von Tharon

Kreative Werke der Spieler
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Tharon
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Beitrag von Tharon » 03 Jan 2009, 11:30

Palästina

Der Hradschin stand bereits in seinem schwebenden Licht. Es spiegelte sich weiter als die Sonne am Tag und der Mond in der Nacht es je taten. Das Licht trug sich selbst hinaus in die Alte Schloßstiege, verfing sich kurz im angrenzenden Fürstenberg Garten, kroch Ecke Waldstein Gasse und Klarow Gasse westlich und südlich davon, vergnügte sich mit den Strahlen kleiner Laternen des westlichen Kleinseitner Rings und des südlichen Drazitzer Platzes, spielte verwegen durch die Brücken Gasse, fiel vor lauter Übermut fast schon die Karlsbrücke hinab, spiegelte sich in den Wellen der Moldau, auf die der junge Moritz Brum schaute.
Moritz Brum stand an der Ostseite der Karlsbrücke. In seinen Augen erkannten die letzten Spaziergänger die schweren Gedanken, die ihn beschäftigten. Es waren Gedanken, die an einen fernen Ort reisten, in die weite Vergangenheit.

Pläne

Eine Unterredung mit Ella hatte auch keine neuen Ergebnisse gebracht: Gestern hatte er ihr telegrafiert, um für den Freund die Türe ein wenig weiter zu öffnen. Aber Ella wußte nur wenig von ihrer Schwester zu berichten. Sie sei ein wenig eingeschüchtert, sagte sie ihr. Josefs Briefe hätten sie wohl sehr schockiert, hieß es dann weiter im Telegramm aus Berlin. Moritz Brum hatte schon viele Tage damit verbracht, mit der Familie Bergen in Berlin Kontakte zu knüpfen –immer mit dem Ergebnis, dass zu den vielen Unklarheiten immer neue hinzukamen. Seinem Freund sollte er wohl besser von dem letzten Telegramm nicht berichten. Ohnehin machte er sich schon genug Sorgen. Dabei war für keinen abzusehen, dass sich überhaupt ein Kontakt zwischen Josef und Frieda entwickeln würde:
Eher flüchtig traf man sich an einem späten Abend in der Wohnung von Brums Eltern. Diese waren lang schon schlafen, als Moritz und Josef ihren Plan, ein paar Manuskripte zu lesen und zu ordnen, unterbrachen, denn das Fräulein Frieda Bergen aus Berlin schien andere Ideen zu haben. Man sprach über eine gemeinsame Palästinareise, machte sogar richtige Pläne. Josef versicherte sich der Durchführbarkeit der Reise mittels eines Handschlags, den er von Moritz und Frieda verlangte. So freudig hatte Moritz Brum seinen Freund Josef Kandra lang schon nicht mehr gesehen. Zu diesem Zeitpunkt glaubte Moritz aber keinesfalls daran, dass Josef Frieda schon nach einigen Wochen einen Brief schreiben würde, in dem er sich nochmals höflich vorstellte, da er in seiner Bescheidenheit annahm, sie hätte ihn bereits vergessen.
In diesem Brief hatte Josef noch einmal die Reise nach Palästina zur Sprache gebracht. Eine solche Sicherheit kannte Moritz von seinem besten Freund nicht. Brum beobachtete den Briefwechsel zwischen Frieda und Josef also sehr erfreut, denn sie schien die Rettung für Josef zu sein.

Josef Kandra

Josef Kandra und Moritz Brum trafen sich das erste Mal unwissentlich im Gymnasium am Kinsky-Palais. Während Brum ein aufgeweckter und strebsamer Schüler war, hatte Kandra in seiner sehr stillen Art zwar ebenso gute Zeugnisse, zeigte jedoch immer deutlich, dass er eine Abneigung gegen seine Mitschüler und Lehrer hatte. Diese Abneigung machte er nicht durch Äußerungen oder sichtbares Verhalten deutlich, man bemerkte an Josef immer ein Lächeln, das mal gelangweilt, mal verloren aussah, verbunden mit mitleidiger Anteilnahme. Begegnet waren sich Moritz und Josef dort nie.
Das erste wissentliche Treffen fand nach einem Vortrag Brums über Nietzsche statt. Brum griff die Gedankenwelt des von vielen verehrten Nietzsche förmlich an, so dass Kandra, der dem Vortrag schweigend wie immer folgte, ihm in ihrer ersten Unterhaltung seine anderen Ansichten klarzumachen versuchte. Das Gespräch verlief sich, aber beide hatten einen Freund gefunden.
In den folgenden Monaten ging Josef oft zu den Vorträgen seines Freundes. Man lernte noch andere kennen, die gleiche Interessen hatten, und es bildete sich ein kleiner Kreis aufstrebender Denker und Dichter. Moritz und die anderen lasen viel öffentlich, während man von Josef lange Zeit nicht wußte, dass auch er schrieb. Im Gegensatz zu Moritz aber ließ er keinen teilhaben an seinen Werken, von denen er die wenigsten für würdig hielt, nicht im Kaminfeuer brennen. Hin und wieder trieb Moritz ihn an, ein Buch zu veröffentlichen, aber der Widerwillen war groß. Und einige Zeit später, die Freunde kannten einander gut, kam es zur Begegnung in der Wohnung der Brums.

