Verfasst: 30 Okt 2010, 13:39
Der Bezwinger der Meere
"Wenn die Torbrins weitere Lords um sich scharen, dann ist es vorbei, mein Prinz", sagte Sir Roan, während er und seine Getreuen den Zug des jungen Prinzen sicherten.
Der junge Bretone saß sicher auf dem Ross, das musste man ihm wohl lassen. Ob er mit dem Schwert auch so geschickt war? Nun, bald würde er sich beweisen müssen. Rokil hatte am Herdfeuer berichtet, der Bursche hätte ihn und die Ältesten beeindruckt. Na, dann würde das wohl stimmen, und die Nordmannen zogen für den Richtigen in die große Schlacht gegen die Torbrinschlange.
"Dann gehen wir unter. Aber ich werde ihm niemals das Reich kampflos übergeben, Sir Roan!", rief der junge Prinz selbstbewusst.
Ein anderer Ritter sprach. "Richtig so, Prinz Lerhon! Wir werden siegen, das verspreche ich!"
Lerhon nickte. "Mit den Göttern, Sir Martus." Dann ritt er durch die Reihen seines Heeres, vorbei an den anderen loyalen Rittern, den Freischärlern und Bognern, den Fledderern und Armbrustern, am Ende hielt er bei den Nordmannen, und er sah dem Bezwinger der Meere in die Augen. "Und Ihr, mein Freund, seid Ihr bereit?"
"Wir kamen als Plünderer. Rokil hat uns geeint. Nun werden wir dein Reich retten, junger Prinz", sagte er entschlossen. Auf dem Thing hatte Rokil ihn und die anderen auf den Kampf eingeschworen und ihnen versichert, dass sie eines Tages belohnt werden würden. Mit der Feste Nordstein und den Ländereien der Lande des bretonischen Nordens. Der Bezwinger der Meere hatte jeden Winkel der Welt befahren, vielleicht war es nun, in seinen alten Tagen, an der Zeit, sich ein Fleckchen Erde zu suchen. Seine Mannen waren bereit, ihm auch jetzt zu folgen.
"Ich danke euch allen! Für das Land, für den Frieden, für die Ehre!", rief Lerhon, erhob die Klinge, die im Licht der Sonne glänzte. Sein Falke kreiste hoch über dem Heer, und die Mannen schlugen auf ihre Schilde, brüllten den Namen des Prinzen und erwarteten den Feind.
Die Reihen der Torbrins rückten geschlossen vor. Bald folgte das Zeichen für die Schützen beider Seiten. Pfeile schossen wie Hagel durch die Lüfte, gaben ein ächzendes Surren von sich, schlugen in Schild und Mann. Kurz darauf war das Abtasten vorüber; da stürmten schon die Reiter los, und Lanzen brachen, Rüstungen zersplitterten, Rösser und Reiter wurden aufgespießt, während die Fußtruppen schon in Marsch gesetzt wurden. Stahl schlug gegen Stahl, Beile flogen in Schädel, Schwerter durchbohrten Freund wie Feind. Am Ende waren Blut, Schlamm und Staub Zeuge einer weiteren Schlacht in diesem Bürgerkrieg geworden.
"Mein Prinz, wir haben etwas gefunden", sagte Sir Roan.
"Was?"
"Der Bezwinger der Meere fand einen Knaben."
Lerhon knurrte. "Schicken sie uns schon Kinder?"
"Das allein ist nicht neu", murmelte Sir Martus, "aber dieser hier ist wertvoll."
Lange wurde beraten ob des Fundes. Was hatte sich der alte Caldorvan nur dabei gedacht?
"Wollt Ihr dies für mich tun?", fragte ihn der Prinz, nachdem die Wahl auf ihn gefallen war.
"Lieber würde ich in die nächste Schlacht ziehen. Aber Rokil sagt, es ist wichtig. Ja, ich werde es tun", antwortete der Bezwinger der Meere.
Am nächsten Tag brach er auf und fuhr wieder zur See, den Fund bei sich tragend.
Heute fuhr er immer noch.
Der Unglücksrabe
Seine Ernte hatte die Wetterhexe Edais verdorben, das war schon einige Jahre her. Damals hatte man Sir Lucius geschickt, den Fall zu untersuchen. Der Unglücksrabe hatte gehofft, die Drachenritter würden sich der Sache annehmen, aber man hatte wohl Wichtigeres zu tun als sich um die Not der Bauern zu sorgen. Und Sir Lucius hatte keinen Erfolg, hieß es irgendwann. Nur ein Tag war vergangen, seit der Ritter Edai wieder verlassen hatte, da hatte es plötzlich aufgehört. Nur sein Feld, das hatte die Hexe noch zerstört.
Das Pech verfolgte ihn stets. Als er als Feldarbeiter hatte überleben wollen, bei einem Nachbarn, hatte man ihn des Diebstahls beschuldigt. Dabei hatte er nichts getan! Im hohen Bogen hatte man ihn rausgeworfen, und er war Tagelöhner an der Werft im Norden geworden. Die Trunksucht hatte ihn gepackt, sodass er eines Tages eine ganze Ladung versenkt hatte, weil er am Abend vorher zu viel gesoffen hatte. Dass man ihn zum Trinken verführt hatte, das war irgendein mieser Nordmann gewesen, hatte natürlich nicht interessiert. Sein Weib war schon längst krank geworden und gestorben, und sein Sohn war in die weite Welt hinaus gegangen, um irgendwo sein Glück zu finden.
Was blieb ihm also noch, als sich irgendwo zu verdingen? Da war es ein glücklicher Umstand, dass Lord Dryr nach dem Verschwinden der Drachenritter das Land eingenommen hatte und überall nach weiteren Soldaten suchte. Der Sold war annehmbar, die Unterbringung kein Palast, aber wenigstens ein Zelt, das er sich mit drei anderen teilen musste.
Aber dann, als der Truchsess irgendwo auf See ums Leben gekommen war, da brach dieser vermaledeite Krieg aus. Lord Dryr hatte zweimal die Seiten gewechselt. Ihm, dem Unglücksraben, war das egal. Er bekam seinen Sold, und da scherte es ihn nicht, wen er dafür bekämpfen sollte. Wenigstens etwas Silber und Fressen. Seine Ansprüche waren doch bescheiden geworden.
"Sie werden keine Gefangenen machen. Die Blodhord ist bei ihnen. Sie werden euch überrennen wollen, alle töten, und eure Leichen werden sie nicht bestatten, sondern verspeisen. Flieht nicht, denn sie werden euch bis ans Ende der Welt jagen; ergebt euch nicht, denn sie werden keine Gnade zeigen. Ihnen sind Worte wie Ehre und Gnade so fremd wie ritterliche Tugenden!", hatte Lord Dryr sie eingeschworen.
Da stand er nun. Edailech sollte er verteidigen. Ausgerechnet Edailech. Jeder kannte ihn dort. Vielleicht würde er seine Ehre herstellen können, wenn er heldenhaft kämpfte. Als die ersten Heerscharen des Feindes einfielen, Halbriesen und Vendus, da schickte er schnell einige Frauen und Kinder in die Taverne, ließ die Türen verrammeln und stellte sich in die erste Reihe.
Den ersten Schlägen konnte er ausweichen, und er schaffte es, einen Vendu zu erlegen. Nordmannen folgten der Blodhord, dazu kamen diese Leute von der Nachtwache, Nordmärker, Zwerge und diese Pfeile des Waldes. Einen jungen Burschen erschlug er im Lauf, doch er wurde unachtsam, stolperte über die eigenen Füße und stürzte.
Zuletzt sah er die Klinge einer schwarz gekleideten Nordfrau, dann glaubte er, hinter ihr einen Dämon zu erkennen und sah sich bereits in der Hölle, während er seinen Atem aushauchte.
"Passender hätte es nicht enden können", sagte eine kalte Stimme.
"Wo bin ich?"
"Mein Name ist Caldorvan. Willkommen, Unglücksrabe. Deine Pechsträhne ist vorbei."
Baelon
Seine Glieder schmerzten, als zwei Untote ihn aufrichteten. Zahllos war die schwarze Horde, die ihn aus schwarzen Augen und mit schwarzen Seelen betrachtete. War nun seine Stunde gekommen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass Caldorvan ihn gehen lassen würde. Vermutlich würde der Untote ihn nun doch zu einem Teil seiner Armee werden lassen. Was für ein klägliches Ende. Er hätte mehr tun müssen! Baelon wünschte sich, Petyr mit eigenen Händen vor den Augen des Volkes getötet zu haben, genau wie seine verhasste Schwester Irinia. Er hätte den Widerstand führen müssen, hätte Sir Roymar nicht hinhalten sollen, sondern mit aller Macht gegen Bretonia ziehen sollen. Nun war es zu spät. Roymars Mannen zogen unter Grauwinds Banner, unter dem Banner der Angst. Und Thaira? Hätte er sie nicht retten können? Hätten sie nicht fliehen sollen, so wie er es einst vorgeschlagen hatte? Wie würde man sich an Lord Baelon erinnern? An den, der zögerte. An den Feigling, der das Reich nicht retten konnte.
"Ihr seid frei, Lord Baelon", knurrte einer der Untoten, und Baelon glaubte, ihn zu erkennen.
"Sir Marryn, seid Ihr es?"
"Ein anderes Leben, Mylord."
Baelon nickte langsam. "Es tut mir leid. Ich hätte es verhindern müssen."
"Lebans Wege verhindert man nicht. Geht nun."
Marryn reagierte nicht weiter. Zwei andere gaben ihm ein Pferd, seine Waffen und seine Rüstung. Sie eskortierten ihn bis Nobs Stall, wo Baelon etwas Proviant erstehen konnte und gen Norden zog. Er ritt durch das verwüstete Land, vorbei an brennenden Leichenbergen, bis er Edailech erreichte. Nordmannen und Zwerge grüßten ihn schweigend. Am Fluss nahm er eine Fähre, um schließlich bis Tilhold zu reiten. Dort lief er schnell in die Taverne, begrüßte Ephyre und den Lethos und nahm seine Nichte in die Arme.
"Onkel Baelon, bist du es wirklich?"
