das bedeutet, ihr sollt den weiten Weg nicht umsonst gemacht haben. Du wartest draußen, König der Oger." Die letzten Worte hörten sich sehr nach Spott an.
"Wie du willst."
Aurelion nickte dem König zu und folgte dem alten Mann. Das Innere der Behausung entsprach in etwa den Vorstellungen, die man beim Anblick des Äußeren hatte: Knochen, seltsame Düfte, Felle, Rauch und allerlei nicht erkennbares Zeug. "Setz dich hin, Prinzlein."
"Ihr wisst, wer ich bin?"
"Ich wäre nicht der, der ich bin, wenn ich nicht schon lang dein Kommen erwartet hätte, Aurelion, Sohn eines Untoten."
Aurelion nickte. "Ja, mein Vater ist speziell. Aber darum bin ich nicht hier. Es geht um das, was ich träume."
"Ja. Was wir träumen ist nicht weniger wahr als das, was wir erleben."
"Dann sind sie eine Weisung?", fragte Aurelion.
Der alte Mann lachte. "Das kommt wohl darauf an, wie du es verstehen willst. Vielleicht sind sie eine Warnung? Dir ist bewusst, dass die Zyklen der Erde ein Kreislauf sind, wie das Wort schon sagt?"
"Ich kann mit dem Gedanken etwas anfangen, ja."
"Das Rote, das du gesehen hast, ist der Rote Tod."
"Aber er ist vernichtet und vertrieben."
"Ja, das ist er. Und er kann niemals wiederkehren, das stimmt. Obgleich wir uns sicher sein können, dass es in deinem Traum ein Zeichen dafür war, wie sehr er und die Weiße Sonne Teil des Ganzen sind."
"Was ist das Ganze?"
"Der Lauf der Gezeiten. Niemals ist etwas ganz fort oder hier. Das Ende der Finsternis bedeutete die Ankunft der Weißen Sonne. Und wo Licht wächst, da wachsen Schatten. Nenne diese Schatten den Roten Tod oder die Schatten aus der Anderwelt. Im Grunde gehört das Licht immer zu einem Prinzip und die Dunkelheit zu einem anderen. Beide sind verbunden, durch Hass und durch die Art, wie sie die Welt sich drehen lassen. Sie sind das, was uns schafft. Ob wir Licht oder Dunkelheit in uns tragen, das ist ohne Belang, solang die Gezeiten SIND."
Aurelion verstand. "Was bedeutet es, dass ich im Tiefenwald so viele gesehen habe, tot, die mir etwas bedeuten oder die ich mindestens kenne?"
"Es ist das, was geschehen kann."
"Nicht, was geschehen wird?"
"Niemand weiß das. Aber man keine Ahnung davon bekommen, wenn man die Zeichen liest. Der Wald hat seine Rolle zu spielen, auch der Mann, den du gesehen hast. Sein Name ist Erec."
"Ich habe von ihm gehört."
"Und die, die ihm helfen werden, sie stammen von dem Ort, den wir heute den Tiefenwald nennen", erlärte der Oger.
"Eine Entscheidung wird dort getroffen."
"Ja. Eine Entscheidung. Aber du musst auch wählen: Willst du dem dienen, dem du dienst und damit auch in Kauf nehmen, dass er Opfer verlangt... oder willst du der Dunkelheit dienen, dem leichten und einfachen Weg."
"Ich diene nur einem."
Der Oger lachte. "Ja, das tust du."
"Was ist lustig daran?"
"Gar nichts. Ehrlich gesagt bin ich erfreut, dass es noch Menschen gibt, die klar wissen, was sie wollen und wem ihr Herz gehört, auch wenn deines geteilt ist."
"Mein Herz gehört Theresia. Amur predigt die Liebe. Das ist kein Widerspruch."
"Davon wirst du bald viel brauchen können, von deiner Liebe und all dem. Denn deine Träume sagen mir, dass ein scharlachroter Tod gekommen ist."
"Aber du sagtest, der Rote Tod sei fort", warf Aurelion ein.
"Habe ich gesagt, dass ich ihn meine? Wenn die Finsternis Blutzoll verlangt, dann ist es ein scharlachroter Tod, das Blut der Kranken und Schwachen. So war es schon immer."
"Die Finsternis?"
"Lazarus kämpft gegen Remigius. Hrabanus kämpft gegen Erec. Cardun kämpft gegen Archimäos. Alles ist ein sich wiederholendes Muster auf einem Teppich, den die Gezeiten weben. Und er ist rot."

Im Jahre 923

Die Tänzerin sah dem Boot nach. Archimäos war ihr viele Jahre ein Vertrauter gewesen. So vertraut, dass sie ihn nie gefragt hatte, wie es in seiner Gegenwart, einer fernen Zukunft für sie selbst, aussehen mochte. Viele Male hatte er ihr das Leben gerettet. Zuletzt, als Cardun sie verraten wollte und ihren Körper in Glas einfangen wollte, aus Liebe, wie er gesagt hatte. Doch sie war sicher, Archimäos würde sie niemals verraten.
"Wir sollten gehen. Die Schattensucher kommen bald, denn es dämmert schon", sagte Elyrio leise.
Bjartur nickte, hob sie vorsichtig auf die Trage, damit er und Elyrio sie in Sicherheit bringen konnten. Seit Cardun den Zauber auf sie gesprochen hatte, dem sie gerade noch entgehen konnte, wirkte die Lähmung mit jedem Tag zwar schwächer, aber noch konnte sie nicht allein laufen.
"Ich bin euch eine große Last", sprach sie leise, während sie weiter auf den Ozean schaute. Ihr Kind fort, Archimäos fort. Wen musste sie noch gehen lassen, um das zu retten, was übrig geblieben war von dem, was sie selbst nur aus Legenden kannte?
"Nein, das bist du nicht", sagte Elyrio.
Oft fragte sich die Tänzerin, ob ihre eigenen Eltern auch die Trauer spürten, die sie stets umfing, wenn sie daran dachte, in was für eine Welt sie ihr Kind schicken würde. Ob sie es jemals bereut hatten, zum Wohl aller ihr Kind auf die Welt zu entsenden, ohne all die Fähigkeiten und Kraft, die es in der Heimat sein Eigen nennen konnte? Hier war sie keine Tänzerin. Hier war sie nicht die Tochter himmlischer Herren, des einen Gottes und seiner Gemahlin, der Mutter der Elaya. Hier war sie nur sie. Und die Tänzerin war sich nicht sicher, ob sie wirklich alles getan hatte.
"Verdammt, dort ist einer...", flüsterte Bjartur, nahm die schwarze Decke und warf sie über Elyrio und die Trage. Die Tänzerin hörte nur das Rasseln der Ketten, das Krächzen, und dann spürte sie, wie die toten Augen der Schattensucher den Wüstensand absuchten - nach ihr. Denn sie war das Ziel. Erst recht nun, da Erec auf das Meer geschickt worden war. Sie würden sie finden und quälen. Sie würden Elyrio und Bjartur vor ihren Augen foltern und töten.
"Wir können weiter", murmelte Bjartur, nahm die Decke an sich und stapfte voraus. Elyrio lief hinten und hielt ihre Hand. Sie war so erleichtert, dass beide hier waren. Wenn sie auch nicht wirklich hier waren. Aber besser ein Traum als gar nichts.

Hrabanus

"Sie haben den Seelenfarn geborgen. Wieso habt ihr es zugelassen?"
Eine der Königinnen sprach zu ihm. Ihre Bilder wurden Worte. "Es war richtig. Sie haben die Wachen dort in einem gerechten Kampf besiegt, und weitere Truppen waren weit weg von dort im Kampf. Vielleicht hättest du selbst besser aufpassen sollen, Mensch."
"Ich bin kein Mensch! Schon bald gehört mir Blyrtindur. Dann werdet ihr euch wünschen, ihr hättet mehr Gehorsam gezeigt."
Das Insekt krächzte. "Die Zendavesta wird es nicht erfreuen, deine Worte zu hören."
"Ich habe getan, was sie wollten. Archimäos dürfte bereits tot sein, und alles andere ist ebenso vorbereitet. Ich habe meinen Teil erfüllt. Ihr Krieg interessiert mich nicht, ebensowenig wie das, was ihre Gegenwart ist. Solange ich die Insel bekomme, die sie mir versprochen haben."
Hrabanus lief durch den Stock und suchte einen einsamen Platz, um die Gedanken schweifen zu lassen. Für ihn war alles damals in der Höhle begonnen. Und wenn er alles tun würde, was die Zendavesta verlangten, dann würde man ihn reich belohnen. Nicht nur die Insel, auch der Stab aus der Höhle wäre dann sein. Oft stieg er nur hinab, um ihn zu betrachten. Selbst als er damit gedroht hatte, die Spieluhr und die Glasfrau zu zerstören, war er doch nur dort, um den Stab zu sehen. Alles drehte sich darum. Mit der Macht dieses Artefaktes wäre er ein Kaiser, vielleicht sogar ein Gott. Nichts stünde zwischen ihm und der allumfassenden Macht! Aber wie konnte er glauben, dass die Zendavesta ihm diese Kraft einfach überlassen würden? Die Königin hatte Recht: Davon war nicht auszugehen. Eines Tages würden sie ihn sicher fallenlassen. Gab es denn keinen Ausweg?
"Natürlich hast du einen Ausweg, Noncorpus", flüsterte eine Stimme.
Hrabanus fuhr herum. "Wer bist du?"
Vor ihm stand ein kleiner geflügelter Mann. Wie ein Dämon, nur missgestaltet und sehr kurz gewachsen. "Ich bin nur ein Bote. Abbadon betrachtet deine Anmaßungen mit Sorge. Die ganze Außenwelt tut das. Willst du damit aufhören, seinen Namen zu benutzen, Noncorpus?"
"Nenne mich nicht so!"
"Wage es nicht, größer zu sein als du wirklich bist, Noncorpus", zischte der kleine Teufel und verschwand so schnell wie er gekommen war.
Hrabanus kniete nieder, hielt die Hände an den Kopf und schluchzte leise. War es nicht sein einziges Ziel, größer zu werden als er war? Mehr aus sich zu machen als das? Viel mehr zu sein als das Resultat einer Erleuchtung? Die Zendavesta hatten es ihm versprochen, doch es wurde immer deutlicher, wie sehr sie davon eines Tages abrücken würden. Ihre eigene Welt, hatten sie gesagt, liege in Trümmern. Darum wollten sie sie hier in dieser Zeit neu gestalten. "Ich spiele bald keine Rolle mehr in ihren Plänen", flüsterte er.
In den Momenten des Zweifelns zog es ihn immer in die Höhe, um den Stab zu sehen. So auch jetzt. Als er sie betrat, blieb er einen Augenblick stehen. Er liebte die Momente, die ihn langsam dorthin brachten. Um die Ecke schauen, das Licht des Stabes sehen und sich ausmalen, was er alles tun könnte. So schloss er die Augen und trieb sich in seine Gedanken für die Zukunft. Aber anstatt sich auf dem Thron über Blyrtindur zu sehen, wie ihn alle, die ihn liebten und verehrten, berühren wollten, weil sie ihm heilende Kräfte zusprachen, sah er Erec. Der Nordmann hatte nicht Unrecht damit gehabt: Er liebte seinen Bruder. Trotz allem. Und trotz allem bedauerte er es, dass er ihn eines Tages würde töten müssen, für das höhere Ziel. Es war unvermeidlich. Das hatten bereits die Zendavesta gesagt: Ein Bruderstreit sei das Symbol für den ewigen Zwist der Welt mit sich selbst. Und Erec und er selbst, Hrabanus, waren auserwählt.
Er schüttelte die Gedanken ab, öffnete die Augen und betrat die Kammer. Doch der Stab war fort. Bevor er überlegen konnte, wer der Dieb gewesen sein könnte, traf ihn ein Schlag bis ins Mark. Im nächsten Augenblick sah er sie, die Tänzerin.