Niklasstraße 36

Die Briefe von Josef an Frieda wurden immer mehr, so dass sie selbst mit den Antworten kaum nachkommen konnte. Immer wieder beschwor Josef sie, ihm nicht mehr zu schreiben, denn das Warten auf einen Brief ertrug er nicht. War ein Brief Friedas unterwegs, so schrieb er schon einen Brief, in dem er sich fragte, wie lang er noch warten mußte.
Moritz erfuhr auf Umwegen von der Anziehung, die Frieda besaß, wenn es um Josef ging: Ihre Schwester Ella, ebenfalls eine Freundin der Familie Brum, kam eines Tages aus Berlin. Sie besuchte die Familie und berichtete Moritz von den zerstörerischen Briefen seines Freundes an ihre Schwester. Der alarmierte Freund versuchte ein Gespräch mit Josef zu führen. Josef hingegen fühlte die Unvereinbarkeiten zwischen seinem Leben mit dem Schreiben und dem möglichen Leben mit Frieda. Damit glich diese Verbindung zwischen den beiden der für Josef ebenso unpassenden Verbindung Bureau und Schreiben. Da war ein Widerspruch, an dem er scheitern würde, dachte Josef.
Kurz nach dem Kennenlernen von Frieda gelang es ihm, in einer einzigen Nacht diesen Widerspruch für gewisse Zeit auszulöschen:
Josef Kandra saß am Schreibtisch. Das Schnarchen des übergroßen Vaters, der weder eine Verwendung für seinen Sohn noch Verständnis für dessen Literatur hatte, stieß wie ein Dolch in seine Ohren. Aber anstatt zu sterben griff er die Feder und vereinte sie in der Einsamkeit des dünn beleuchteten Zimmers mit den Oktavheften seiner Tagebücher. Die Nacht in der Niklasstraße 36 wurde lang für Josef. Die Schiffe, die am Kronprinz Rudolph Quai vorbei fuhren, waren nicht mehr zu hören, denn in Kandras Zimmer tobte ein großer Sturm. Gedanken an Moritz, Gedanken an Frieda und Gedanken an den Vater vereinten sich in der Geschichte, die er niederschrieb. Um den Sohn kreiste alles in der Erzählung. Der Freund eine Verbindung beider, die Verlobte ein Ausweg, der zur Falle wurde. Ein Zimmer, ein Hinterzimmer, in der wirklichen Wohnung das Klosett, als Heim für den alten Vater. Rechtfertigungen, Angriffe, Verteidigung, Intrigen, ein aufrechter Vater. Kein Freund in St. Petersburg. Größer denn je der Vater, das Urteil, der unendliche Verkehr.
Die Feder trieb Josef durch die unsichtbaren Zeilen des Papiers. In wahnsinniger Schnelle eilte sie von selbst geführt, jagend den nächsten Buchstaben, das nächste Wort, den nächsten Satz, den Absatz, dem unerträglichen Ende entgegen, wachsend, schimmernd, in Blut und Schleim aufkeimend.
In den Tagen nach der Erzählung war Josef immer noch benommen. Moritz war voller Glück, denn sein Freund nutzte die Gabe seiner Bestimmung. Einige Lesungen und eine spätere Veröffentlichung würden folgen, aber der Zwiespalt Frieda blieb wie eh und je.
In seinen Briefen bewunderte Josef ihre bürgerliche Standhaftigkeit, ihr praktisches Denken und ihr Geschick –von allem schien er selbst kaum etwas zu haben. Im Bureau kannte man ihn als stillen, aber geschickten Mitarbeiter. Dass er dies alles nur schien, um in Ruhe die Stunden der Arbeit zu schaffen, das wußte niemand außer Moritz und Frieda, denn sein Klagen um sich selbst nahm kein Ende mehr.
So schrieb Frieda an Moritz. Und Moritz schrieb an Frieda. Aufklärung der Lage und ein paar klare Worte von Josef wollte sie. Denn obwohl sie sich schon hunderte von Briefen geschrieben hatten, kannte sie den Mann dahinter nicht. Obwohl er Unendliches von dem Bureau, von den verständnislosen Eltern und den Schwestern schrieb, kannte sie nichts davon richtig. Obwohl er stets von Literatur schrieb, hatte sie noch kein Buch von ihm im Geschäft gesehen. Ihre Eltern hätten gern gewußt, wer der junge Mann aus Prag war, mit dem sie bekannt wurde. Aber da kam nichts.
Und als etwas kam, da war es im größten Teil eine Rechtfertigung des eigenen Unvermögens, verbunden mit einer langweiligen Beschreibung seines Arbeitsplatzes als Mitarbeiter der halbstaatlichen Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt des Königreichs Böhmen. Moritz malte sich die sich in Grenzen haltende Begeisterung der Eltern Friedas aus. Er beriet seinen Freund so gut er selbst konnte (bei ihm selbst drohte eine Heirat), aber es half nichts. Josef hatte einen Weg beschritten: Er kannte den Kampf, der in seinem Herzen ausgefochten wurde zwischen der Liebe zu Frieda –von dem Wort sprach er selten- und der Literatur. Eine Blüte wuchs in Josef heran, welche einzig und allein Literatur war. Aber weil sein Schreiben so sehr sein Leben war, konnte nichts gut genug sein für ihn (die eine Geschichte aus der langen Nacht ausgenommen). Er wollte Frieda und wollte sie nicht. Das Unvermögen zu Wollen, das Nichtkönnen des Wollens schien alles zu zerstören. Eine Entscheidung mußte her.