"Ja, Alysare, ich bin es. Geht es dir gut?"
Sie nickte und lächelte. "Hier sind alle gut zu mir."
"Du warst auch krank, wie ich. Aber man hat uns gerettet. Und bald müssen wir ein ganzes Reich retten. Du musst weiter stark sein."
"Ja, das werde ich. Hast du auch das goldene Schwert gesehen, Onkel?"
"Ja, das habe ich."
"Und hast du auch von dem hellen Licht geträumt?", fragte sie dann.
Baelon stutzte. "Ich erinnere mich nicht. Erzähl mir davon."
Nachdem Alysare berichtet hatte, erhob sich Baelon. "Ich muss mit der Hetfrau und den anderen sprechen", sagte er zu einem Nordmann.
"Die sind im Süden unterwegs. Aber die Hetfrau ist hier. Folge mir."
"Lord Baelon, er hat Euch gehen lassen", sagte Branda.
"Ja. Und ich muss umgehend mit Euch sprechen. Es geht um Sicarion Grauwind."
Lucius
Der verfluchte Untote war mächtig. Trar wünschte sich, Giltheas hätte die Kontrolle über dieses Monstrum behalten. Wenn dies wirklich Caldorvan von Torbrin war, dann hatte er den strategischen Verstand behalten, aber war umso stärker geworden. Seine Untoten wuchsen nach wie Unkraut. Kaum dass einer von Witrins Verteidigern fiel, stand er als Untoter in Caldorvans Reihen wieder auf. Nur die Werwölfe waren immun gegen diese schwarze Sieche, die schlimmer war als alles, was Lucius je gekannt hatte.
Und er hatte wirklich viel gesehen. Abgesehen von den zweifellosen Wundern und Geheimnissen der Grünen Magie, abgesehen von seiner eigenen Verwandlung in den Wolf und den Ereignissen im Bürgerkrieg, hatte er so viel gesehen. Plötzlich erinnerte er sich. Der Bürgerkrieg. Er hatte Seite an Seite mit dem jungen Prinzen Lerhon gekämpft. Von Schlacht zu Schlacht war er ihm und Roan und Martus gefolgt. Das war, bevor er der Hexe begegnet war und sein Leben sich vollständig geändert hatte. Bevor er die Suche nach Velthan aufgenommen hatte, die nur zu Velthans Tod geführt hatte. Bevor er erst an Giltheas Seite stand und nun in Grauwinds Heer zog, das Moorvolk an seiner Seite. Der Bezwinger der Meere hatte einen Jungen gefunden. Und genau an diesen Knaben erinnerte sich Lucius nun.
Was mochte aus dem Jungen geworden sein? Man hatte den Bezwinger und seine Mannschaft zur See geschickt, da die Torbrinflotte keine nennenswerten Schiffe mehr hatte und der Knabe dort am sichersten aufgehoben war. Doch nach all den Jahren wurden sie nimmer mehr gesehen. Gerade jetzt wäre der Bursche vielleicht ein Schlüssel, diese verdammte Belagerung zu brechen und den Untoten zu vertreiben!
Eine Wache trat ein. "Mylord?"
"Sind sie schon eingedrungen?", fragte Lucius matt.
"Nein, Mylord, aber es hat eine Entwicklung gegeben. Mutter Kelar ist zurück. Oshinya ließ sie zu uns bringen, nachdem sie im Norden war und mit den freien Frauen gesprochen hat."
"Worüber?"
"Der Grüne Golem. Er ist gefallen. Der Tempel hat sich verändert. Die Königin des Westens übt Einfluss aus."
Lucius nickte. "Ja. Ich hoffe, Grauwind wird diesen Einfluss schnell los. Ich hoffe, Mutter Kelar sieht, dass ich nur aus taktischen Gründen ihm und Roymar zur Seite stehe?"
"Ja. Jetzt, da Velthan tot ist, sieht sie ohnehin keine Hoffnung mehr für das Grün. Sie hofft, dass Ihr eines Tages Sicarion vernichten werdet."
Sicarion vernichten. Na, vielleicht sollte ich zuerst meine Burg behalten, dachte er. "Was für Entwicklungen hat es gegeben?"
"Wir haben ihn gefunden."
Lucius ließ sich alles berichten, dann gab er Befehle: "Ein Rudel soll ausbrechen und sich mit dem Moorvolk treffen. Wir müssen schnell handeln!"
Kithei
"Er ist WAS?", polterte sie.
"Bathir von Dryr ist nun König des Reiches. Starys hat ihn krönen lassen", berichtete Grimo, bevor er sich wieder verwandelte.
"Der Mörder meines Geliebten herrscht über ein Reich aus Scherben, und mehr als Scherben wird er niemals haben. Er muss sterben! Ich will seinen Kopf, und ich will sein Herz, damit ich es verzehren kann, dass mein Kind groß und stark wird."
"Beruhige dich, Schwester. Wir werden ihn kriegen", sagte Oshinya.
"Ich kann mich nicht beruhigen. Er ist weiter weg als je zuvor. Bathir von Dryr sitzt hinter ewigen Mauern einer ewigen verdammten Stadt. Mein Zorn ist groß genug, dass ich jeden Stein einzeln zerschlagen könnte, um ihn zu kriegen."
Sverka nickte. "Das wirst du. Edailech ist nicht mehr sein. Vielleicht schnappen wir uns zuerst seinen Neffen, den er zum Lord des Eisenwalls gemacht hat."
"Benutzen wir Sicarion. Meine Gefährten reisen mit ihm und den Wölfen. Man könnte ihm Bretonia schmackhaft machen", schlug Oshinya dann vor, aber Kithei interessierte sich nicht für irgendeinen Dryr, sondern nur für diesen einen, der ihren Geliebten ermordet hatte. Sie hatte so oft davon geträumt, mit ihm allein in die Ferne zu reisen, alles zu vergessen und ein Leben in Frieden und Zweisamkeit zu führen, ein Kind zu erziehen, die Welt sich selbst überlassen. Denn was gab es noch? Die Schrecken des Krieges, Tod, Blut, Elend und Mord. Ohne Marryn war das Leben so sinnlos geworden. Selbst das Mutterglück brachte ihr keine Freude mehr. "Tut, was ihr wollt. Ich werde den Wilderländern sagen, dass wir alles in die Schlacht beim Säulengang werfen müssen, was wir noch haben. Ich will in die Stadt!"
Dann schickte sie ihre Schwestern hinaus, denn ihr wurde übel. Sie übergab sich, aber ihre Kotze ließ sie einfach ins Gras sickern, während sie daneben lag. Langsam schlossen sich ihre verweinten Augen und sie träumte:
Ein Haus, einfach und schön, ein Kräutergarten und Bänke. Sie lag in Marryns Schoß, der ihr ein Lied der Minne sang und ihren Bauch liebkoste. Vögel sangen mit ihm, und Grimo tollte auf einem Hügel mit seinem Sohn Thymo herum. Es war ein gutes Leben. Aber plötzlich starben alle Vögel und die Kräuter gingen ein, als ein kalter Schatten Kithei berührte und sie an Marryns Stelle umarmte, denn Marryn war verschwunden.
"Wir sind Liebende. Und uns ist die Rache", sagte eine Stimme.
"Wer bist du?"
"Ich bin Thaira. Wollen wir zusammen sein?"
Roan
Die Schlacht tobte Tage und Nächte. Der Nachschub der Tyrells, wer auch immer nun an Ivars Stelle herrschte, nahm kein Ende. Stets folgten weitere nach, ob es nun einfache Soldaten, Golems oder Elementare waren. Feuer schlug um sich, und nicht wenige von Roans Mannen bissen ins Gras. Aber sie kämpften tapfer. Den Waldläufern hatten sich Leyris Schützen angeschlossen, genau wie die Leute von Brioless, obwohl ihr Herr immer noch ein Bleicher war. Brioless gab keine Antworten auf die vielen Fragen, die man ihm stellte, und schwarzer Obsidian zeigte immer noch keine Wirkung. So war Roan davon überzeugt, dass etwas in der Festung Wilderberg sein musste, was Brioless heilen könnte.
Die Berichte der alten Frau, die ihn aufgesucht hatte und die vorgab, Lady Glorianna zu dienen, waren glaubhaft und hoch interessant. Ja, er glaubte ihr. Nach allem, was er von Lady Glorianna wusste, so war dies nicht unbedingt unwahrscheinlich. Xenophilius berichtete ihm stets von ihren Besuchen und was sie tat. Außerdem arbeitete der Magus an einem Zauber, der das Blatt im Kampf um Wilderberg wenden konnte.
"Mylord, Sir Leyris lässt ausrichten, dass sich weitere Freischärler unserem Kampf verschrieben haben. Außerdem berichteten einige Fischer von einer Begegnung auf See", sagte Emes.
Roan runzelte die Stirn. "Welcher Fischer ist so irre und fährt jetzt noch zur See. Da lauern noch Yaruner, und sie folgen dem Verräter Roymar und dem Ketzer Sicarion. Aber, egal, was berichten sie? Ich hoffe, es ist wichtig in dieser Schlacht. In den Kernlanden lauern außerdem Caldorvans Untote, und er selbst zieht gegen Trar. Ich hoffe also, der Bericht von ein paar Anglern ändert die Lage entscheidend?"
"Entscheidet selbst. Damals war ich ein einfacher Leutnant in des Prinzen Armee. Aber auch ich erinnere mich an das, was der Bezwinger der Meere gefunden hat, Lord Carmon."
Diesen Namen hatte Roan lange nicht mehr gehört. Nach der Schlacht in den Südlanden, vor dem Sieg und seiner Ernennung zum Lordprotektor von Caldorvans Burg, hatte er das erste und letzte Mal vom Bezwinger der Meere gehört. "Er ist zurück? Nach all der Zeit?"
"Ein Geisterschiff, sagen die Leute. Doch sie sind sich sicher, dass Nordmannen an Bord waren. Die beiden Fischer hatten sogar den Mut, das Schiff eine Weile zu verfolgen. Dann verirrten sie ich im Nebel, riefen einem anderen Schiff zu, aber man drehte nicht bei", erklärte der Heermeister.