Alricus

Der junge Kelte stieg auf ein Pferd, das er in der Nähe des Dorfes entdeckt hatte. Er warf einen letzten Blick auf seine getöteten Kameraden und dann auf den Turm, wo die Finsternis lauerte. Er hoffte, dass es einen Weg geben würde, sie zu bannen. Es wäre das Ende von allem, wenn diese "Kreatur" erneut auf die Welt losgelassen werden würde. Zu viel Böses gab es, das sich ihr anschließen könnte: Das Abyssarium, vielleicht die Schatten aus der Anderwelt (wenn es Erec nicht gelänge, sie zu führen), Hrabanus.
So ritt er wie der Wind ins Landesinnere, um seine Druiden zu befragen. Vielleicht würden es einige Erec erlauben, das Land wieder zu betreten. Andere sogar könnten ihm folgen, um das Abyssarium in die Knie zu zwingen. Alricus erreichte das Heimatlager. Er begrüßte sein Weib und seine Kinder, dann lief er eilig in das Zelt der Druiden und trug das Anliegen vor: "Ich weiß, dass Erecs Taten nicht zu vergeben sind. Aber wäre es nicht im Sinne allen Lebens, der Natur und jedes Einzelnen, wenn wir das Abyssarium von dieser Welt tilgen würden? Sie mögen ein Teil davon sein, aber alles was sie bringen sind Krankheit und Tod."
"Nicht sie sind es, die das tun, Alricus. Es sind die Menschen selbst, die es vermögen. Wir schaffen uns selbst die Krankheit und den Tod. Es spielt also kaum eine Rolle, mein Sohn."
"Aber Vater, was, wenn wir es ändern könnten?"
"Du sagst selbst, die Finsternis ist dort. Wie willst du es schaffen, sie ebenso zu schlagen? Es ist unwichtig, was das Abyssarium vermag, wenn ihr die Finsternis nachfolgt. Sie erfüllt so leicht die Herzen der Schwachen, dass es weder des Abyssariums noch anderer bedarf, die Welt in die Knie zu zwingen."
Alricus wurde zornig. "Dann sage mir, warum leben wir noch? Warum töten wir uns nicht selbst, wenn doch alles dazu bestimmt ist, zu sterben und zu verderben!"
"Ich will dir eine Art Gleichnis erzählen: Die Haut des Tieres war braun. Sie war überzogen von einem dünnen Film aus durchsichtigem Schleim, der eine Schicht über den oberen und unteren Leib bildete. Dieser Schleim lief aus kleinen Drüsen, die am ganzen Körper wie Dornen aufrecht standen.
Versehen war die gepanzerte Haut auch mit anderen Stacheln, damit ein möglicher Feind es nicht einfach verspeisen konnte. Am Rücken erhoben sich schwarze Haare, die im Wind der Wüste wie das Haar einer Prinzessin schaukelten.
Der Rücken selbst bestand aus mehreren Teilen, die wie Ringe aneinander lagen. Jedes Glied konnte sich allein bewegen, damit das Tier sich durch die Steine winden konnte, um Beute zu machen. Am Rücken hing ein dünner Schwanz. Er war so dürr, dass er mit den Haaren schaukelte. Am Ende des Schwanzes war eine runde Kugel angebracht. Damit klopfte das Tier auf den Boden, um kleine Käfer und Spinnen aufzuscheuchen.
Das Tier hatte fünf Beine. Angeordnet waren sie wie die Finger einer Hand. Auch die Länge der einzelnen Beine, die alle unter dem Kopf hingen und sich nach hinten drehten, entsprach der Länge von verschiedenen Fingern. Die Zehen waren schwarz und bildeten glänzende, spitze Krallen, damit die Beute festgehalten werden konnte.
An der Spitze des Kopfes hingen noch an jeder Seite zwei längere Arme, die auch versehen waren mit den Drüsen und Haaren. An den Spitzen der langen Fangarme, die in der Mitte von jeweils drei schwarzen Sehnen unterbrochen wurden, hingen Scheren, um die Panzer anderer Tiere knacken zu können.
Lange Schleimfäden hingen am Maul, das ansonsten zahnlos war. Es war rund und hatte keine Lippen. Dahinter lag ein innerer Schlauch für die Aufnahme der Nahrung. Die Zunge war in der Mitte geteilt. Darauf lagen auch kleine Haare, damit das Tier, wenn es noch nicht satt war, die Nahrung würgen konnte, um sie noch einmal zu verspeisen.
Die innere Haut des Rachens war scharlachrot. Kleine Poren darin konnten sich öffnen und schließen, um die aufgenommene Speise mit Speichel weicher zu machen.
Die Nahrung lief also von den Beinen oder Armen in den runden Mund, wurde von der Zunge an die Poren gerieben und eingeweicht. Dann stellte sich das Tier immer aufrecht hin, damit die Nahrung schneller in den hinteren Bereich gelangen konnte. Die Rückenglieder, die es auch innen gab, bewegten sich gegeneinander und verdrehten sich wie nasse Zahnräder, so dass die Nahrung in den Magen gelangen konnte. Der Magen war ein Dottersack, in dem die weiche Nahrung zerkleinert und aufgenommen wurde in ähnliche Poren wie im Rachen.
Wenn das Tier noch nicht satt war, dann stellte es sich auf seine Scheren auf und ließ mit entgegengesetzten Bewegungen der Rückenglieder die Nahrung durch den Körper zurück laufen. Aus Poren glitten entnommene Teile zurück, damit am Ende wieder die ganze unverbrauchte Nahrung vor dem Tier stand. Dann fraß es erneut auf die beschriebene Weise. Und wurde es wieder nicht satt, dann wiederholte es den ganzen Ablauf und so fort.
Das Gesicht des Tieres bestand aus dem beschriebenen Mund, es hatte keine Nase. Es atmete auch nicht. Die Augen waren sehr groß geraten und standen ein wenig hervor, um Beute schneller zu finden. Ansonsten glichen die Augen des Tieres einem alltäglichen Blick. Überhaupt schien das Gesicht insgesamt nicht genau das eines Tieres zu sein.
Das Tier war einzigartig. Es gab kein anderes dieser Art. Seine Manieren waren sicher nicht die besten, aber essen mussten eben alle. Und Nahrung wurde immer knapper in der Wüste.
Das Tier presste den Mund weit auseinander, so dass er sich über den ganzen Kopf erstreckte. Die Arme drückten den Kopf und den Leib in den Magen, dass sie selbst darin verschwanden.
So konnten die Stacheln es nicht verletzen. Dann schob sich der Schwanz verkehrt herum in die hungernde Öffnung. Am Rücken, der von innen hineingezogen wurde, kletterten die Beine entlang (sie waren wie Finger gegliedert), schoben alles auseinander und krochen in die Schwärze. Dann lag das Tier im eigenen Magen satt in der Wüste.
Würde es noch einmal hungrig sein, dann könnte es den Vorgang ja umkehren und wiederholen. Das Tier schlief glücklich ein. Der Magen rutschte unter einen Stein.
Indes wurden die Käfer unter dem Stein sehr satt durch das wehrlose Tier. Alle waren zufrieden."
"Willst du sagen, dass die Menschen nur sich selbst zerstören und wir darum nur scheitern können, Vater?"
"Erkenne den Sinn dieser kleinen Geschichte und du siehst, dass wir nichts tun können."
Alricus wollte gerade antworten, da kam ein Späher in das Lager. "Etwas tut sich am Turm! Erec ist dort!"

Erec

Elyrio öffnete die Spieluhr, und die Musik schien die ganze Ebene zu erfüllen, als die Tiere schwiegen und der Wind ganz still geworden war. Erec schloss die Augen und lauschte den Klängen, die er auswendig kannte. Er dachte an seinen Bruder, an die unbeschwerteren Tage und es wurde ihm immer klarer, dass nur der Tod von Hrabanus das Ziel sein konnte. Seine Predigt, von der Gleichheit aller und der Liebe zum Nächsten, sie schienen zu verblassen. Als er die Augen öffnete, da nickte Archimäos ihm ermutigend zu. Yishan öffnete ebenso die Augen, und Ascanio entzündete die Wurzeln. Der süße Rauch erfüllte bald schon das ganze Lager.
Dann ging es ganz schnell.
Yishan und er schrien beide gleichsam auf, als ein stechender Schmerz bis in ihre Seelen glitt. In seinen Gedanken sah Erec ein weites Meer und einen blauen Himmel. Ab und an spürte er die Wärme einer weiblichen Brust, die ihm Nahrung spendete. Wüstensand wirbelte durch die Salzluft, und dann öffnete sich ein Sog, der ihn in eine schwarze Höhle brachte. Er erinnerte sich, wie eine Stimme, die er später in der Nordfrau Hlifa wiedererkennen würde, ihm zuflüsterte. "Ich kann dir alles geben, was du willst." Dann die Insekten, es folgte der lange Weg vom Tal Beltain bis zur Thylianeis. Er sah Aldwyn, und er sah seinen geliebten Bruder. Schließlich die Schatten aus der Anderwelt, von denen er geglaubt hatte, sie würden das Dunkel aus den Urgründen der Welt bezwingen. Sein Frevel. Doch plötzlich schwanden die Bilder aus fernen Tagen und er sah das, was zu tun war: "Ich kann sie lenken!", rief er. Er war sich nicht mehr sicher, ob er die Schatten aus der Anderwelt damit meinte oder die Trägerin der Stimme aus dem Dunkel.
Eine durchsichtige Gestalt trat aus Yishan hervor und stieg in Erecs Körper - nun war er wieder ganz.
Im nächsten Augenblick stürzte Elyrio, und ihm entglitt die Spieluhr. Sie sahen einander an. Und Erec erkannte, was Elyrio, sein Vater, nun sehen konnte: "Du bist mein Sohn", flüsterte der Mönch, als bereits die ersten Geschosse die Wachen niederstreckten.