"Ich habe kein Schiff. Wir stehen hier am Abgrund, Emes. Aber jemand muss es finden. Er ist vielleicht noch dort. Das wäre eine Wende. Genau das, was wir alle brauchen in diesem Krieg. Lady Theresia wäre Königin! Und Sicarion könnte seinen König Roymar vergessen, genau wie Caldorvan seine wirren Pläne, diesen Aran zum König zu machen, was einfach lächerlich ist."
"Ich werde sehen, was ich tun kann", sagte Emes und salutierte. Er schickte einige Mannen nach Waldwacht, die sich mit Sack und Pack zur Küste aufmachen sollten.
Roan warf wieder einen Blick auf die Karte. Sicher, er könnte Tyrell in den Rücken fallen, aber für einen Marsch durch das Wilderland müsste er seine Armee aufteilen. Das Risiko war zu groß.
"Wache!"
"Mylord?"
"Schickt so viele Pfeilhagel gegen die Zinnen wie es geht. Und bereitet die Ramme vor."
"Jetzt schon?"
"Ja, jetzt schon", sagte Roan und erinnerte sich an die Augen dieses Knaben, den sie damals gefunden hatten. Sie waren wie das Meer gewesen.
Starys
"Und wie lauten die Befehle Seiner Majestät?", fragte Starys.
Bathir von Dryr lachte. "Ich mag es, wie Ihr diesen Titel aussprecht. Leicht verachtend und doch würdevoll, Sir Starys. Aber Ihr hattet keine andere Wahl. Wer sollte es sonst tun?"
"Nun, Majestät, Ihr habt Edailech verloren. Betrachtet es als den Segen der Götter, dass wir an Euch dachten, die Lücke, die schmerzliche Lücke zu füllen, die König Petyr und die Regentin Irinia hinterlassen haben."
"Und wie ich es als Segen betrachte. Ihr solltet wissen, Starys, ich hätte mir den Thron ohnehin genommen. Ob nun mit der Hilfe dieser Kitheihure oder dadurch, dass ich ihren Geliebten töte - es spielt keine Rolle für mich. Wichtig ist das Ergebnis."
Starys nickte. Er hatte tatsächlich keine andere Wahl gehabt. Dryr als Herrscher war keineswegs die ideale Lösung, aber eine starke Hand könnte jetzt dafür sorgen, dass das Reich zur Ruhe käme. Da war der Zorn Kitheis, ja, da war der Norden, natürlich. Aber wenn Dryr sich geschickt anstellen würde, könnte man mit Grauwind verhandeln, gegen Giltheas ziehen und hätte auf einen Schlag eine gewaltige Armee. Starys war bewusst, dass der Norden ihn niemals verschonen würde, nach allem, wa er getan hatte. Also musste er diesen Krieg vergrößern, um ihn zu beenden. Schon, um seine eigene Haut zu retten. "Ja, das Ergebnis zählt, Majestät."
"Findet Lord Baelon. Er soll knien und mich König nennen. Und findet diese kleine Prinzessin. Ich will beide richten. Sie sind gefährlich."
"Majestät, wenn ich Euch einen idealeren Vorschlag machen dürfte?", fragte Starys.
"Nur zu. Ich höre mir alles an, Berater", lachte Dryr.
"Gebt beiden einen Landsitz, irgendwo im Süden, wo noch nicht gekämpft wird. Man wird Euch einen Schlächter nennen, wenn Ihr ein Kind ermorden lasst. Und es würde ein Licht auf Euch werfen, dass eines Königs nicht würdig ist. Das Volk muss Euch achten."
"Es muss mich vor allem fürchten. Furcht ist eine Waffe, Starys. Versteht Ihr das etwa nicht? Wie sonst war es mir wohl möglich, dem Feind keinen einzigen Soldaten in Edailech zu überlassen?"
"Woher wusstet Ihr, dass sie nicht Eisendorf, sondern Edailech angreifen würden?", fragte Starys neugierig.
"Das will ich Euch sagen: Ich bekam einen Hinweis, dass man mich täuschen will. Grauwind hatte einen Spion in Tilhold. Man wird ihn sicher mittlerweile gefunden haben, aber er hat gute Dienste getan. Für Grauwind, aber am Ende auch für mich."
"Sicarion Grauwind hat Euch gewarnt? Warum das?"
"Spielt es eine Rolle? Schafft mir meine Ritter her, ich will mich beraten mit ihnen!"
Starys verließ den Saal. War Dryr am Ende noch irrer als Petyr? Erkannte er nicht, dass Grauwind damit Edailechs Schicksal besiegelt hatte, weil er genau gewusst haben musste, dass Dryr den Thron annehmen und damit Edailech aufgeben würde? Nein, es war unmöglich, dass Dryr dies nicht wusste. Sein Neffe Elyarn war nun Lord des Eisenwalls. Ein unerfahrener Mann, weniger blutrünstig und eher besonnen. Dryr war der Thron wichtiger als ein festes Reich, zweifellos.
Starys lief schnell in die Rüstkammer und hoffte, Sir Allyen allein anzutreffen.
"Sir Allyen, wie schön, Euch zu sehen."
Allyen knurrte. "Ihr habt einen Verrückten gegen einen Mörder ausgetauscht. Er war es, er hat Marryn erschlagen, nicht wahr?"
"Ich bitte Euch, das war in der Schlacht. Es war ein Zweikampf, und Sir Marryn hat ihn verloren."
"Was wollt Ihr?"
"Sir Allyen, ich habe eine Bitte. Es ist kein Befehl. Ich möchte, dass Ihr dem jungen Lord Dryr einen Besuch abstattet. Er soll wissen, dass eine wichtige Aufgabe vor ihm steht. Er soll Edailech in Frieden lassen, aber seine Grenzen gegen den Norden sichern. Man wird auch Eisendorf einnehmen wollen. Außerdem braucht er eine Hand, die ihn führt."
Roymar
Was würde er seiner Liebsten berichten, wenn er jemals wieder die Silberküste sehen würde, das Licht des Leuchtturms von Vanycia und die Delphine in den Wellen vor Tharos? Dass er ausgerechnet dem Schlächter von Markinos folgte, dem Brenner, dem Schänder mit den Feuerhänden, Sicarion Grauwind? Würde sie verstehen, dass er all dies tat, weil er hoffte, auf dem Wege eines Tages für Lord Baelon den Thron zu erobern? Und würde irgendjemand hier ihm noch glauben? Wieviele Gräueltaten Sicarions er noch mitansehen und mittragen müsste, das wusste Roymar nicht. Die grausamen Träume, die ihn zum König des Reiches machten, endeten nicht. Eines Tages hatte er sich sogar dabei ertappt, wie er Sicarion davon berichtet hatte.
"Gut. Ihr bereitet Euch seelisch auf Eure Aufgabe vor", war die einfache Antwort Grauwinds gewesen.
"Ich meine, Lord Baelon wäre ein gerechter König. Meinetwegen auch Lady Theresia. Stimmen sie Euch nicht zufrieden, weil sie nicht aus Tectaria kommen?"
"Wir kommen alle aus Tectaria, Sir Roymar, doch meint Ihr nicht, dass Ihr ein weiser und gerechter König wäret? Befreit das Land von der Glanplage, tötet den Hund des Eisenwalles, und alles liegt Euch zu Füßen!"
"Ich bin ein Feldherr, kein König."
Sicarion hatte darauf nicht mehr geantwortet. Roymar hatte noch gesehen, wie er Wara und Jaravhar zu sich gerufen hatte, um mit ihnen den Bau zu besprechen. Worum es sich da handelte, wusste Roymar nicht, aber täglich wurden Steine auf See transportiert, um ein unbekanntes Ziel zu versorgen. Roymar hatte Styros gefragt, ob er etwas wüsste, doch der Heermeister Caenors war entweder zu feige oder wirklich ahnungslos gewesen, denn er hatte nur den Kopf geschüttelt.
Roymar ließ sein Pferd satteln. "Proviant für einen Tag", befahl er dem Burschen.
"Wohin des Weges?", fragte Sicarion.
"Ich will sehen, wie es um Bredorf steht. Ich nehme einige Templer mit."
"Gut. Ihr zeigt Interesse."
"Natürlich tue ich das! Dort leben viele unschuldige Menschen, und Tars Wölfe machen kaum einen Unterschied zwischen Soldat und Bürger."
"Seht Ihr, so handelt ein König", spottete Sicarion und ließ ihn ziehen.
Dass Eunuchen ihm folgen würden, war Roymar bewusst. Darum ließ er die Templer allein nach Bredorf reiten und schlug irgendwann eine andere Richtung ein, bis er den geheimen Treffpunkt erreichte, den Lord Baelon ihm einst genannt hatte. Doch weder war Sir Belforr anzutreffen zur besagten Stunde noch Sir Hermos oder Sir Allyen. Er war allein. Gab es denn keine Hoffnung mehr?
"Mein König, da bist du ja", flüsterte Thaira.
"Nein, bitte lass mich endlich in Ruhe, Rachegeist! Ich werde niemals König sein!"
Nachdem der Geist der Königin ihm seine Geheimnisse genannt hatte, sah Roymar ein goldenes Schwert, und er erkannte endlich sein Schicksal.
Mercutio
Der schwarze Lord verließ den Blauen Turm, wie er gekommen war. Ohne seinen Nachtmahr, zu Fuß, und ohne Proviant. Verzicht war eine seiner leichtesten Übungen. Seine Pläne waren durch Sicarion Grauwind vereitelt worden, und er musste sich neu orientieren. Dazu gehörte die Askese, die er stets gepredigt hatte. Dies tat er, um sich für seine eigene Unachtsamkeit zu bestrafen, denn die Pläne von Jahrzehnten waren in einer einzigen Nacht zerstört worden. Der verdammte Tectarier hatte ihn überrollt, sodass er in die Ferne geflohen war. An der Nebelküste hatte er ein Schiff entdeckt, das die Yaruner zurück gelassen hatten, und er konnte endlich den Notfallplan umsetzen.
Mehrere Stunden waren sie gesegelt, bis sie endlich die Insel erreicht hatten, die Argan in seinen Aufzeichnungen als Hort des Tempels von Eis und Feuer beschrieben hatte. Aber der Tempel war nicht das Ziel von Mercutio gewesen: Es war der Schiffsfriedhof. Als er damals die Insel des Rosentempels und das Grab Cyrians besucht hatte, war es ihm gelungen, den Geist des Lethos zu rufen und ihn für einen Moment gefügig zu machen. Da hatte er die Grabstätte von Darius erfahren, und wie man sie gesichert hatte. Jahrelang hatten die Übungen gedauert, die magischen und heiligen Versiegelungen zu überwinden, die man dort angebracht hatte.
"Mylord, das ist ein Ecaloscop. Man wird sehen, was wir hier getan haben."
"Das soll man auch. Ich werde Hilfe brauchen, das Skelett zu verteidigen, wenn Grauwind oder Trar mich gefunden haben."
"Warum bitten wir nicht um Hilfe?", fragte der Heermeister der Drakoskrieger.
"Weil wir nur Leban bitten. Sie sollen denken, es wäre ihre eigene Idee, mir zur Seite zu stehen."
Als Mercutio sein Versteck erreichte, hatte man das Skelett schon vorbereitet. Er würde offenbaren müssen, was der Plan war. Doch zuvor musste er auf Zeit spielen. Er musste den Angriff riskieren, um die Leute aus dem Norden dazu zu zwingen, einzugreifen. Erst dann wären sie überzeugt.
"Hat es sich schon bewegt?", fragte er einen Mazzrarim.
Das Wesen nickte schweigend.
"Wundervoll. Welch Ironie: Eure Herren haben ihn damals in den Tod durch des Nordmanns Schwert getrieben, und heute retten wir ihn, damit er das Reich retten kann."
Bathir
Nach der Unterredung mit den Rittern ließ der König sich zwei Huren kommen. Obwohl sie willig waren, denn man belohnte sie gut, fiel er über sie her, als wären sie Schweine auf einer Festtafel. Die eine überlebte ihn nicht, die andere lag am Ende weinend in seinen Säften. Er lachte nur, warf ihr die Münzen vor die Füße und schickte sie fort. Die andere ließ er auf einem Armenfriedhof als Kriegsopfer verscharren.
Dass Sir Allyen abwesend war, kam ihm gelegen. Der alte Ritter war ihm ein Dorn im Auge. Nun, er würde Marryn bald Gesellschaft leisten dürfen. Was aus Elyarn wurde, scherte ihn auch nicht. Eisenwall würde sicher bald an den Norden gehen, doch Bathir verfolgte eigene Pläne, was das Reich betraf. Das Geschenk des Narren, die Feuerklinge, übertraf Samgard. Trotzdem musste er diese verdammte Königsklinge bekommen. Er fragte sich, weshalb diese Söldnerschlampe immer noch das Recht genoss, das Schwert der Könige zu beschützen. Sollte es nicht in des Königs Hand sein?
"Schafft mir Belforr her!"
Der Ritter betrat die Kammer, musterte nur kurz die blutigen Laken und verneigte sich. "Majestät."
"Ich habe bereits bei der Unterredung gemerkt, wie unzufrieden Ihr seid. Sagt, Sir Belforr, wieviele Ritter stehen in Wahrheit auf Lord Baelons Seite? Ich bin weniger zimperlich als es Petyr war."
"Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Majestät."
"Ich habe einen Auftrag für Euch. Reitet nach Bredorf und holt mir die Söldnerin Ephyre her. Sie muss Samgard dem Königshaus übergeben. Und sei es nur symbolisch."
"Mein König, sie ist nicht mehr in Bredorf. Die Söldnerin wurde von den Tyrells entführt, aber sie konnte entkommen."
"Dann will ich den Roten Narren sprechen."
"Er ist derzeit auf Reisen."
"Auf Reisen, während Carmon seine Burg belagert? Ist er verrückt? Nein, antwortet nicht. Er ist es. Gut, dann wird dieses Weib wohl im Norden sein. Reitet dort hin und holt sie her!"
"Mein König? Der Norden hat Edailech eingenommen. Die Blodhord ist dort, wie soll man Ephyre erreichen?"
"Lasst Euch was einfallen!", brüllte Bathir.
Als der König wieder allein war, da nahm er die Feuerklinge und betrachtete sie.
"Feuer", murmelte er, "wird die Verräter gefügig machen!"
Sicarion
Unzufrieden ließ er sich berichten, dass die Eunuchen am Blauen Turm geschlagen worden waren. Waren diese Tirinaither nicht friedlich und unerfahren? Offenbar hatten sie Hilfe bekommen. Einen weiteren Angriff konnte er nicht wagen, denn er hatte ebenso von Trar die Nachricht bekommen, dass Caldorvan Witrin belagerte. Der Untote durfte vorerst nicht mehr in seine Nähe kommen, das stand fest.
Also musste er einen anderen Weg finden, Giltheas aufzuspüren, um den Pakt mit der Königin des Westens zu lösen. Ein Pakt, der ihm eines Tages das Leben kosten würde, wie auch seine unsterbliche Seele sonst dem Ungeheuer gehören würde, das im nächsten Moment wieder wie die schönste Frau auf Erden war, nur um dann in all ihrer Hässlichkeit ihre Eier zu legen, woraus ihre Echsen schlüpften.
Es war vor vielen Jahren gewesen. Wegen seiner Verbindung mit der Sklavin Wara hatte man ihn aus der Kirche verbannt und anschließend exkommuniziert:
Zwar behielt er seine Fähigkeiten, aber Tectaria musste er verlassen. Dhelod und die anderen ihm loyalen Inquisitoren, Priester, Messdiener und Templer zogen mit ihm davon. Er beschloss, die Route von Liranus zu nehmen, in dieses gelobte Land, das die Frechheit besaß, sich nach seinem Entdecker Bretonia zu nennen. Ein Neuanfang vielleicht. Hoffnung gab es wenig. Doch ein Sturm ließ viele Schiffe seiner Flotte zerschellen, während ein Teil überlebte.
Sie fanden eine grüne Küste, dahinter riesige Bäume, die in der schwülen Hitze sich vom Monate anhaltenden Regen nährten. Exotische Pflanzen und Tiere, Eingeborene und Echsenwesen lebten in diesem Land. Das musste Marjastika sein. Sicarion und seine Männer erkundeten das Land nach Dingen, die sie rauben konnten, nach Schätzen und Sklaven. Doch dann, im Westen des Landes, fanden sie einen riesigen Bau. Stufenförmig stiegt das Gestein in schwindlige Höhen, und auf der Spitze des Zikkurats thronte ein goldenes Ungeheuer. In seinem Schnabel saß eine wunderschöne unbekleidete Frau mit dunkler Haut. Sie stieg hinab und erleuchtete Sicarion.
Nachdem er sie geschwängert hatte, war er so blind gewesen, dass er den Vertrag mit seinem eigenen Blut unterschrieben hatte. "Du wirst herrschen", sagte sie.
Und die Brut, die ihm von Marjastika bis hierher gefolgt war, sie waren alle seine Söhne.
"Herr?"
"Sprich, Eunuch."
Der Krieger berichtete von dem, was Mutter Kelar gesehen hatte. Nun, auf die Hexe war also doch noch Verlass. Trar hatte sie gefügig gemacht. Nun sollte der Moorlord die Sache beenden.
"Er soll Giltheas lebend zu mir bringen! Hat unsere Illusion Thairas Roymar überzeugt?"
"Er will es nun."
Caldorvan
Zufrieden betrachtete der Untote, wie sein Heer mit jedem gefallenen Menschen, der Trar diente, größer wurde. Es war fast schon bedauernswert, wie Trar seine kleine Armee ausschickte, voller Verzweiflung, um das Unausweichliche, denn es war Lebans Wille, zu verhindern. Und doch beschloss der Untote, dieses Treiben noch einige Tage schweifen zu lassen. Denn er musste die größte Armee der Welt erschaffen, um Lebans Wünsche zu erfüllen. Er, Caldorvan, war Lebans Hand. Und Lebans Hand hatte die Pflicht, das Werk des Dunklen zu erfüllen und zu vollenden. Aran, den er nun durch die simple und leere Drohung, Owen in seine Armee einzugliedern, gewonnen hatte, war nur ein Teil im Räderwerk des Todes, das Caldorvan gedachte, wie einen Totenmantel über das Land zu ziehen. Die größte Macht der Welt war er, der Untote.
"Mylord."
"Sprecht, Sir Marryn."
"Wir haben Lord Baelon ziehen lassen."
"Gut. Wir wollen unser Wort halten. Was noch?"
Marryn räusperte sich. "Einige Wölfe und Truppen Oshinyas sind ausgebrochen. Sie fliehen, wie es scheint."
"Lassen wir sie fliehen. Gute Arbeit, Sir Marryn. Leban ist glücklich."
Der Ritter zog wieder in den Kampf. Caldorvan spürte, wie das Wasser des Seelenmoors ihn und seine Armee immer gewaltiger machte. Konnte es so leicht sein?
Irgendwann spürte er Thairas Gegenwart. "Was willst du hier? Ich habe dir gesagt, die Nordfrau sucht dich. Sie wollen dich erlösen. Hast du kein Interesse mehr daran?"
"Du hast gesagt, ich muss erst meine Aufgabe erfüllen."
"Und? Ist es dir gelungen, Thaira?"
"Ja. Kithei wird ihre Rache bekommen."
"Ausgezeichnet. Verschwinde."
König Bathir würde wenig Freude daran haben, über das Land zu herrschen. Wie sollte er auch? Immerhin gab es nur einen Träger Samgards: Aran von Torbrin!
Caldorvan war sicher. Leban hatte es gesagt.
Der Stumme
Auch wenn die Sonne hoch über dem Meer stand, so empfand der Stumme keine Freude und sah kein Licht. Immer wenn ein Schiff sie passierte, hoffte er, man würde ihn sehen. Ihn oder seine Begleiter. Er wusste nicht, wer er war. Doch tief in seinem Herzen fühlte er, wie sich eine Schlange erhob, um ihre Giftzähne in die Schlagader eines Königs zu stoßen.
"Wer bin ich, Kameraden?", fragte der Kapitän Stunde um Stunde.