Tepok erhält auch eine Antwort

Der König der Oger hatte mehrere Stunden vor der Behausung des weisen Mannes gewartet. Endlich trat Aurelion heraus.
"Hast du deine Antworten, Prinzlein?"
"Du solltest deine Männer bewaffnen. Es ist dasselbe!"
"Was ist dasselbe, sprich klare Worte."
Da erhielt Tepok seine Antwort, und so schnell wie er seine Mannen bewaffnete, sollte man meinen, das Ende der Welt wäre gekommen.

Der große Wächter betritt die Bühne

Seinen Namen hatte er vergessen. Aber sein Name war alles, das wusste er. Der große Wächter nahm die Feder zur Hand und führte fort, was andere begonnen hatten.
"Benötigst du noch etwas?", fragte sie ihn.
"Nein, ich habe alles, was ich brauche."
So schrieb er von einem Turm und was darin wartete.

Die Frau im Nebel

Roan wusste nicht, ob er sie mit sich ziehen sollte oder nicht. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Alles, was er wollte, war nun so fern wie nie zuvor. Er, die Finsternis, hatte wieder einmal alles verloren. Zuerst war es mit Lazarus misslungen, nun erneut. So schloss er die Augen, und er sah keinen Nutzen darin, die Frau weiter zu halten. Er hörte, wie etwas sie zurück in die Welt warf, und dann war er allein.
Dennoch war sie der letzte Mensch, den er berührt hatte.
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

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Beitrag von Meister » 04 Okt 2012, 16:56

Epilog


Ein General

"Die Kelten haben sich beraten. Es geht um das, was man im Turm entdeckt hat. Es ist eine Gefahr für das ganze Land. Wir sollten sie bannen."
Die Worte des Generals ließen alle anderen Ledharthien schweigen. Niemand hätte geglaubt, dass es zurückkehren würde, aus dem Mathricodon. Aber nun war es eine Tatsache. "Ich werde mir das persönlich ansehen."

Ein stolzer Jäger

Gunnar trug einen Namen, den viele trugen. Es war einer wie ihn viele andere Mütter ihren Söhnen gaben, ob nun in der Ostfold, der Vestfold, sogar weit oben im Jorganschelf, wo der Tod ein ständiger Begleiter war. Und genau hier lebte der stolze Gunnar. Er war kein Diener Hels, nie gewesen. Obschon in der kalten Gegend, zwischen den Gletschern und kargen Wäldern, jeder zweite diesem Glauben oder anderen finsteren Kulten angehörte, hatte sich Gunnar von Beginn an Tyr verschrieben. Oft war es schon zu Problemen mit den ansässigen Heldienern gekommen, aber Gunnar war es stets gelungen, sich und vor allem Frau und Kind zu beschützen. Die Jagd war ein einträgliches Geschäft, hungerten sie alle doch trotz der Kälte nicht. Nein, keineswegs. Das Leben im Jorganschelf war hart, aber der stolze Gunnar stand seinen Mann.
So trug sein treues Ross auch heute einen fetten Hirsch, den Gunnar schnell erlegt hatte. Das Ausnehmen aber wollte er nicht an Ort und Stelle erledigen, denn es drohte ein Schneesturm. Er führte das Pferd über die wenigen Pfade, die noch nicht vom Neuschnee bedeckt worden waren, hielt stets Ausschau nach Gefahr und freute sich bereits auf einen warmen Met in der heimatlichen Stube. Es würde ihn wärmen - natürlich fielen ihm auch noch andere Dinge ein, die er tun könnte. Er lächelte, und es wäre ihm im Traum nie eingefallen, wie schnell sein Leben sich von einem Augenblick zum nächsten verändern würde:
Als er die Hütte erreichte, da stand die Türe weit offen. Sofort schaute er zum Unterstand, wo sie ihr Holz lagerten. Niemand. Die Stalltüre war ebenso geöffnet, und das zweite Pferd, sowie die Gebirgskuh, sie waren verschwunden. Sofort ließ er die Zügel los, zog seine Axt und lief zum Haus. Da sah er sein Weib, mit weit geöffneten Lenden, feucht und verlockend. Aber ihre Haut war dunkel geworden, ihr Gesicht nur noch eine Fratze, und aus ihrem Mund lief pockenfarbener Schaum. "Was geht hier vor, bei den Göttern!", schallte es aus seiner Kehle. Er bekam keine Antwort, als sein Weib die Arme ausstreckte (sie waren unnatürlich lang!) und ihn packte. Eine stachelbesetzte Zunge stieß in seine Kehle, während sich ihre Lenden an sein Gemächt legten. Mehr sah er nicht, denn das Blut, das nun überall war, legte sich wie ein scharlachroter Mantel über das ganze Haus, das man auch im Frühjahr nimmer mehr sehen würde.
Im kalten Schnee fand ein Heldiener ein weinendes Kind, das er an sich nahm. Die Mutter des Helanbeters, eine Hexe, zog es für ihn auf.
Das war vor zwanzig Jahren geschehen.

Aus den Erinnerungen Elyrios

"Wäre man ein Falke, so würde man eines Tages mit den scharfen Augen sehen, wie ein junger Mensch - sein Name ist Erec - die Schlucht der Thylianeis betritt und sich mutig den Schatten der Vergangenheit stellt. Und würde man ihm weiter folgen, so würde man sehen, wie er sich seinem Bruder Hrabanus entgegenstellt. Ja, mit Falkenaugen sähe man, wie ein junger Kelte und sein Vater einem warnenden Ruf gefolgt sind, wie sie den Schicksalsturm betreten. Ein glänzendes Licht würde man sehen, das einen strahlenden Körper umhüllt. Der große Schatten würde ihm folgen, genau wie ein einfacher Mann, dessen Ziel es immer war, zu helfen.
Viele Pfade folgen dem Stabträger, aus allen Himmelsrichtungen. Dies alles sähe man, wäre man ein Falke.
In den Momenten, da uns deutlich wird, was wir nicht sind, wünschen wir es uns so sehr, dass wir einander bald vergessen."
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

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Beitrag von Meister » 05 Okt 2012, 14:55

ZWISCHENSPIEL II

- Vor dem Angriff auf Erecs Lager -


Wie ein Dybbuk träumt

Eigentlich träumen wir nicht. Wie könnten wir auch eine solch große Erfahrung machen, sind wir doch nicht aus Fleisch und Blut, wir von der Außenwelt. Haben wir einen Geist, eine Seele? Oder ernähren wir uns nur von dem, was wir geraubt haben? Haben wir ein Ich, ein Selbst? Oder sind wir nur Schatten dessen, was war? Ist das, was wir denken oder fühlen echt oder nur ein Teil von dem, was einst in dem Leib war, den wir übernommen haben wie Diebe ein Haus bis in den letzten Winkel durchsuchen, bis sie alles Wertvolle haben?
Nein, eigentlich träumen wir nicht. Und doch sehe ich Brulund. Ich sehe, wie man mich in ein Zelt gelegt hat, wie man Wachen aufstellt, und ich höre, wie man über Argus spricht. Ist er noch ein Teil von mir oder bin ich ein Teil von ihm? Warum erinnere ich mich an einen Namen, den ich selbst nie gehört habe? Weil es Fetzen sind, Dinge, die Argus gewusst hat. Aber eine leise Stimme singt mir, dass ich ihn kenne, diesen Namen. Hat Hrabanus ihn erwähnt? Haben unsere Feinde in Argus' Anwesenheit von ihm gesprochen? Nein, ich würde es wissen.
Warum sehe ich helle Schatten, wo nur Dunkelheit sein müsste? Wieso träume ich von einer Frau, die nicht Argus' Mutter war, sondern meine?
Eigentlich träumen wir nicht. Aber wenn wir schlafen, dann sehen wir Dinge. Und sie kommen aus uns selbst. Wie kann es sein, sind wir doch seelenlos, haben wir doch keinen Körper, der einen Geist tragen könnte, kein Herz, Liebe oder Trauer zu spüren.
Vielleicht erwache ich nimmer mehr. Ich fühle einen Stich. Er geht nicht in den Leib, in dem ich schlafe. Aber ich fühle, wie er sich tiefer und tiefer gräbt. Wie ein Dolch, aber da ist keine Klinge. Menschen beschreiben so Trauer und Leid, Furcht, Angst. Wie wenn einem die Liebe genommen wird.
Wir träumen.

Die Rebellen

"Er hat ihn an sich genommen. Er hat es gestohlen", sang ein Licht.
Ein anderes Licht gab Antwort. "Unsere Brüder wagen es wirklich. Sie wollen die Finsternis befreien. Sie glauben, sie könnten sie beherrschen."
Dann sangen alle Zendavesta gemeinsam. "Cardun, Cardun!"

Gwayan Einohr begegnet einem Verlorenen

Der alte Schamane stapfte durch den ersten Schnee. Heute war er nicht gut gelaunt, obwohl er den Winter liebte. Aber ein paar Halbriesen der Blodhord hatten sich einen Spaß daraus gemacht, sein Mittagessen zu entführen. So ein schöner fetter Schwarzbär! Wie er diese Bastarde verachtete, das konnte Einohr gar nicht in Worte fassen. Aber wahrscheinlich war das auch gar nicht notwendig, die verstanden ohnehin nur die Hälfte von dem, was man sagte. Also beschloss er, es auf sich beruhen zu lassen. Das nächste Mal aber würde er diesen Schweinehunden die Eier abreissen und sich ein paar Murmeln daraus machen. Denn Spiele spielte er gern, der alte Mann, der schon so viel gesehen hatte:
Begonnen bei den ersten menschlichen Siedlern (zumindest war das die einprägsamste Erinnerung in einem sehr langen Leben, das weit über diese Zeit der Welt hinausging), bis zu den Bürgerkriegen, den Thronfolgekriegen, der Finsterschlucht und der Invasion durch die Blodhord. Und ebenso die Finsternis hatte er gesehen, wenn auch aus der Ferne.
Er beschäftigte sich nicht gern damit. Das Urböse konnte nämlich nie ganz vom Erdenrund vertrieben werden - wie auch, denn wäre alles gut, wüsste man es noch zu erkennen und zu schätzen? Der Unterschied, der war wichtig. Außerdem erkannten die wenigsten Leute, dass sie alle Teil der Finsternis waren, wie auch alle Teil des Lichtes sind. So etwas lernte ein Oger schon von der Wiege an. So lehrte es die Erde. Alles, was entstand, war natürlich, gleich wie unnatürlich es einem auch vorkommen mochte.
Doch Einohr hatte die Hoffnung, dass Prinzgemahl Aurelion es verstanden haben könnte; Menschen waren ihm von allen Völkern die liebsten, denn sie waren so schön verschieden: Den einen erschlug er einfach, denn er mochte Einfaltspinsel nicht, den anderen lud er in sein Haus ein, um stundenlang nur zu reden oder ein Würfelspiel zu spielen.
Irgendwann war es ihm zu langweilig geworden, Wildschweine mit Eisklumpen zu bewerfen. Manche davon hätten einen guten Braten abgegeben, doch er hatte beschlossen, seine Beute den anderen Tieren der Berge zu überlassen. Außerdem konnte es seine schlechte Laune auch nicht vertreiben. So beschloss er, sich um die Schwächeren zu kümmern. Er fand ein einsames Graserkalb, das er schnell einfing, über die Schultern legte und eilig heim zur Herde brachte. Wäre doch schade, denn Grasermilch war etwas wirklich Schmackhaftes. So vergingen die Stunden. Als er einen Tannenwald erreichte, da sah er einen Wanderer, der wie irrsinnig durch den Schnee lief, viel zorniger als er selbst war.
"Verlaufen?", brummte Einohr.
Der Mann fuhr schnell herum, und Einohr erkannte ihn. "Nein, und selbst wenn, was ginge es dich an, Oger?"
"Eine ganze Menge. Siehst du, ich betrachte diese Gegend gern als meinen Rückszugsort. Und wenn du mich stören solltest, dann hast du ein Problem."
Der Mann lachte. "Du hast keine Ahnung, mit wem du sprichst."
"Oh, ich denke schon. Aber du hast andere Sorgen als mich. Das sehe ich. Gehen wir also unserer Wege und vergessen, dass wir uns je getroffen haben."
"Du bist anders als die meisten deines Volkes. Du sprichst das Bretonische akzentfrei."
"Ich ziehe es vor, die Sprachen der Völker zu lernen. Auf diese Weise lerne ich mehr über sie", antwortete Einohr.
"Eines Tages werde ich die Gelegenheit haben, dies auch zu tun. Wenn sie mich lassen."
"Warum sollten sie nicht?"
"Wenn du weißt, wer ich bin, dann kennst du auch den Grund, den sie haben könnten."
"Ach", brummte Einohr, "willst du mir sagen, dass man dich missverstanden hat? Ich glaube, was gerade geschieht, das ist doch sehr deutlich. Warum sollte man dich lieben?"
"Die Welt ist ein schlechter Ort, und ich kann das verändern."
"Das haben schon so viele gesagt, mein Freund. Und schau, was am Ende dabei herumkam. Nur noch mehr Elend, Leid und Tod. Gerade die Menschen sind wie ein Tier, das so gierig ist, dass es sich selbst frisst", sagte Einohr und grinste.
"Es scheint dich zu erfreuen."
"Nein, das nicht. Aber ich kann wohl sagen, dass es mich amüsiert, wenn immer wieder jemand denkt, dass er auserwählt sei, es zu ändern."
Der Mann schüttelte den Kopf. "Ich habe einen Bruder, sein Name ist Erec. Auch er mag denken, er wäre in der Lage, die Welt zu verändern. Doch sein Weg ist falsch. Wie kann er Liebe und Freundschaft predigen in einer Welt, die sich seit jeher zerfleischt hat?"
"Nicht die Welt tut das. Es sind wir. Wir alle sind sehr gut darin, alles zu zertreten, was uns die Erde gegeben hat. Du kannst vielleicht die Umstände ändern, aber nicht die Menschen selbst."
"Und wenn ich es doch könnte?", fragte der Mann.
"Dann bist du der erste. Vielleicht hat Erec die besseren Chancen, denn immerhin: Glaubt auch nur einer an das, was er predigt, wie du es nennst, ist es bereits der Keim einer neuen Zeit. Es mag tausend Jahre oder länger dauern, aber es wird geschehen. Hasst du ihn so sehr?"
"Ich hasse ihn nicht. Ich hasse nur, wie er die Dinge tut, die er tut. Gleich was ich bin, gleich was ich getan habe: Es ist alles zum Besten für alle Menschen."
Einohr brummte leise, bevor er antwortete. "Manch einer könnte dich einen Wahnsinnigen nennen. Dabei wissen wir beide, dass du nichts weiter bist als ein Körperloser. Sag mir, wie willst du DAS ändern, mh?"
"Wenn es dein Ziel ist, mich zu beleidigen, es wird dir nicht gelingen. Ich bin nur hier, um meinen nächsten Schritt zu planen. Jemand hat mir etwas gestohlen, und ich muss wissen, wer es war."
"Was hat man dir gestohlen?", fragte Einohr neugierig.
"Nichts, was dich interessieren würde. Sagen wir, das, was mich wirklich lebendig macht, was mir gibt, was ich brauche, das hat man mir genommen. Geraubt aus der Höhle, in die ich gefallen war, als ich jung war."
"Die Erde macht uns alle lebendig."
"Spar dir das, alter Mann."
Einohr lachte. "Nenn es wie du willst. Nicht ein pochendes Herz macht dich lebendig, kein Fleisch und kein Blut. Es ist die Seele, die uns Leben werden lässt. Und sie kommt aus dem Urgrund der Erde. Der Schlüssel zu allem ist Liebe. Die Liebe zum Nächsten, die Liebe, die wir der Erde spenden, selbst das Retten eines jungen verlorenen Tieres. Was, wenn ich dir sage, dass all deine Pläne verloren sind?"
Nun zögerte der Mann, bevor er antwortete. "Und warum? Weil ich nur Hass in mir trage, willst du das sagen?"
"Ich sehe keinen Hass. Ich sehe, du liebst deinen Bruder."
"Ja, das tue ich. Doch wieso sind meine Pläne verloren? Weil man mich betrügen wird? Damit rechne ich. Deshalb gehe ich meinen eigenen Weg. Die Zendavesta werden mich nicht mehr benutzen."
"Davon rede ich nicht. Etwas Dunkles ist wiedergekehrt. Etwas, das niemand besiegen kann. Es wird die Welt verschlingen. Die Welt, die du verändern willst."
"Wenn es so wäre, wieso gibst du dir dann noch Mühe, überhaupt etwas zu tun?", fragte der Mann.
"Ach, ich bitte dich, so denkst du von mir? Wer wäre ich, wüsste ich genau um die Zukunft? Aber denke einen Moment nach. Frage dich, ob du bereit bist, meine Worte als Geplapper abzutun, nur um am Ende zu erkennen, wie wahr meine Worte sind. Frage dich, was Erec tun würde. Dein Bruder. Vielleicht hat ER gestohlen, was du brauchst?"
Nachdem Einohr dies gesagt hatte, gab der Mann keine Widerworte mehr. Zornig lief er den Hang hinab, bevor er im Nebel verschwand.
Einohr schaufelte mit der Hand den Schnee von der Erde, berührte dann den Boden und sagte: "Ich hoffe, du bist nun zufrieden, Mutter."
Alea iacta est.

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Beitrag von Meister » 06 Okt 2012, 02:49

Kapitel Vier: Umbra Aeterna


Prolog


Eine Silberechse läuft in eine Falle

Graue Augen lauern im Dickicht. Die Beute ist ahnungslos. Dürre Beinchen können das Gewicht des Neugeborenen kaum halten. Es hat seine Mutter verloren. Verzweifelte Rufe. Der Sturm erstickt sie. Das Rauschen in den Bäumen und Sträuchern. Die Brandung. Nebel. Kein Stern, kein Mondlicht. Der Jäger wittert die Gelegenheit. Die grauen Augen werden schmaler, das Herz pocht. Kiemen sind geschlossen. Die Vorderbeine gebeugt. Ein Sprung. Ein Schlag und ein Biss. Der Geschmack von Blut und Fleisch.
Dann ein tiefer Schatten, schwärzer als die Nacht. Der Jäger stirbt.
Zuletzt sieht er, wie die großen Steine einen neuen Bewohner begrüßen.

Der Steuermann

Wie lang sie schon kein Land mehr gesehen hatten, das konnte keiner von ihnen beantworten. Wäre es nur das, es wäre die erwartete Not des Seemannes, doch selbst das Meer kannten sie nur noch als ein dumpfes Geräusch, als Tropfen, die durch die Wände auf den Boden sickerten, als einen letzten Gedanken, bevor ihre Fahrt zur Reise in ein Verderben wurde, das selbst der gemeinste Klabautermann sich nicht besser hätte überlegen können; ihre Reise war zum Fluch geworden.
Lithor hätte nicht im Traum daran gedacht, dass es auf diese Weise enden würde. Er war nicht immer der Kapitän gewesen. Früher war er der Steuermann. Er kannte die Meere wie kaum ein anderer (so wie es jeder Seemann von sich sagte), und die Mannschaft vertraute ihm. War der Kapitän zu streng und ungerecht, so kamen sie zu ihm, um Gerechtigkeit zu fordern. Und gab es etwas zu feiern, weil sie reiche Beute gemacht hatten, da war er an erster Stelle, den Rum auf die Männer zu verteilen. Das Leben als Seeräuber war hart, aber in gewisser Weise wurde man für die Entbehrungen belohnt, wenn ein reiches Handelsschiff aus Bretonia oder ein schwer beladener Gewürzhändler aus Samariq den Weg der Blutigen Lucia kreuzten.
Gefangene machten sie nicht, das konnte man sich nicht leisten. Aber sie waren immer stolz gewesen, niemals Frauen oder Kinder getötet zu haben (falls jemand so dumm war, ein Weibsbild an Bord zu lassen, versteht sich). Immerhin haben gesunde Kinder und üppige Frauen im richtigen Alter einen guten Preis auf den Schwarzmärkten der südlichen Lande. Nur von Nordmannen ließen sie die Finger, wie auch von den großen Seidenflotten Yaruns oder den Schwarzen Schiffen der Hun. "Wer nur weiß, wann er die Beute schnappen oder besser ziehen lassen sollte, der rettet sein schmutziges Leben", hatte der Kapitän immer gesagt.
Bis sie eines Tages auf die dumme Idee gekommen waren, diese Insel in der Nähe der Küste zu plündern. Die Warnungen der Abergläubigen hatten sie in den Wind geschlagen. "Sie ist verlassen, aber die Regentin hat sicher genug Plunder hinterlassen, den wir zu Gold machen können!"
Aber so war es nicht gekommen. Jetzt war Lithor der Kapitän. Auf einem fremden Schiff. Seine Mannschaft bestand aus knorrigen Leibern, viele davon wankten wie Betrunkene umher, andere aßen ihre gefallenen Kameraden. Kein Sonnenlicht zu sehen, kein Ozean und kein Land in Sicht. Lithor aber ließ seine Mannen nicht im Stich. Sie brauchten Gerechtigkeit.