"Der Bezwinger der Meere! Für Lerhon! Für den Sieg!"
"Wenn die Torbrins weitere Lords um sich scharen, dann ist es vorbei, mein Prinz", sagte Sir Roan, während er und seine Getreuen den Zug des jungen Prinzen sicherten.
Der junge Bretone saß sicher auf dem Ross, das musste man ihm wohl lassen. Ob er mit dem Schwert auch so geschickt war? Nun, bald würde er sich beweisen müssen. Rokil hatte am Herdfeuer berichtet, der Bursche hätte ihn und die Ältesten beeindruckt. Na, dann würde das wohl stimmen, und die Nordmannen zogen für den Richtigen in die große Schlacht gegen die Torbrinschlange.
"Dann gehen wir unter. Aber ich werde ihm niemals das Reich kampflos übergeben, Sir Roan!", rief der junge Prinz selbstbewusst.
Ein anderer Ritter sprach. "Richtig so, Prinz Lerhon! Wir werden siegen, das verspreche ich!"
Lerhon nickte. "Mit den Göttern, Sir Martus." Dann ritt er durch die Reihen seines Heeres, vorbei an den anderen loyalen Rittern, den Freischärlern und Bognern, den Fledderern und Armbrustern, am Ende hielt er bei den Nordmannen, und er sah dem Bezwinger der Meere in die Augen. "Und Ihr, mein Freund, seid Ihr bereit?"
"Wir kamen als Plünderer. Rokil hat uns geeint. Nun werden wir dein Reich retten, junger Prinz", sagte er entschlossen. Auf dem Thing hatte Rokil ihn und die anderen auf den Kampf eingeschworen und ihnen versichert, dass sie eines Tages belohnt werden würden. Mit der Feste Nordstein und den Ländereien der Lande des bretonischen Nordens. Der Bezwinger der Meere hatte jeden Winkel der Welt befahren, vielleicht war es nun, in seinen alten Tagen, an der Zeit, sich ein Fleckchen Erde zu suchen. Seine Mannen waren bereit, ihm auch jetzt zu folgen.
"Ich danke euch allen! Für das Land, für den Frieden, für die Ehre!", rief Lerhon, erhob die Klinge, die im Licht der Sonne glänzte. Sein Falke kreiste hoch über dem Heer, und die Mannen schlugen auf ihre Schilde, brüllten den Namen des Prinzen und erwarteten den Feind.
Die Reihen der Torbrins rückten geschlossen vor. Bald folgte das Zeichen für die Schützen beider Seiten. Pfeile schossen wie Hagel durch die Lüfte, gaben ein ächzendes Surren von sich, schlugen in Schild und Mann. Kurz darauf war das Abtasten vorüber; da stürmten schon die Reiter los, und Lanzen brachen, Rüstungen zersplitterten, Rösser und Reiter wurden aufgespießt, während die Fußtruppen schon in Marsch gesetzt wurden. Stahl schlug gegen Stahl, Beile flogen in Schädel, Schwerter durchbohrten Freund wie Feind. Am Ende waren Blut, Schlamm und Staub Zeuge einer weiteren Schlacht in diesem Bürgerkrieg geworden.
"Mein Prinz, wir haben etwas gefunden", sagte Sir Roan.
"Was?"
"Der Bezwinger der Meere fand einen Knaben."
Lerhon knurrte. "Schicken sie uns schon Kinder?"
"Das allein ist nicht neu", murmelte Sir Martus, "aber dieser hier ist wertvoll."
Lange wurde beraten ob des Fundes. Was hatte sich der alte Caldorvan nur dabei gedacht?
"Wollt Ihr dies für mich tun?", fragte ihn der Prinz, nachdem die Wahl auf ihn gefallen war.
"Lieber würde ich in die nächste Schlacht ziehen. Aber Rokil sagt, es ist wichtig. Ja, ich werde es tun", antwortete der Bezwinger der Meere.
Am nächsten Tag brach er auf und fuhr wieder zur See, den Fund bei sich tragend.
Heute fuhr er immer noch.
Der Unglücksrabe
Seine Ernte hatte die Wetterhexe Edais verdorben, das war schon einige Jahre her. Damals hatte man Sir Lucius geschickt, den Fall zu untersuchen. Der Unglücksrabe hatte gehofft, die Drachenritter würden sich der Sache annehmen, aber man hatte wohl Wichtigeres zu tun als sich um die Not der Bauern zu sorgen. Und Sir Lucius hatte keinen Erfolg, hieß es irgendwann. Nur ein Tag war vergangen, seit der Ritter Edai wieder verlassen hatte, da hatte es plötzlich aufgehört. Nur sein Feld, das hatte die Hexe noch zerstört.
Das Pech verfolgte ihn stets. Als er als Feldarbeiter hatte überleben wollen, bei einem Nachbarn, hatte man ihn des Diebstahls beschuldigt. Dabei hatte er nichts getan! Im hohen Bogen hatte man ihn rausgeworfen, und er war Tagelöhner an der Werft im Norden geworden. Die Trunksucht hatte ihn gepackt, sodass er eines Tages eine ganze Ladung versenkt hatte, weil er am Abend vorher zu viel gesoffen hatte. Dass man ihn zum Trinken verführt hatte, das war irgendein mieser Nordmann gewesen, hatte natürlich nicht interessiert. Sein Weib war schon längst krank geworden und gestorben, und sein Sohn war in die weite Welt hinaus gegangen, um irgendwo sein Glück zu finden.
Was blieb ihm also noch, als sich irgendwo zu verdingen? Da war es ein glücklicher Umstand, dass Lord Dryr nach dem Verschwinden der Drachenritter das Land eingenommen hatte und überall nach weiteren Soldaten suchte. Der Sold war annehmbar, die Unterbringung kein Palast, aber wenigstens ein Zelt, das er sich mit drei anderen teilen musste.
Aber dann, als der Truchsess irgendwo auf See ums Leben gekommen war, da brach dieser vermaledeite Krieg aus. Lord Dryr hatte zweimal die Seiten gewechselt. Ihm, dem Unglücksraben, war das egal. Er bekam seinen Sold, und da scherte es ihn nicht, wen er dafür bekämpfen sollte. Wenigstens etwas Silber und Fressen. Seine Ansprüche waren doch bescheiden geworden.
"Sie werden keine Gefangenen machen. Die Blodhord ist bei ihnen. Sie werden euch überrennen wollen, alle töten, und eure Leichen werden sie nicht bestatten, sondern verspeisen. Flieht nicht, denn sie werden euch bis ans Ende der Welt jagen; ergebt euch nicht, denn sie werden keine Gnade zeigen. Ihnen sind Worte wie Ehre und Gnade so fremd wie ritterliche Tugenden!", hatte Lord Dryr sie eingeschworen.
Da stand er nun. Edailech sollte er verteidigen. Ausgerechnet Edailech. Jeder kannte ihn dort. Vielleicht würde er seine Ehre herstellen können, wenn er heldenhaft kämpfte. Als die ersten Heerscharen des Feindes einfielen, Halbriesen und Vendus, da schickte er schnell einige Frauen und Kinder in die Taverne, ließ die Türen verrammeln und stellte sich in die erste Reihe.
Den ersten Schlägen konnte er ausweichen, und er schaffte es, einen Vendu zu erlegen. Nordmannen folgten der Blodhord, dazu kamen diese Leute von der Nachtwache, Nordmärker, Zwerge und diese Pfeile des Waldes. Einen jungen Burschen erschlug er im Lauf, doch er wurde unachtsam, stolperte über die eigenen Füße und stürzte.
Zuletzt sah er die Klinge einer schwarz gekleideten Nordfrau, dann glaubte er, hinter ihr einen Dämon zu erkennen und sah sich bereits in der Hölle, während er seinen Atem aushauchte.
"Passender hätte es nicht enden können", sagte eine kalte Stimme.
"Wo bin ich?"
"Mein Name ist Caldorvan. Willkommen, Unglücksrabe. Deine Pechsträhne ist vorbei."
Baelon
Seine Glieder schmerzten, als zwei Untote ihn aufrichteten. Zahllos war die schwarze Horde, die ihn aus schwarzen Augen und mit schwarzen Seelen betrachtete. War nun seine Stunde gekommen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass Caldorvan ihn gehen lassen würde. Vermutlich würde der Untote ihn nun doch zu einem Teil seiner Armee werden lassen. Was für ein klägliches Ende. Er hätte mehr tun müssen! Baelon wünschte sich, Petyr mit eigenen Händen vor den Augen des Volkes getötet zu haben, genau wie seine verhasste Schwester Irinia. Er hätte den Widerstand führen müssen, hätte Sir Roymar nicht hinhalten sollen, sondern mit aller Macht gegen Bretonia ziehen sollen. Nun war es zu spät. Roymars Mannen zogen unter Grauwinds Banner, unter dem Banner der Angst. Und Thaira? Hätte er sie nicht retten können? Hätten sie nicht fliehen sollen, so wie er es einst vorgeschlagen hatte? Wie würde man sich an Lord Baelon erinnern? An den, der zögerte. An den Feigling, der das Reich nicht retten konnte.
"Ihr seid frei, Lord Baelon", knurrte einer der Untoten, und Baelon glaubte, ihn zu erkennen.
"Sir Marryn, seid Ihr es?"
"Ein anderes Leben, Mylord."
Baelon nickte langsam. "Es tut mir leid. Ich hätte es verhindern müssen."
"Lebans Wege verhindert man nicht. Geht nun."
Marryn reagierte nicht weiter. Zwei andere gaben ihm ein Pferd, seine Waffen und seine Rüstung. Sie eskortierten ihn bis Nobs Stall, wo Baelon etwas Proviant erstehen konnte und gen Norden zog. Er ritt durch das verwüstete Land, vorbei an brennenden Leichenbergen, bis er Edailech erreichte. Nordmannen und Zwerge grüßten ihn schweigend. Am Fluss nahm er eine Fähre, um schließlich bis Tilhold zu reiten. Dort lief er schnell in die Taverne, begrüßte Ephyre und den Lethos und nahm seine Nichte in die Arme.
"Onkel Baelon, bist du es wirklich?"
"Ja, Alysare, ich bin es. Geht es dir gut?"