Die Geliebte

Der Wind fuhr durch ihr onyxfarbenes Haar, und die stolze Hauptfrau betrachtete das Treiben ihrer Männer. Dass sie auf sie hörten und ihre Befehle ausführten, war nicht gerade die Art ihres Volkes. Es war ihr klar, dass sie es nicht aus freien Stücken taten. Sie fürchteten sich vor ihrem Ehemann, dem Khagan. Doch er hatte ihr die Verantwortung für diesen Teil des Unternehmens übertragen, und so sollte es geschehen.
Ihr Mann war ein gerechter Herr, aber nicht der Hauch eines Zweifels bestand, dass er Versagen ebenso hart bestrafen würde wie er einen Erfolg belohnte. Als sie in ihrem Zelt gelegen hatten und eine der Nebenfrauen gerade seine Lenden mit den Lippen liebkoste, während sie sich mit einer anderen Frau vergnügte, da war er plötzlich aufgestanden, hatte das Mädchen zur Seite gestoßen und blickte in den Himmel.
"Was hast du, mein erhabener Geliebter?", hatte die Nebenfrau gefragt.
Derweilen folgte sie, die Hauptfrau, seinem Blick. Der Himmel war schwarz, aber weit im Westen, da sahen sie einen hellen Streif, der wie ein riesiger Komet über den Horizont flog. Aber es war kein Komet. Es war das, wovon er immer gesprochen hatte, dem alle Vorbereitungen stets gegolten hatten. Es war das Geschenk Amurs.
"Jetzt fängt es an", hatte die Geliebte geflüstert.
Und nun waren sie hier, mitten in den Ereignissen. Denn die Finsternis, sie war zurück.
Alea iacta est.

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Beitrag von Meister » 11 Okt 2012, 16:47

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Der schwarze Panther

Leise schlich er durch die Gänge, seinen Blicken entging nichts, denn er war die Nacht. Niemand konnte ihm entkommen, denn er war schnell wie der Wind. Er folgte dem Stab der Erschaffung - oder dem, was übrig war. Viele würden dafür bezahlen, und sie würden es bedauern, den schwarzen Panther zu kennen.
"Wir sind da, mein Khagan."
"Gut. Bereitet das Ritual vor. Ich möchte nicht gestört werden", sagte der schwarze Panther und zog seinen Säbel.

Der Reisende hat seinen Frieden gemacht

Der Auftrag war erfüllt. "Finde die Skjöldburer und finde Hakir. Ich beschreibe ihn dir." Das waren die Worte Gwayans gewesen. Wie sie noch in der Einöde gestanden hatten, nahe der Küste und fern des Tempels, wo Elyrio, Bjartur und die Tänzerin Schutz gesucht hatten, da war Nerkols Gewissen rein gewesen:
Er wusste, dass der Abschied von seiner Frau für immer wäre, würden die Dinge nicht anders kommen. Seine Reise durch die Ewigkeiten bis in eine Vergangenheit von vor siebenhundert Jahren würde entscheiden, ob die Finsternis noch immer herrschen würde, ob Schattensucher am Himmel nach dem Widerstand suchten und ob überhaupt etwas davon jemals eine Wirklichkeit sein würde, die hundert oder tausend Jahre später in einem Geschichtsbuch oder einem Märchen Erwähnung finden würde.
"Ich liebe dich." "Und ich liebe dich." Das war der Abschied gewesen. Keine großen Worte, denn Worte waren nichts. Nicht in dieser Gegenwart, wo jeder Tag und jede Sekunde zählten. Eine Umarmung, ein Kuss, dann brachten Emes und Xenophilius sie auf das Schiff, das langsam durch die Nacht den Fluss hinab bis zur Bucht der Erleuchtung fahren würde, wo die anderen warteten. Gwayan geleitete ihn zur Kammer. "Du weißt, dass dies deine letzte Reise ist, nicht wahr?", fragte der Oger.
"Ja. Und ich bin bereit", sagte er, denn er hatte seinen Frieden gemacht.
"Wenn die Nachricht übermittelt ist, wird die Zeitmagie ihr Opfer verlangen. Ihr werdet sterben."
"Ja."
"Sollte es wirklich gelingen, sollte alles zum Guten gewendet werden, dann ist das hier niemals geschehen."
Würde Nerkol einfach eines Morgens erwachen und alles wäre nie geschehen, das Land nicht in der Hand der Dunkelheit und nicht so viele gestorben? Wäre der Verlorene Wald, den man vor langer Zeit Tiefenwald nannte, kein Friedhof für so viele wie Erec, Hrafna, Erika oder Lariena, den Namen, die nur noch ferne Schatten der Vergangenheit waren?
Dann der Schmerz der Reise. Die Dämonen, die ihn packen wollten, die Bewohner Skjöldburs, die ihn retteten. Hakir. Das Ritual, das Wissen um Argus, Roglund und das Traumzimmer. Eine Stunde, dann wäre er nicht mehr. Er saß in der Nähe der Palisade. Seinen Leichnam würde niemand finden, denn der Sicherungszauber würde ihn auflösen. Keine Spur hinterlassen. Ende.

Der Säbelrassler macht einen Tauschhandel

"So eine Hundskacke! Was war das?", fragte Bralla und pisste sich fast in die Hosen. Oder hatte schon unter sich gelassen. Es stank auf jeden Fall danach.
"Scheiß dir nicht ins Hemd, Mann", knurrte ein anderer.
"Na, ich weiß ja nicht, aber hast du so etwas schon gesehen? Hab ja schon einiges erlebt, aber so etwas nicht."
"Maul halten, und zwar alle", befahl der Säbelrassler. "Ich habe keinen Schimmer, was da gerade passiert ist, aber Lithor und die anderen sind verloren. Ich glaube nicht, dass die zurückkommen. Wir haben ihren Glatzköpfen ordentlich was mitgegeben."
"Ist es dir ganz egal, was aus ihnen wird?"
"Nein, Bralla, das ist es nicht. Aber ich bin weder ein Priester noch habe ich die Zeit, Gedanken daran zu verschwenden. Und ich sag dir, ich sag euch allen auch wieso: Wenn wir zu lange hier bleiben, dann kommt irgendeine Seepatrouille aus Bretonia noch auf die Idee, nachzusehen, was das für ein schwarzer Rauch gewesen ist, der hier in den Himmel gestiegen ist. Wollen wir so lange wirklich warten, mh?"
Die Männer waren sich einig, dass sie genau das nicht tun wollten. "Nein, aber vielleicht sollten wir machen, dass wir wegkommen", murrte Bralla.
"Ja. Durchsucht alle Häuser, nehmt mit, was irgendwie Wert hat und dann weg. Ihr habt zwei Stunden. Geiras und Olmo, ihr bleibt beim Schiff. Gebt Signal, wenn was auftaucht."
So geschah es. Der Säbelrassler war sich zwar sicher, dass dieses Ungeheuer nicht zurückkommen würde, denn wenn es alle hätte kriegen wollen, dann wäre das sicher passiert, aber vielleicht würden diese Glatzköpfe nochmal vorbeischauen. Dass die Wolke sowohl seine Männer als auch die anderen gepackt hatte, sagte ihm zumindest, dass sie nicht zusammengearbeitet hatten. Aber war da nicht ein Gesicht gewesen, in der Wolke?
Olmos Ruf beendete seine Gedanken. "Da kommt jemand, zu den Waffen!"
Der Säbelrassler lachte laut auf, als eine alte Frau des Weges kam. "Olmo kriegt es mit der Angst zu tun. Was können wir für dich tun, Mütterchen? Ganz schön gefährlich, hier herumzulaufen, so ganz allein..."
Bralla hatte sein Messer gezogen und stand hinter der Frau, aber der Säbelrassler schüttelte den Kopf. Das war nun wirklich nicht seine Art.
"Oh, was ihr hier tut, ist nicht meine Sache. Aber sagt, ich suche etwas und es kann sein, dass ihr es gefunden habt", sagte das Mütterchen und schien keine Furcht zu haben.
"Nun, du musst verstehen, wir teilen nicht", antwortete der Säbelrassler und schmunzelte. Die Frau kam ihm seltsam vor, aber vielleicht war sie auch nur verwirrt. "Sag, lebst du etwas hier?"
"Ich lebe mal hier und mal dort. Und ich suche ein Buch, nichts weiter."
"Ein Buch?" Er lachte.
"Ja, ein Buch."
"Haben wir hier Bücher gefunden?", fragte er Bralla.
"Einen ganzen Haufen. Die braucht kein Mensch."
Sie nannte ihm den Titel. "Kannst du lesen, Säbelrassler?"
Wieder musste er lachen. "Zu meiner Schande ja. Man hat mich mal gut erzogen, aber dann sind die Dinge nicht unbedingt so gelaufen, wie sie sollten."
"Oh, sie sind genau so gelaufen, wie sie sollten", sagte das Mütterchen und lächelte. "Darf ich es haben?"
"Was bietest du mir dafür?", fragte er, denn das Buch war tatsächlich unter dem Stapel zu finden gewesen.
"Ich sorge dafür, dass es nicht zurückkehrt."
"Was sagst du da?" Er lachte nicht mehr.
"Die Wolke wird euch verschonen, wenn ich es will", sprach sie nun ganz ernst.
"Sie will uns verarschen. Komm, ich erledige das", knurrte Bralla. Dann hörten sie alle ein unmenschliches Krächzen.
"Sind wir uns da so sicher?", fragte das Mütterchen und lächelte wieder, diesmal nicht freundlich, sondern eher drohend und recht entschlossen.
"Gebt ihr das verdammte Buch und dann weg hier!"
Diesen Handel würde der Seeräuber niemals vergessen, und sein Steuermann, wäre er hier, könnte jetzt seine Mannen beruhigen. Er konnte es nicht.

Eine Königin wird gestürzt

Kinder, die nicht ihren Ansprüchen reichten, fraß sie auf. Wenn ein Neugeborenes nicht sofort kampfbereit war, dann griff sie gierig mit den Scheren nach dem Wehrlosen, ließ das äußere Skelett zerspringen und saugte das weiche Innere einfach auf. Sie gebar Abertausende an Eiern, sodass sie es als ihr Recht als Königin empfand, die Schwachen gleich zu Anfang zu vertilgen, damit das Blut nicht verwässerte.
Die Dybbuk hatten ihr versprochen, ihnen das Licht zu schenken, das sie so lang schon behüteten, sobald ihr Anführer Hrabanus über die Schildkröte im Meer herrschen würde. So lange galt es, immer mehr zu gebären, mehr Arbeiterinnen und Kriegerinnen und Männchen, die sie immerzu begatten würden. Denn die Dybbuk hatten eine Armee gefordert. Dass man nebenher noch viele Zweibeiner fressen durfte, war angenehm. Zwar fürchtete sie die Schatten aus der Anderwelt, und der Verlust von Edai war auch nicht gerade etwas, das sie begeisterte, aber das Licht, das man Zendavesta nannte, wärmte und schützte sie vor allen Gefahren.
Nur nicht vor den eigenen Kriegerinnen. Plötzlich brachen sie hervor, durch einen Seitengang. Hundert Kriegerinnen stürzten sich auf die Eier der Königin, schälten sie auf und verspeisten den Nachwuchs. Panisch entsandte sie ihren Duft, aber die Kriegerinnen hielten nicht inne. Sie krächzte zornig, aber ihr Ruf verhallte, als zwei Herrinnen eindrangen. Die Königin setzte ihre Gedankenkraft ein, um beide zu lähmen - zu spät. Auch ihre Heere konnte sie nicht mehr warnen, als sich zwei Antennen in ihren Unterleib bohrten, während zwei Beine ihren Schädel einmal um den Hals herum drehten. Bevor ihr Kopf abknickte und sie nichts mehr denken konnte, bevor die Königin gestürzt war, sah sie, wie das Licht einfach verschwand.
Ihr Kopf lag irgendwo zwischen den gestorbenen Kindern, und eine Weile noch war sie in der Lage zu denken. Warum war dies geschehen? Ohne Warnung. Wieso erkannten diese Angreifer ihre Herrschaft nicht an und wo waren die Dybbuk? Wo war Hrabanus?
Er kam nicht. Dann dachte sie ihren letzten Gedanken: "Eine Rebellion."

Hrabanus

Viele Gedanken kamen über ihn. Zuerst und am längsten dachte er an seinen Bruder Erec. Wie konnte er nur so blind für das sein, was er wirklich wollte? Konnte er denn nicht sehen, dass die Kraft eines Noncorpus in der Lage gewesen wäre, die Finsternis zu verschlucken, so wie die Sonne die Regenwolken vertreiben konnte? Der Noncorpus war durch eine Erleuchtung enstanden. Was, wenn nicht die Erleuchtung der Seele wäre in der Lage, einfach alles zu erreichen, jenseits aller Gesetze der Natur oder der Magie?
Dann dachte er an die Quelle. Er musste sie erreichen. Jetzt hatte er alle Macht. Die Liebe zu Erec war gestorben, denn für Liebe war kein Platz in der Finsternis. Sie kannte nur ein Ziel, und dies galt es mit allen Mitteln zu erreichen. Und jeder Gefallene auf dem Weg dahin, ob eine Frau, ein Alter und Schwacher oder gar ein Kind, es spielte keine Rolle. Der Kampf in Brulund mochte schlecht ausgegangen sein, aber dafür hatte die Finsternis einen Weg entdeckt, ihr Ziel zu erreichen. Dass es unter den Zendavesta Rebellen gab, war ihr nur recht. Und wie es ihr recht war. Güte und Liebe fühlte sie nicht, aber es war nützlich, sie vorspielen zu können. Bald schon würde man ihr, würde man ihm, Hrabanus, folgen und alle würden sie, ihn, lieben.
Die Finsternis fuhr durch die Kammern der Welt, mal unter der Erde, mal darüber, mal im Meer, mal im Himmel. Schneller als der Wind, als alle Vögel dieser Welt, schneller als Blitz und Donner oder der Schall und das Licht konnte sie sein. Alles sah sie gleichermaßen, nichts war verborgen. Plötzlich erkannte sie, dass eines nicht mehr zu sehen war: die Quelle. Die verfluchten Hüter hatten die Insel entrückt - dies bedeutete eine Änderung aller Pläne. Ewige Blitze zuckten in der Ewigkeit ihres Wolkenleibes. Ganze Städte und Lande waren darin schon versunken, und sie trug die Erinnerungen zahlloser Wesen in sich, wie auch ihre Fähigkeiten.
Sie entsandte ihre willigen Diener, die Schatten der Anderwelt, um zu erfahren, was die Pläne der Zendavesta waren. Sie flog über das Meer, bis sie eine Küste fand. Diesen Ort kannte sie. Bis auf einige Silberechsen war er einsam und leer, und sie füllte ihn mit ihren Schrecken auf, denn hier könnte sie residieren. Dann befahl sie ihre Ungeheuer an all die anderen Orte, die ihrem Ziel dienlich sein würden.
Wo sie war, da färbte sich alles Leben Grau in Grau, und der Himmel verdunkelte sich. Dann hörte sie einen einsamen und verzweifelten Ruf eines Verlorenen, dem sie bis auf eine Ebene folgte - und mit ihr das entsetzliche Unwetter.

Faros

Der ehemalige Agent des Bretonischen Reiches saß an einem Lagerfeuer mitten in der Wildnis. Sein Pferd war schon gesattelt, aber etwas hielt ihn hier, mitten im Schnee. Wie immer hatte er seine Runde gemacht.
Er hatte gesehen, wie Siedler aus Terra Brumalis den Ort verließen, in die letzten Schiffe stiegen, um Blyrtindur hinter sich zu lassen. Andere hingegen betraten den Ort, mit eilig gepacktem Hab und Gut. Darunter waren nicht nur Bretonen, auch Nordleute, Kelten und sogar Hun hatte er beobachtet, wie sie in ihre jeweiligen Lager zogen.
Die Nachricht von der Abriegelung Blyrtindurs durch die Hüter, um zu verhindern, dass die Finsternis die Hauptquelle jemals erreichen würde, sie hatte sich sehr schnell verbreitet. Das Widersinnige daran war, dass die Insel gleichsam der sicherste wie auch unter gewissen Umständen bald auch der gefährlichste Ort der ganzen Welt sein würde, gefährlicher als das berüchtigte Jorganschelf oder gar die Insel des Himmelseisens. So war es wohl für die Flüchtlinge aus beiden Richtungen logisch, den einen oder den anderen Weg zu gehen. Am Ende lief es sowieso auf Folgendes hinaus: Nirgendwo war man tatsächlich sicher. Denn wenn Faros eines gelernt hatte, dann, dass der Gegner (ob nun ein Mensch aus Fleisch und Blut oder etwas Abstraktes wie die Finsternis, eine schwarze Wolke aus der bösen Energie des ganzen Kosmos) mit genug Willen, Motivation und Mitteln alles erreichen könnte. Nachvollziehbar, dass der eine gehen und der andere sich hier verbergen wollte. Beide Möglichkeiten beinhalteten jeden möglichen Ausgang des Geschehens, und für den einfachen Mann oder die einfache Frau tat sich zunächst nur einer der beiden auf. Bald schon, da war er sich sicher, würden alle begreifen, dass es schlicht kein Entkommen gab. Das war eben die Natur des Unausweichlichen.
Faros war geblieben. Und er würde auch bleiben, egal was kommen mochte. Jetzt gab es ohnehin kein Zurück mehr. Das Signal der Hüter, dass die Zeit abgelaufen wäre und die Insel entrückt, hatte ihn nicht beunruhigt, sondern bestärkt. Kein Beben, kein Rauschen des Meeres oder ein Erheben des Malstromes. Alles schien wie immer zu sein. Betrachtete man die Küste, so sah man den Ozean. Im nächsten Moment hätte ein Schiff anlegen können, so normal wirkte alles. Aber das war nicht so. Kein Schiff würde kommen. Versuchte nun jemand, die Insel zu verlassen, er würde durch einen Sturm oder einen Nebel (oder irgendein anderes natürliches Geschehen) einfach wieder den Strand Blyrtindurs erreichen. Die Insel war besonders. Und darum war er auch noch hier. Dies war nun seine Heimat.
Als die ersten Schneeflocken fielen, erhob er sich, legte sein Schwert wieder an, zog den Umhang enger und sah sich ein letztes Mal um. Es war, als würden selbst die Tiere der Wildnis spüren, dass nichts mehr war wie zuvor. Dass der ewige Zwist zwischen Gut und Böse, Ordnung und Chaos, erneut ausgebrochen war. Aber war er je zu Ende? War nicht alles Treiben in der Welt davon bestimmt, gleich wie man Freund und Feind auch nannte? "Jetzt wirst du auch noch philosophisch", sagte er leise und musste schmunzeln.
Er schüttelte den Kopf und wollte gerade losreiten, da sah er etwas in der Luft. Es war wie eine Spiegelung, wie die Trugbilder in der Wüste, von denen die Hun erzählten. Oder war es wirklich? Er stieg wieder vom Pferd, beruhigte es einen Moment und schlich hinter eine kräftige Tanne. Dann sah er Männer. Sie trugen kein Haar, aber auch keinen Pelz oder Mützen, um sich vor der klirrenden Kälte zu schützen. Sie standen einfach nur da und sangen. Sie sangen? Er fragte sich das selbst, da er dachte, sich zu täuschen. Als der Luftspiegel mehr und mehr brach, erkannte er ein Ecaloscop.
"Was bei Liras geht hier vor?", flüsterte er.