Sie nickte und lächelte. "Hier sind alle gut zu mir."
"Du warst auch krank, wie ich. Aber man hat uns gerettet. Und bald müssen wir ein ganzes Reich retten. Du musst weiter stark sein."
"Ja, das werde ich. Hast du auch das goldene Schwert gesehen, Onkel?"
"Ja, das habe ich."
"Und hast du auch von dem hellen Licht geträumt?", fragte sie dann.
Baelon stutzte. "Ich erinnere mich nicht. Erzähl mir davon."
Nachdem Alysare berichtet hatte, erhob sich Baelon. "Ich muss mit der Hetfrau und den anderen sprechen", sagte er zu einem Nordmann.
"Die sind im Süden unterwegs. Aber die Hetfrau ist hier. Folge mir."
"Lord Baelon, er hat Euch gehen lassen", sagte Branda.
"Ja. Und ich muss umgehend mit Euch sprechen. Es geht um Sicarion Grauwind."
Lucius
Der verfluchte Untote war mächtig. Trar wünschte sich, Giltheas hätte die Kontrolle über dieses Monstrum behalten. Wenn dies wirklich Caldorvan von Torbrin war, dann hatte er den strategischen Verstand behalten, aber war umso stärker geworden. Seine Untoten wuchsen nach wie Unkraut. Kaum dass einer von Witrins Verteidigern fiel, stand er als Untoter in Caldorvans Reihen wieder auf. Nur die Werwölfe waren immun gegen diese schwarze Sieche, die schlimmer war als alles, was Lucius je gekannt hatte.
Und er hatte wirklich viel gesehen. Abgesehen von den zweifellosen Wundern und Geheimnissen der Grünen Magie, abgesehen von seiner eigenen Verwandlung in den Wolf und den Ereignissen im Bürgerkrieg, hatte er so viel gesehen. Plötzlich erinnerte er sich. Der Bürgerkrieg. Er hatte Seite an Seite mit dem jungen Prinzen Lerhon gekämpft. Von Schlacht zu Schlacht war er ihm und Roan und Martus gefolgt. Das war, bevor er der Hexe begegnet war und sein Leben sich vollständig geändert hatte. Bevor er die Suche nach Velthan aufgenommen hatte, die nur zu Velthans Tod geführt hatte. Bevor er erst an Giltheas Seite stand und nun in Grauwinds Heer zog, das Moorvolk an seiner Seite. Der Bezwinger der Meere hatte einen Jungen gefunden. Und genau an diesen Knaben erinnerte sich Lucius nun.
Was mochte aus dem Jungen geworden sein? Man hatte den Bezwinger und seine Mannschaft zur See geschickt, da die Torbrinflotte keine nennenswerten Schiffe mehr hatte und der Knabe dort am sichersten aufgehoben war. Doch nach all den Jahren wurden sie nimmer mehr gesehen. Gerade jetzt wäre der Bursche vielleicht ein Schlüssel, diese verdammte Belagerung zu brechen und den Untoten zu vertreiben!
Eine Wache trat ein. "Mylord?"
"Sind sie schon eingedrungen?", fragte Lucius matt.
"Nein, Mylord, aber es hat eine Entwicklung gegeben. Mutter Kelar ist zurück. Oshinya ließ sie zu uns bringen, nachdem sie im Norden war und mit den freien Frauen gesprochen hat."
"Worüber?"
"Der Grüne Golem. Er ist gefallen. Der Tempel hat sich verändert. Die Königin des Westens übt Einfluss aus."
Lucius nickte. "Ja. Ich hoffe, Grauwind wird diesen Einfluss schnell los. Ich hoffe, Mutter Kelar sieht, dass ich nur aus taktischen Gründen ihm und Roymar zur Seite stehe?"
"Ja. Jetzt, da Velthan tot ist, sieht sie ohnehin keine Hoffnung mehr für das Grün. Sie hofft, dass Ihr eines Tages Sicarion vernichten werdet."
Sicarion vernichten. Na, vielleicht sollte ich zuerst meine Burg behalten, dachte er. "Was für Entwicklungen hat es gegeben?"
"Wir haben ihn gefunden."
Lucius ließ sich alles berichten, dann gab er Befehle: "Ein Rudel soll ausbrechen und sich mit dem Moorvolk treffen. Wir müssen schnell handeln!"
Kithei
"Er ist WAS?", polterte sie.
"Bathir von Dryr ist nun König des Reiches. Starys hat ihn krönen lassen", berichtete Grimo, bevor er sich wieder verwandelte.
"Der Mörder meines Geliebten herrscht über ein Reich aus Scherben, und mehr als Scherben wird er niemals haben. Er muss sterben! Ich will seinen Kopf, und ich will sein Herz, damit ich es verzehren kann, dass mein Kind groß und stark wird."
"Beruhige dich, Schwester. Wir werden ihn kriegen", sagte Oshinya.
"Ich kann mich nicht beruhigen. Er ist weiter weg als je zuvor. Bathir von Dryr sitzt hinter ewigen Mauern einer ewigen verdammten Stadt. Mein Zorn ist groß genug, dass ich jeden Stein einzeln zerschlagen könnte, um ihn zu kriegen."
Sverka nickte. "Das wirst du. Edailech ist nicht mehr sein. Vielleicht schnappen wir uns zuerst seinen Neffen, den er zum Lord des Eisenwalls gemacht hat."
"Benutzen wir Sicarion. Meine Gefährten reisen mit ihm und den Wölfen. Man könnte ihm Bretonia schmackhaft machen", schlug Oshinya dann vor, aber Kithei interessierte sich nicht für irgendeinen Dryr, sondern nur für diesen einen, der ihren Geliebten ermordet hatte. Sie hatte so oft davon geträumt, mit ihm allein in die Ferne zu reisen, alles zu vergessen und ein Leben in Frieden und Zweisamkeit zu führen, ein Kind zu erziehen, die Welt sich selbst überlassen. Denn was gab es noch? Die Schrecken des Krieges, Tod, Blut, Elend und Mord. Ohne Marryn war das Leben so sinnlos geworden. Selbst das Mutterglück brachte ihr keine Freude mehr. "Tut, was ihr wollt. Ich werde den Wilderländern sagen, dass wir alles in die Schlacht beim Säulengang werfen müssen, was wir noch haben. Ich will in die Stadt!"
Dann schickte sie ihre Schwestern hinaus, denn ihr wurde übel. Sie übergab sich, aber ihre Kotze ließ sie einfach ins Gras sickern, während sie daneben lag. Langsam schlossen sich ihre verweinten Augen und sie träumte:
Ein Haus, einfach und schön, ein Kräutergarten und Bänke. Sie lag in Marryns Schoß, der ihr ein Lied der Minne sang und ihren Bauch liebkoste. Vögel sangen mit ihm, und Grimo tollte auf einem Hügel mit seinem Sohn Thymo herum. Es war ein gutes Leben. Aber plötzlich starben alle Vögel und die Kräuter gingen ein, als ein kalter Schatten Kithei berührte und sie an Marryns Stelle umarmte, denn Marryn war verschwunden.
"Wir sind Liebende. Und uns ist die Rache", sagte eine Stimme.
"Wer bist du?"
"Ich bin Thaira. Wollen wir zusammen sein?"
Roan
Die Schlacht tobte Tage und Nächte. Der Nachschub der Tyrells, wer auch immer nun an Ivars Stelle herrschte, nahm kein Ende. Stets folgten weitere nach, ob es nun einfache Soldaten, Golems oder Elementare waren. Feuer schlug um sich, und nicht wenige von Roans Mannen bissen ins Gras. Aber sie kämpften tapfer. Den Waldläufern hatten sich Leyris Schützen angeschlossen, genau wie die Leute von Brioless, obwohl ihr Herr immer noch ein Bleicher war. Brioless gab keine Antworten auf die vielen Fragen, die man ihm stellte, und schwarzer Obsidian zeigte immer noch keine Wirkung. So war Roan davon überzeugt, dass etwas in der Festung Wilderberg sein musste, was Brioless heilen könnte.
Die Berichte der alten Frau, die ihn aufgesucht hatte und die vorgab, Lady Glorianna zu dienen, waren glaubhaft und hoch interessant. Ja, er glaubte ihr. Nach allem, was er von Lady Glorianna wusste, so war dies nicht unbedingt unwahrscheinlich. Xenophilius berichtete ihm stets von ihren Besuchen und was sie tat. Außerdem arbeitete der Magus an einem Zauber, der das Blatt im Kampf um Wilderberg wenden konnte.
"Mylord, Sir Leyris lässt ausrichten, dass sich weitere Freischärler unserem Kampf verschrieben haben. Außerdem berichteten einige Fischer von einer Begegnung auf See", sagte Emes.
Roan runzelte die Stirn. "Welcher Fischer ist so irre und fährt jetzt noch zur See. Da lauern noch Yaruner, und sie folgen dem Verräter Roymar und dem Ketzer Sicarion. Aber, egal, was berichten sie? Ich hoffe, es ist wichtig in dieser Schlacht. In den Kernlanden lauern außerdem Caldorvans Untote, und er selbst zieht gegen Trar. Ich hoffe also, der Bericht von ein paar Anglern ändert die Lage entscheidend?"
"Entscheidet selbst. Damals war ich ein einfacher Leutnant in des Prinzen Armee. Aber auch ich erinnere mich an das, was der Bezwinger der Meere gefunden hat, Lord Carmon."
Diesen Namen hatte Roan lange nicht mehr gehört. Nach der Schlacht in den Südlanden, vor dem Sieg und seiner Ernennung zum Lordprotektor von Caldorvans Burg, hatte er das erste und letzte Mal vom Bezwinger der Meere gehört. "Er ist zurück? Nach all der Zeit?"
"Ein Geisterschiff, sagen die Leute. Doch sie sind sich sicher, dass Nordmannen an Bord waren. Die beiden Fischer hatten sogar den Mut, das Schiff eine Weile zu verfolgen. Dann verirrten sie ich im Nebel, riefen einem anderen Schiff zu, aber man drehte nicht bei", erklärte der Heermeister.
"Ich habe kein Schiff. Wir stehen hier am Abgrund, Emes. Aber jemand muss es finden. Er ist vielleicht noch dort. Das wäre eine Wende. Genau das, was wir alle brauchen in diesem Krieg. Lady Theresia wäre Königin! Und Sicarion könnte seinen König Roymar vergessen, genau wie Caldorvan seine wirren Pläne, diesen Aran zum König zu machen, was einfach lächerlich ist."
"Ich werde sehen, was ich tun kann", sagte Emes und salutierte. Er schickte einige Mannen nach Waldwacht, die sich mit Sack und Pack zur Küste aufmachen sollten.
Roan warf wieder einen Blick auf die Karte. Sicher, er könnte Tyrell in den Rücken fallen, aber für einen Marsch durch das Wilderland müsste er seine Armee aufteilen. Das Risiko war zu groß.
"Wache!"
"Mylord?"
"Schickt so viele Pfeilhagel gegen die Zinnen wie es geht. Und bereitet die Ramme vor."
"Jetzt schon?"
"Ja, jetzt schon", sagte Roan und erinnerte sich an die Augen dieses Knaben, den sie damals gefunden hatten. Sie waren wie das Meer gewesen.
Starys
"Und wie lauten die Befehle Seiner Majestät?", fragte Starys.
Bathir von Dryr lachte. "Ich mag es, wie Ihr diesen Titel aussprecht. Leicht verachtend und doch würdevoll, Sir Starys. Aber Ihr hattet keine andere Wahl. Wer sollte es sonst tun?"
"Nun, Majestät, Ihr habt Edailech verloren. Betrachtet es als den Segen der Götter, dass wir an Euch dachten, die Lücke, die schmerzliche Lücke zu füllen, die König Petyr und die Regentin Irinia hinterlassen haben."
"Und wie ich es als Segen betrachte. Ihr solltet wissen, Starys, ich hätte mir den Thron ohnehin genommen. Ob nun mit der Hilfe dieser Kitheihure oder dadurch, dass ich ihren Geliebten töte - es spielt keine Rolle für mich. Wichtig ist das Ergebnis."
Starys nickte. Er hatte tatsächlich keine andere Wahl gehabt. Dryr als Herrscher war keineswegs die ideale Lösung, aber eine starke Hand könnte jetzt dafür sorgen, dass das Reich zur Ruhe käme. Da war der Zorn Kitheis, ja, da war der Norden, natürlich. Aber wenn Dryr sich geschickt anstellen würde, könnte man mit Grauwind verhandeln, gegen Giltheas ziehen und hätte auf einen Schlag eine gewaltige Armee. Starys war bewusst, dass der Norden ihn niemals verschonen würde, nach allem, wa er getan hatte. Also musste er diesen Krieg vergrößern, um ihn zu beenden. Schon, um seine eigene Haut zu retten. "Ja, das Ergebnis zählt, Majestät."
"Findet Lord Baelon. Er soll knien und mich König nennen. Und findet diese kleine Prinzessin. Ich will beide richten. Sie sind gefährlich."
"Majestät, wenn ich Euch einen idealeren Vorschlag machen dürfte?", fragte Starys.
"Nur zu. Ich höre mir alles an, Berater", lachte Dryr.
"Gebt beiden einen Landsitz, irgendwo im Süden, wo noch nicht gekämpft wird. Man wird Euch einen Schlächter nennen, wenn Ihr ein Kind ermorden lasst. Und es würde ein Licht auf Euch werfen, dass eines Königs nicht würdig ist. Das Volk muss Euch achten."
"Es muss mich vor allem fürchten. Furcht ist eine Waffe, Starys. Versteht Ihr das etwa nicht? Wie sonst war es mir wohl möglich, dem Feind keinen einzigen Soldaten in Edailech zu überlassen?"
"Woher wusstet Ihr, dass sie nicht Eisendorf, sondern Edailech angreifen würden?", fragte Starys neugierig.
"Das will ich Euch sagen: Ich bekam einen Hinweis, dass man mich täuschen will. Grauwind hatte einen Spion in Tilhold. Man wird ihn sicher mittlerweile gefunden haben, aber er hat gute Dienste getan. Für Grauwind, aber am Ende auch für mich."
"Sicarion Grauwind hat Euch gewarnt? Warum das?"
"Spielt es eine Rolle? Schafft mir meine Ritter her, ich will mich beraten mit ihnen!"
Starys verließ den Saal. War Dryr am Ende noch irrer als Petyr? Erkannte er nicht, dass Grauwind damit Edailechs Schicksal besiegelt hatte, weil er genau gewusst haben musste, dass Dryr den Thron annehmen und damit Edailech aufgeben würde? Nein, es war unmöglich, dass Dryr dies nicht wusste. Sein Neffe Elyarn war nun Lord des Eisenwalls. Ein unerfahrener Mann, weniger blutrünstig und eher besonnen. Dryr war der Thron wichtiger als ein festes Reich, zweifellos.
Starys lief schnell in die Rüstkammer und hoffte, Sir Allyen allein anzutreffen.
"Sir Allyen, wie schön, Euch zu sehen."
Allyen knurrte. "Ihr habt einen Verrückten gegen einen Mörder ausgetauscht. Er war es, er hat Marryn erschlagen, nicht wahr?"
"Ich bitte Euch, das war in der Schlacht. Es war ein Zweikampf, und Sir Marryn hat ihn verloren."
"Was wollt Ihr?"
"Sir Allyen, ich habe eine Bitte. Es ist kein Befehl. Ich möchte, dass Ihr dem jungen Lord Dryr einen Besuch abstattet. Er soll wissen, dass eine wichtige Aufgabe vor ihm steht. Er soll Edailech in Frieden lassen, aber seine Grenzen gegen den Norden sichern. Man wird auch Eisendorf einnehmen wollen. Außerdem braucht er eine Hand, die ihn führt."
Roymar
Was würde er seiner Liebsten berichten, wenn er jemals wieder die Silberküste sehen würde, das Licht des Leuchtturms von Vanycia und die Delphine in den Wellen vor Tharos? Dass er ausgerechnet dem Schlächter von Markinos folgte, dem Brenner, dem Schänder mit den Feuerhänden, Sicarion Grauwind? Würde sie verstehen, dass er all dies tat, weil er hoffte, auf dem Wege eines Tages für Lord Baelon den Thron zu erobern? Und würde irgendjemand hier ihm noch glauben? Wieviele Gräueltaten Sicarions er noch mitansehen und mittragen müsste, das wusste Roymar nicht. Die grausamen Träume, die ihn zum König des Reiches machten, endeten nicht. Eines Tages hatte er sich sogar dabei ertappt, wie er Sicarion davon berichtet hatte.
"Gut. Ihr bereitet Euch seelisch auf Eure Aufgabe vor", war die einfache Antwort Grauwinds gewesen.
"Ich meine, Lord Baelon wäre ein gerechter König. Meinetwegen auch Lady Theresia. Stimmen sie Euch nicht zufrieden, weil sie nicht aus Tectaria kommen?"
"Wir kommen alle aus Tectaria, Sir Roymar, doch meint Ihr nicht, dass Ihr ein weiser und gerechter König wäret? Befreit das Land von der Glanplage, tötet den Hund des Eisenwalles, und alles liegt Euch zu Füßen!"
"Ich bin ein Feldherr, kein König."
Sicarion hatte darauf nicht mehr geantwortet. Roymar hatte noch gesehen, wie er Wara und Jaravhar zu sich gerufen hatte, um mit ihnen den Bau zu besprechen. Worum es sich da handelte, wusste Roymar nicht, aber täglich wurden Steine auf See transportiert, um ein unbekanntes Ziel zu versorgen. Roymar hatte Styros gefragt, ob er etwas wüsste, doch der Heermeister Caenors war entweder zu feige oder wirklich ahnungslos gewesen, denn er hatte nur den Kopf geschüttelt.
Roymar ließ sein Pferd satteln. "Proviant für einen Tag", befahl er dem Burschen.
"Wohin des Weges?", fragte Sicarion.
"Ich will sehen, wie es um Bredorf steht. Ich nehme einige Templer mit."
"Gut. Ihr zeigt Interesse."
"Natürlich tue ich das! Dort leben viele unschuldige Menschen, und Tars Wölfe machen kaum einen Unterschied zwischen Soldat und Bürger."
"Seht Ihr, so handelt ein König", spottete Sicarion und ließ ihn ziehen.
Dass Eunuchen ihm folgen würden, war Roymar bewusst. Darum ließ er die Templer allein nach Bredorf reiten und schlug irgendwann eine andere Richtung ein, bis er den geheimen Treffpunkt erreichte, den Lord Baelon ihm einst genannt hatte. Doch weder war Sir Belforr anzutreffen zur besagten Stunde noch Sir Hermos oder Sir Allyen. Er war allein. Gab es denn keine Hoffnung mehr?
"Mein König, da bist du ja", flüsterte Thaira.
"Nein, bitte lass mich endlich in Ruhe, Rachegeist! Ich werde niemals König sein!"
Nachdem der Geist der Königin ihm seine Geheimnisse genannt hatte, sah Roymar ein goldenes Schwert, und er erkannte endlich sein Schicksal.
Mercutio
Der schwarze Lord verließ den Blauen Turm, wie er gekommen war. Ohne seinen Nachtmahr, zu Fuß, und ohne Proviant. Verzicht war eine seiner leichtesten Übungen. Seine Pläne waren durch Sicarion Grauwind vereitelt worden, und er musste sich neu orientieren. Dazu gehörte die Askese, die er stets gepredigt hatte. Dies tat er, um sich für seine eigene Unachtsamkeit zu bestrafen, denn die Pläne von Jahrzehnten waren in einer einzigen Nacht zerstört worden. Der verdammte Tectarier hatte ihn überrollt, sodass er in die Ferne geflohen war. An der Nebelküste hatte er ein Schiff entdeckt, das die Yaruner zurück gelassen hatten, und er konnte endlich den Notfallplan umsetzen.