Baelon

Nach dem vierten ergebnislosen Verhör ließ Baelon den Gefangenen in den tiefsten Kerker werfen. "Ich wünsche drei Wachen und drei Bretonianer, die dieses ...Ding... Tag und Nacht nicht aus den Augen lassen, haben wir uns verstanden?"
"Jawohl, Mylord Kanzler", antwortete der Kerkermeister.
"Es wird mir schon gelingen, sein Wissen zu erlangen. Gleich wie", knurrte Baelon und schaute dem lächelnden Dybbuk nach.
Etwas musste es geben. Wenn diese Wesen die Insekten und vielleicht auch die Schatten aus der Anderwelt befehligten, dann kannten sie Pläne, hatten Strategien und insbesondere Ziele. Auf die kam es an. Baelon wollte auf keinen Fall risikieren, dass eines Tages die Erde aufbrach und mitten in der Stadt eine wilde Horde hausgroßer Insekten wütete. Allein der Gedanke daran ließ ihn erschaudern, aber gleichermaßen kam ein Schmunzeln über seine trockenen Lippen (die er gleich mit einem Becher Wein befeuchten würde), denn alles daran klang absurd. Und hätte er nicht selbst die Berichte über diese Wesen gehört, er würde es wohl kaum glauben. Dauerhaft hätte man ihnen nichts entgegenzusetzen. Dies stand fest.
"Schafft mir die Leiterin der Akademie her", befahl er.
Er trank bereits den zweiten Becher Wein, als ein Diener Maga Theralia ankündigte. "Herein mit ihr."
"Kanzler Baelon, wie immer ist es mir eine Ehre."
"Liras mit Euch, Maga Theralia. Zuerst möchte ich erneut mein tiefstes Bedauern aussprechen. Was Ulfgar von Roglund den Euren angetan hat, ist nicht zu vergeben."
"Das ist es nicht. Doch wie konnte man auch erwarten, dass jemand dazu in der Lage ist? Sagt mir, ist der Unterschied zwischen uns so groß, dass Ihr sagt 'den Euren'?", fragte sie prüfenden Blickes.
Baelon schüttelte sofort den Kopf. "Sicher wisst Ihr, wie ich es gemeint habe. Das erspart Euch die Frage und mir Erklärungen."
"Natürlich..."
"Er wird seine gerechte Strafe erhalten, und diese kann nur seinen Tod bedeuten."
Die Magierin schien zufrieden. "Wir beten, dass er leiden möge. Habt Ihr mich bestellt, um mir das zu sagen, werter Kanzler?"
"Nein. Um ehrlich zu sein, ich würde ihn gern umgehend richten lassen. Da sind die Königin und ich uns einig. Aber leider hat er unter Umständen wichtige Informationen, denn er hat nicht allein gearbeitet. Er hatte Unterstützung." Dann zögerte Baelon. "Und er ist nicht er selbst", sagte er schließlich.
Die Magierin schaute verwundert und interessiert. "Tatsächlich? Eine Besessenheit? Habt Ihr denn keinen Inquisitor, der sich des Mannes annehmen kann?", fragte sie und Baelon konnte den Spott in ihren Worten kaum überhören.
"Leider ist diese Angelegenheit weniger amüsant als Eure herablassende Antwort vermuten lassen würde, werte Zauberin. Es handelt sich nicht um eine klassische Besessenheit, sonst wäre er schon längst in einem dunklen Kellerloch der Kirche verschwunden, und - da bin ich mir sicher - der Lethos hätte sich gern persönlich seiner angenommen. Es handelt sich um etwas, das, wie ich gehört habe, Dybbuk genannt wird. Ich habe mir bereits alle bekannten Informationen von Abt Aldwyn und ebenso vom Blauen Turm geben lassen und stelle sie Euch zur Verfügung, damit Ihr dieses Ding befragen könnt und möglicherweise hinter seine Geheimnisse kommt. Was sagt Ihr?"
Sie nahm die Dokumente an, die er ihr nach seinen Worten gereicht hatte. "Ich bin einverstanden."
"Nehmt ihn auseinander, fügt ihm Schmerzen zu, lest seine Gedanken und Gefühle, falls er welche hat. Tut, was richtig ist in Euren Augen. Aber lasst ihn am Leben, solange er etwas zu wissen scheint. Stirbt er, bevor er antworten kann, ich sage Euch, es wird Euch nicht gefallen, was dann geschieht. Denn er ist ein Gefangener dieses Reiches, nicht der Akademie. Haben wir uns da deutlich verstanden?", fragte er zielgerichtet und forsch.
"Aber natürlich, Lord Baelon."
Nachdem er sie entlassen hatte, fragte er sich zwar, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte, ausgerechnet einen Betroffenen damit zu beladen, aber andererseits gab es keinen besseren Weg. So hoffte er, dieser würde Erfolge bringen.
"Lord Baelon, jemand möchte zu Euch", sagte der Kammerdiener, der noch in der Tür gewartet hatte.
"Wer und was will er?"
"Sir Allyen. Er sagt, es sei sehr wichtig."
Baelon ließ seinen Mentor und Freund sofort eintreten. "Sir Allyen, darf es ein Wein sein oder etwas Stärkeres? Ich kann heute genug davon ertragen."
Sir Allyen nickte. "Da bin ich mir sicher. Ich habe Euch etwas zu sagen."
Wenn ein Satz schon so begann, kam am Ende nichts Gutes dabei herum (und er sollte Recht haben). "So?"
"Die Finsternis, sie ist zurück."

Bephemos

Dass Velas und nicht er das Kommando über Terra Brumalis erhalten hatte, störte ihn nicht. Zwar war Bephemos der dienstältere Milizionär, aber Velas hatte einen Fuß in der Türe des bretonischen Adels. Und obwohl man hier so weit weg von all den Hofhühnern und Schnöseln war, so hatte es am Ende doch Bedeutung für jene, die Wert darauf legten.
Viele der Siedler hatten die Bande mit Bretonia schon lange gebrochen, sei es aus Enttäuschung, Wut, Ärger oder weil es gute Gründe gab, sein altes Leben hinter sich zu lassen. Dennoch legten einige Wert auf Etikette und die Herkunft, mit der man selbst angeben konnte. Nun, das vermochte Bephemos nicht, denn er war in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Geboren in Edai, hatte er das Kommen und Gehen einiger Herren miterlebt. Zuletzt war es Lord Erwyndyll gewesen, der nach dem schrecklichen Krieg gegen die Dunklen Alten für immer verschwunden war. Dies war auch der Augenblick, da Bephemos beschlossen hatte, einen neuen Anfang zu wagen. Er war bei der großen Schlacht vor dem Amurtempel in Samariq nicht dabei gewesen und hatte also keine Notwendigkeit, mit der Flotte ins Ungewisse zu segeln, aber es war die beste Gelegenheit gewesen. Seine Eltern waren früh gestorben und seine Brüder in alle Winde verstreut. Also war er den anderen gefolgt und ebenso auf der Insel gestrandet. Er hatte den Kampf zwischen Remigius und Lazarus erlebt, und nun war er immer noch dort, als die letzten Flüchtlinge die Siedlung verließen, während andere eintrafen, denn die Finsternis, so sagte man es, war wieder da.
"Na, jedenfalls hat Velas befohlen, die Überreste der Minotauren nach Viburna zu schicken. Sollen die sehen, was sie mit ihren Abtrünnigen machen. Eine Sekte, die an das Ende der Welt glaubt, na wem es Spaß macht", murrte Kardor und trank noch etwas vom Selbstgebrauten.
Nachdem Argus immer seltsamer geworden war und dann auch noch Minotauren, eindeutig nicht aus Viburna, gekommen waren, um Brumalis abzusichern, wie Argus es nannte, war Bephemos doch misstrauisch geworden und hatte dem Wicht Garsil und dem Wolf Namid davon berichtet. Dinge, die er gehört hatte. Nun war er froh, dass der Wolf und sein Rudel diese neuen Wachen getötet hatten. Ob nun Finsternis hin oder her, es konnte alles wieder seinen Gang gehen und man würde sich rüsten, wie eh und je. Und Brumalis würde dem Schrecken erneut trotzen, wie eh und je.
"Dann packen wir die Knochen und Überreste gleich auf ein paar Wagen und bringen sie in den Norden. Der Himmel wird immer grauer, es wird wohl noch 'ne neue Ladung Schnee geben", antwortete Bephemos und nahm auch einen Schluck.
Dann riefen sie ein paar Siedler zusammen, und gemeinsam lud man die Überreste auf. Die Wagen verließen Brumalis zur Mittagsstunde, und es war ausgemacht, dass sie am besten Schutz in Furlund suchten, falls das Wetter nicht mitspielen würde. Da es das auf Blyrtindur sowieso niemals tat, wollte Bephemos die Gelegenheit beim Schopfe packen und bei den Nordmannen gleich ein wenig Met kaufen oder tauschen. Ja, die Insel war seine Heimat geworden. Er liebte diesen Ort und konnte sich keinen besseren vorstellen.
Am Nachmittag hatten sie Viburna erreicht. Bephemos hatte den Minotauren die Geschehnisse berichtet. Sie konnten nicht anders, als die Überreste anzunehmen. Offenbar hatte man lange versucht, die Sekte zu verschweigen, die Schande zu verbergen. Nun war alles herausgekommen, und man wollte wohl den Schaden so gut und so schnell wie möglich begrenzen. Dass diese Sekte selbst auch Experimente gemacht hatte, an ihren eigenen Mitgliedern, hatte Bephemos noch heraushören können aus den gebrummten Andeutungen des Kommandanten. Scheinbar gab es sogar Untote unter ihnen, aber vor langer Zeit hätten sie die Insel verlassen oder Unterschlupf in den zahlreichen Kavernen und Labyrinthen unter der Insel gefunden. Dann war wohl nur zu hoffen, dass sie dort blieben.
In Furlund hieß man sie willkommen und begrüßte sie mit einem Fleischeintopf und viel Met. Ein alter Mann saß am Feuer und erzählte den Jüngeren, darunter auch Bephemos, der es sich mit einer jungen Nordfrau unter einem Fell gemütlich gemacht hatte, eine Geschichte:
"Gunnar trug einen Namen, den viele trugen. Es war einer wie ihn viele andere Mütter ihren Söhnen gaben, ob nun in der Ostfold, der Vestfold, sogar weit oben im Jorganschelf, wo der Tod ein ständiger Begleiter war. Und genau hier lebte der stolze Gunnar. Er war kein Diener Hels, nie gewesen. Obschon in der kalten Gegend, zwischen den Gletschern und kargen Wäldern, jeder zweite diesem Glauben oder anderen finsteren Kulten angehörte, hatte sich Gunnar von Beginn an Tyr verschrieben. Oft war es schon zu Problemen mit den ansässigen Heldienern gekommen, aber Gunnar war es stets gelungen, sich und vor allem Frau und Kind zu beschützen. Die Jagd war ein einträgliches Geschäft, hungerten sie alle doch trotz der Kälte nicht. Nein, keineswegs. Das Leben im Jorganschelf war hart, aber der stolze Gunnar stand seinen Mann.
So trug sein treues Ross auch heute einen fetten Hirsch, den Gunnar schnell erlegt hatte. Das Ausnehmen aber wollte er nicht an Ort und Stelle erledigen, denn es drohte ein Schneesturm. Er führte das Pferd über die wenigen Pfade, die noch nicht vom Neuschnee bedeckt worden waren, hielt stets Ausschau nach Gefahr und freute sich bereits auf einen warmen Met in der heimatlichen Stube. Es würde ihn wärmen - natürlich fielen ihm auch noch andere Dinge ein, die er tun könnte. Er lächelte, und es wäre ihm im Traum nie eingefallen, wie schnell sein Leben sich von einem Augenblick zum nächsten verändern würde:
Als er die Hütte erreichte, da stand die Türe weit offen. Sofort schaute er zum Unterstand, wo sie ihr Holz lagerten. Niemand. Die Stalltüre war ebenso geöffnet, und das zweite Pferd, sowie die Gebirgskuh, sie waren verschwunden. Sofort ließ er die Zügel los, zog seine Axt und lief zum Haus. Da sah er sein Weib, mit weit geöffneten Lenden, feucht und verlockend. Aber ihre Haut war dunkel geworden, ihr Gesicht nur noch eine Fratze, und aus ihrem Mund lief pockenfarbener Schaum. "Was geht hier vor, bei den Göttern!", schallte es aus seiner Kehle. Er bekam keine Antwort, als sein Weib die Arme ausstreckte und ihn packte. Eine stachelbesetzte Zunge stieß in seine Kehle, während sich ihre Lenden an sein Gemächt legten. Mehr sah er nicht, denn das Blut, das nun überall war, legte sich wie ein scharlachroter Mantel über das ganze Haus, das man auch im Frühjahr nimmer mehr sehen würde.
Im kalten Schnee fand ein Heldiener ein weinendes Kind, das er an sich nahm. Die Mutter des Helanbeters, eine Hexe, zog es für ihn auf."
Manche schienen sich zu langweilen, denn offenbar hatte der Alte die Geschichte einmal zu oft erzählt. Was Bephemos daran aber beunruhigte, das war die Art, WIE sie erzählt wurde. Die Stimme des Alten war nicht die eines Märchenerzählers, wie man sie in Bretonia oder bei den Hun kannte. Entgegen aller üblichen Weisen war seine Stimme nüchtern und kühl geblieben. Und auch die Wortwahl glich ihm eher wie ein Bericht. Ja, die Geschichte hörte sich wahr an.
"Was hast du denn, mein Kleiner", fragte Janna, das war der Name der Frau.
"Ach, nichts. Es ist nur..."
"Angst hat er!", brüllte ein anderer am Feuer und lachte.
Bephemos beschloss, das Ganze zu vergessen, lachte mit ihm und blieb noch lang am Feuer sitzen, bis die Frau ihn in ein Zelt zerrte, wo sie die Nacht verbrachten. Am nächsten Morgen aber, da schaute Bephemos hektisch nach, ob ihm nichts abgebissen wurde und ob die Frau immer noch eine Frau war. Die Geschichte hatte mächtig Eindruck hinterlassen.
So sehr, dass er nachforschte.