Mehrere Stunden waren sie gesegelt, bis sie endlich die Insel erreicht hatten, die Argan in seinen Aufzeichnungen als Hort des Tempels von Eis und Feuer beschrieben hatte. Aber der Tempel war nicht das Ziel von Mercutio gewesen: Es war der Schiffsfriedhof. Als er damals die Insel des Rosentempels und das Grab Cyrians besucht hatte, war es ihm gelungen, den Geist des Lethos zu rufen und ihn für einen Moment gefügig zu machen. Da hatte er die Grabstätte von Darius erfahren, und wie man sie gesichert hatte. Jahrelang hatten die Übungen gedauert, die magischen und heiligen Versiegelungen zu überwinden, die man dort angebracht hatte.
"Mylord, das ist ein Ecaloscop. Man wird sehen, was wir hier getan haben."
"Das soll man auch. Ich werde Hilfe brauchen, das Skelett zu verteidigen, wenn Grauwind oder Trar mich gefunden haben."
"Warum bitten wir nicht um Hilfe?", fragte der Heermeister der Drakoskrieger.
"Weil wir nur Leban bitten. Sie sollen denken, es wäre ihre eigene Idee, mir zur Seite zu stehen."
Als Mercutio sein Versteck erreichte, hatte man das Skelett schon vorbereitet. Er würde offenbaren müssen, was der Plan war. Doch zuvor musste er auf Zeit spielen. Er musste den Angriff riskieren, um die Leute aus dem Norden dazu zu zwingen, einzugreifen. Erst dann wären sie überzeugt.
"Hat es sich schon bewegt?", fragte er einen Mazzrarim.
Das Wesen nickte schweigend.
"Wundervoll. Welch Ironie: Eure Herren haben ihn damals in den Tod durch des Nordmanns Schwert getrieben, und heute retten wir ihn, damit er das Reich retten kann."
Bathir
Nach der Unterredung mit den Rittern ließ der König sich zwei Huren kommen. Obwohl sie willig waren, denn man belohnte sie gut, fiel er über sie her, als wären sie Schweine auf einer Festtafel. Die eine überlebte ihn nicht, die andere lag am Ende weinend in seinen Säften. Er lachte nur, warf ihr die Münzen vor die Füße und schickte sie fort. Die andere ließ er auf einem Armenfriedhof als Kriegsopfer verscharren.
Dass Sir Allyen abwesend war, kam ihm gelegen. Der alte Ritter war ihm ein Dorn im Auge. Nun, er würde Marryn bald Gesellschaft leisten dürfen. Was aus Elyarn wurde, scherte ihn auch nicht. Eisenwall würde sicher bald an den Norden gehen, doch Bathir verfolgte eigene Pläne, was das Reich betraf. Das Geschenk des Narren, die Feuerklinge, übertraf Samgard. Trotzdem musste er diese verdammte Königsklinge bekommen. Er fragte sich, weshalb diese Söldnerschlampe immer noch das Recht genoss, das Schwert der Könige zu beschützen. Sollte es nicht in des Königs Hand sein?
"Schafft mir Belforr her!"
Der Ritter betrat die Kammer, musterte nur kurz die blutigen Laken und verneigte sich. "Majestät."
"Ich habe bereits bei der Unterredung gemerkt, wie unzufrieden Ihr seid. Sagt, Sir Belforr, wieviele Ritter stehen in Wahrheit auf Lord Baelons Seite? Ich bin weniger zimperlich als es Petyr war."
"Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Majestät."
"Ich habe einen Auftrag für Euch. Reitet nach Bredorf und holt mir die Söldnerin Ephyre her. Sie muss Samgard dem Königshaus übergeben. Und sei es nur symbolisch."
"Mein König, sie ist nicht mehr in Bredorf. Die Söldnerin wurde von den Tyrells entführt, aber sie konnte entkommen."
"Dann will ich den Roten Narren sprechen."
"Er ist derzeit auf Reisen."
"Auf Reisen, während Carmon seine Burg belagert? Ist er verrückt? Nein, antwortet nicht. Er ist es. Gut, dann wird dieses Weib wohl im Norden sein. Reitet dort hin und holt sie her!"
"Mein König? Der Norden hat Edailech eingenommen. Die Blodhord ist dort, wie soll man Ephyre erreichen?"
"Lasst Euch was einfallen!", brüllte Bathir.
Als der König wieder allein war, da nahm er die Feuerklinge und betrachtete sie.
"Feuer", murmelte er, "wird die Verräter gefügig machen!"
Sicarion
Unzufrieden ließ er sich berichten, dass die Eunuchen am Blauen Turm geschlagen worden waren. Waren diese Tirinaither nicht friedlich und unerfahren? Offenbar hatten sie Hilfe bekommen. Einen weiteren Angriff konnte er nicht wagen, denn er hatte ebenso von Trar die Nachricht bekommen, dass Caldorvan Witrin belagerte. Der Untote durfte vorerst nicht mehr in seine Nähe kommen, das stand fest.
Also musste er einen anderen Weg finden, Giltheas aufzuspüren, um den Pakt mit der Königin des Westens zu lösen. Ein Pakt, der ihm eines Tages das Leben kosten würde, wie auch seine unsterbliche Seele sonst dem Ungeheuer gehören würde, das im nächsten Moment wieder wie die schönste Frau auf Erden war, nur um dann in all ihrer Hässlichkeit ihre Eier zu legen, woraus ihre Echsen schlüpften.
Es war vor vielen Jahren gewesen. Wegen seiner Verbindung mit der Sklavin Wara hatte man ihn aus der Kirche verbannt und anschließend exkommuniziert:
Zwar behielt er seine Fähigkeiten, aber Tectaria musste er verlassen. Dhelod und die anderen ihm loyalen Inquisitoren, Priester, Messdiener und Templer zogen mit ihm davon. Er beschloss, die Route von Liranus zu nehmen, in dieses gelobte Land, das die Frechheit besaß, sich nach seinem Entdecker Bretonia zu nennen. Ein Neuanfang vielleicht. Hoffnung gab es wenig. Doch ein Sturm ließ viele Schiffe seiner Flotte zerschellen, während ein Teil überlebte.
Sie fanden eine grüne Küste, dahinter riesige Bäume, die in der schwülen Hitze sich vom Monate anhaltenden Regen nährten. Exotische Pflanzen und Tiere, Eingeborene und Echsenwesen lebten in diesem Land. Das musste Marjastika sein. Sicarion und seine Männer erkundeten das Land nach Dingen, die sie rauben konnten, nach Schätzen und Sklaven. Doch dann, im Westen des Landes, fanden sie einen riesigen Bau. Stufenförmig stiegt das Gestein in schwindlige Höhen, und auf der Spitze des Zikkurats thronte ein goldenes Ungeheuer. In seinem Schnabel saß eine wunderschöne unbekleidete Frau mit dunkler Haut. Sie stieg hinab und erleuchtete Sicarion.
Nachdem er sie geschwängert hatte, war er so blind gewesen, dass er den Vertrag mit seinem eigenen Blut unterschrieben hatte. "Du wirst herrschen", sagte sie.
Und die Brut, die ihm von Marjastika bis hierher gefolgt war, sie waren alle seine Söhne.
"Herr?"
"Sprich, Eunuch."
Der Krieger berichtete von dem, was Mutter Kelar gesehen hatte. Nun, auf die Hexe war also doch noch Verlass. Trar hatte sie gefügig gemacht. Nun sollte der Moorlord die Sache beenden.
"Er soll Giltheas lebend zu mir bringen! Hat unsere Illusion Thairas Roymar überzeugt?"
"Er will es nun."
Caldorvan
Zufrieden betrachtete der Untote, wie sein Heer mit jedem gefallenen Menschen, der Trar diente, größer wurde. Es war fast schon bedauernswert, wie Trar seine kleine Armee ausschickte, voller Verzweiflung, um das Unausweichliche, denn es war Lebans Wille, zu verhindern. Und doch beschloss der Untote, dieses Treiben noch einige Tage schweifen zu lassen. Denn er musste die größte Armee der Welt erschaffen, um Lebans Wünsche zu erfüllen. Er, Caldorvan, war Lebans Hand. Und Lebans Hand hatte die Pflicht, das Werk des Dunklen zu erfüllen und zu vollenden. Aran, den er nun durch die simple und leere Drohung, Owen in seine Armee einzugliedern, gewonnen hatte, war nur ein Teil im Räderwerk des Todes, das Caldorvan gedachte, wie einen Totenmantel über das Land zu ziehen. Die größte Macht der Welt war er, der Untote.
"Mylord."
"Sprecht, Sir Marryn."
"Wir haben Lord Baelon ziehen lassen."
"Gut. Wir wollen unser Wort halten. Was noch?"
Marryn räusperte sich. "Einige Wölfe und Truppen Oshinyas sind ausgebrochen. Sie fliehen, wie es scheint."
"Lassen wir sie fliehen. Gute Arbeit, Sir Marryn. Leban ist glücklich."
Der Ritter zog wieder in den Kampf. Caldorvan spürte, wie das Wasser des Seelenmoors ihn und seine Armee immer gewaltiger machte. Konnte es so leicht sein?
Irgendwann spürte er Thairas Gegenwart. "Was willst du hier? Ich habe dir gesagt, die Nordfrau sucht dich. Sie wollen dich erlösen. Hast du kein Interesse mehr daran?"
"Du hast gesagt, ich muss erst meine Aufgabe erfüllen."
"Und? Ist es dir gelungen, Thaira?"
"Ja. Kithei wird ihre Rache bekommen."
"Ausgezeichnet. Verschwinde."
König Bathir würde wenig Freude daran haben, über das Land zu herrschen. Wie sollte er auch? Immerhin gab es nur einen Träger Samgards: Aran von Torbrin!
Caldorvan war sicher. Leban hatte es gesagt.
Der Stumme
Auch wenn die Sonne hoch über dem Meer stand, so empfand der Stumme keine Freude und sah kein Licht. Immer wenn ein Schiff sie passierte, hoffte er, man würde ihn sehen. Ihn oder seine Begleiter. Er wusste nicht, wer er war. Doch tief in seinem Herzen fühlte er, wie sich eine Schlange erhob, um ihre Giftzähne in die Schlagader eines Königs zu stoßen.
"Wer bin ich, Kameraden?", fragte der Kapitän Stunde um Stunde.
"Der Bezwinger der Meere! Für Lerhon! Für den Sieg!"