Erec

Er, der immer die Liebe unter den Menschen gepredigt hatte, dem das Wohl des Nächsten wichtiger gewesen war als das eigene, der zum Wohl aller einen Frevel begangen hatte, als er die Schatten aus der Anderwelt befreite, er, der bereit war, seinen Bruder zu töten, um das Dunkel zu beenden - ausgerechnet mit dieser Tat hatte er versagt, ausgerechnet er, der Blinde zum Sehen gebracht hatte, war geblendet gewesen von der eigenen Überheblichkeit - so sehr, dass er nicht gesehen hatte, wie Hrabanus helfen wollte, die Finsternis zu fassen, sie zu bannen bis in alle Ewigkeit, dass sie nimmer mehr zurückkehren würde.
Alles verloren. Sein Bruder war nun Teil der Finsternis geworden, die Schatten aus der Anderwelt folgten ihr, sein eigener Noncorpus und der seines Bruders waren in sie gefallen, und der Stab der Erschaffung war zerstört worden. Alles umsonst. Erec mochte nicht daran denken, wieviele auf ihn gezählt hatten. Und er fragte sich, warum er nicht die Wahrheit in den Augen von Hrabanus gesehen hatte, als dieser in seine geblickt hatte: "Siehst du es nicht", hatte Hrabanus immer wieder gefragt. Und er, Erec, war blind geworden.
Jetzt lief er durch die Nacht und wollte sterben. Aber kein Abgrund schien hoch genug zu sein, kein Messer zu scharf. Sprang er von Klippen, kam er sanft wie eine Feder am Boden auf. Schnitt er in seine Adern, so floss kein Blut. Stach er in sein Herz, spürte er nichts, und wenn er das Messer herauszog, war da keine Wunde. Wilde Bären und Felsentiger ignorierten seinen Hilferuf, sie mögen ihn verspeisen, dass wenigstens ein Gutes aus ihm geschehen würde. Er lief auf ein freies Feld, irgendwo in der Ebene und schrie in den Himmel, dass ein Blitz käme, ihn endlich zu zerstören. Ob die Götter ihn erhörten, wusste er nicht, aber kein Unwetter und Donnerhall dieser Welt vermochten es, ihn zu erschlagen. Erec war verflucht, hier zu wandeln, auf immerdar sein Versagen im Turm vor Augen zu haben und das Ende seines Bruders in seinen tränenden Gedanken.
Da erhörte ihn jemand. Er fühlte, wie eine kranke Dunkelheit, das Böse in der reinsten Form, ihn umgab. Eine Finsternis, schwärzer als die Nacht oder die Pein seiner Seele. Eine Wolke, darin ein schreckliches Antlitz, das man nicht beschreiben konnte. "Mein Bruder, ich vergebe dir. Du kannst nichts dafür, denn es war unvermeidlich", sagte Hrabanus.
Erec blieb stehen. Seine Kutte war durchnässt, sein Haar klebte in Gesicht und Nacken. "Du bist nur hier, um mich zu täuschen. Weiche, gehe fort. Ich habe Fieber, ich träume."
"Dies ist kein Traum. Sogar jetzt, da ich dir gegenüberstehe, willst du nicht sehen. Erkenne dich, und erkenne mich. Ich vergebe dir."
Die Stimme hatte tatsächlich den Hauch von Vergebung in ihrem Klang. Erec zögerte. "Wie kannst du mir vergeben? Ich habe dich getötet, dich zu dem gemacht, was du jetzt bist. Wie nur kannst du mir jetzt vergeben?"
"Schau."
Aus der Fratze trat eine Gestalt hervor. Äußerlich glich sie einem Ledharthien, wenn auch die ganze Gestalt schwarz war. Das Gesicht aber, es glich Hrabanus, seinem geliebten Bruder, den er getötet hatte. Und auch die Stimme war Hrabanus. Er hob die schwarze Hand, und um sein Antlitz formte sich ein Licht, das Erec zuletzt am Stab der Erschaffung gesehen hatte. Im nächsten Moment wuchs eine Pflanze heran. Der Boden, vom Eisregen feucht, war hart und gefroren, aber die Pflanze wuchs und wuchs, trug Blüten und war das Schönste, was Erec je gesehen hatte. Sie erinnerte ihn an seine Mutter.
"Siehst du? Ich kann Leben schaffen, und ich kann vergeben, denn ich bin die Güte", sagte Hrabanus.
Für einen Augenblick wollte er ihm wirklich glauben, streckte seine Hand aus und wollte seinem Bruder folgen. Doch dann, ohne es zu wollen, betrachtete er erneut die wunderschöne Pflanze und sagte: "Mutter."
Krächzend zog sich die Gestalt in das Gesicht zurück, und die finstere Wolke verschwand in der Schwärze der Nacht und des Unwetters. Die Blume blieb bestehen, aber statt seines Bruders sah er die Tänzerin, seine Mutter. "Komm mit mir, mein Sohn. Ich will dich heilen."

Tysandra

Lady Aestrinor hatte die Neuigkeiten über Ulfgar von Roglund vernommen und sofort ihrem Ehemann den Brief aus Bretonia übergeben. Leider war es keine Einladung zu seiner Hinrichtung, sondern nur die Nachricht eines Informanten bei Hofe gewesen.
"Ich hoffe, die Angelegenheit wird schnell erledigt", sagte Cleophos. "Eine Schande, was er getan hat. Zauberkundige sind nichts, was ich liebe, aber so etwas ist abscheulich."
"Ja, das ist es", antwortete Tysandra und spielte ihr Bedauern so überzeugend wie sie die Liebe zu ihrem Ehemann, dem Lord von Aestrinor vorgab. Nicht dass sie es nicht liebte, die Vorzüge seines Ranges ebenso zu genießen wie er selbst. Aber ihre große Liebe war weit weg auf der Insel Blyrtindur.
"Was meinst du, sollte ich Lord Baelon mit Rat und Tat zur Seite stehen? Es würde sicher unserem Hause gut stehen."
"Mein Liebster, eine hervorragende Idee. Ich lasse deinen Wagen vorbereiten." Sie gab ihm einen geheuchelten Kuss und verließ die Gemächer. Einem Diener befahl sie, die Kutsche des Lords vorzubereiten, dann ging sie in ihren Raum und setzte sich an ihr Fenster. Sie betete, dass ihre liebe Freundin Theralia, die Magierin an der Akademie war und mit der sie in ihrer Jugend mehr als nur ein Geheimnis geteilt hatte, wohlauf war. Eines der Geheimnisse betraf natürlich Tysandras Geliebten, ein anderes jene Nacht, in der Theralia geboren worden war.
Es klopfte. "Herrin?"
"Ja?"
"Es gibt Nachrichten von Blyrtindur. Die Insel wird durch die Hüter abgeriegelt. Mehr wissen wir noch nicht", sagte der eintretende Diener.
"Velas, oh mein geliebter Velas", hauchte sie noch im Schlaf.

Die Hexe

Vor zwanzig Jahren gezeugt, von einer Besessenen und einem ahnungslosen Mann, in tiefster Nacht, in der klirrenden Kälte, weit weg, im Jorganschelf. Ihr Weg war weit gewesen, bis an diesen Ort. Ihre Gedanken waren klar, denn sie überlebte. Ihre Liebe zu Tysandra war nur getrübt durch die Ferne, obwohl sie einander so nah waren. Die Ferne war nicht die des Raumes. Aber Tysandras Ehe mit Cleophos und ihre heimliche Liebe zu Velas, der weit weg auf der Insel war, verhinderten eine Öffnung ihres Herzens. So war sie, die Hexe, stets allein geblieben und darauf bedacht, nicht entlarvt zu werden. Sie schloss ihre Gedanken, denn nun hatte sie eine Aufgabe zu tun.
"Öffnet seine Zelle, Lord Baelon wünscht, dass ich mich mit ihm befasse", sagte die Hexe Theralia.
Alea iacta est.

Die Würfel sind gefallen!

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