Weg nach Askanien

In einem langen Brief schrieb Josef an Frieda seinen Heiratsantrag. Aber weil auch diese klare Entscheidung keine wirkliche war, schrieb er ein paar Tage später, wie wenig er sich als Ehemann denken konnte. Frieda, die das alles überlas, schlug ein Treffen vor.
Josef war wenig begeistert. Moritz redete auf ihn ein, denn immerhin war es wohl ein wenig merkwürdig, dass zukünftig Verlobte einander kaum sahen. Josef aber zögerte es lang hinaus, denn das Schreiben brauchte diese Entschuldigung. Als es dann zum Treffen kam, da war es zu einer ungünstigen Zeit: Der Verlobte Ellas war in der Familie Bergen sehr geliebt, denn er war für die jüngere Schwester Friedas ein guter Fang. Seine Stimme war sehr gewaltig, was für den empfindlichen Josef ein zusätzliches Problem wurde. Abgesehen davon kümmerte man sich wenig über den zwar großen, aber immer leicht gebeugten, schlanken Herrn aus Prag, mit den dunklen Augen, den scharfen Wangen und dem seltsamen Lächeln in jeder Lage. So fuhr er tatenlos und ergebnislos zurück nach Prag. Zweifel und vergebliches Abraten, sowie die Hoffnung, in Berlin keinen Eindruck hinterlassen zu haben, brachten ihm nichts: Es wurde verlobt.
Moritz Brum erkannte die Zweifel und die Angst, welche diese Verlobung in seinem Freund begleiteten. Im Augenblick aber war nichts aufzuhalten. Was sollte denn geschehen ?
In den Kaffeehäusern war Josef kaum noch zu sehen, man traf sich immer seltener, das Theater sah Kandra kaum noch. Für Josef war es nur noch eine Frage der Zeit, bis aus der Verlobung das Schlimmste würde: Heirat.
Ein paar Male noch versuchte er abzuraten, dann wurden die Briefe weniger und man sah sich auch nicht. Der Gedanke, bald nie mehr allein sein zu können, versetzte Josef in Angst. Ins Karolinum, in der Nähe des Obstmarktes, war er auch schon lang nicht mehr gegangen, um den zionistischen Vorträgen Brums und anderer zu lauschen. Palästina war auch kein Gedanke mehr.
Eines Tages, in dieser Zeit der Kälte, erschien in Prag eine junge Frau aus Berlin. Ihr Name war Margaretha Glock. Es sollte ihre Aufgabe sein, zwischen Josef und Frieda zu vermitteln, eine neue Brücke zwischen Berlin und Prag zu errichten. Sie führte lange Unterhaltungen mit Josef, und bald schon schrieben sie einander. Es war nun so, dass er in Fräulein Glock mehr Verstehen finden konnte als je in Frieda, die er zwar stets liebte, die aber ihm so fremd war (sie hatte übrigens ihm Fremdheit vorgeworfen). Kandra behielt zwar das Taktgefühl, so etwas nicht zu sagen, aber hinter den Zeilen seiner Briefe klang es an. Zum Beispiel nannte er sich Frieda gegenüber nur noch „J“ am Ende eines Briefes, während er am Ende eines Briefes an Fräulein Glock ihr alle guten Wünsche und seinen vollen Namen schenkte. Aber Fräulein Glock, die ihrerseits großes persönliches Interesse an Josef hatte, machte einen Fehler: Sie übergab Frieda einige von Josefs Briefen, in denen er vor allem die Zweifel an Frieda selbst und an Familie Bergen beschrieb.
Josef Kandra erhielt eine Einladung nach Berlin. Kalt kündigte man ihm an, dass man sich im Hotel „Askanischer Hof“ treffen würde. Im Hotel saß er den Frauen gegenüber. In diesem Nebenraum wurde er angeklagt. Ihm ging auf, was geschehen war, er sagte nichts. Er hegte keinen Groll gegen die Frauen, er sah ein und am Ende ging er allein, während Frieda allein im Hotel blieb. Das war der Prozeß.

Lichter gehen aus

Ein weiteres Mal noch hatten sich Josef und Frieda verlobt, dann wieder entlobt. Josef schrieb weiter wollte wenig veröffentlichen, den Weg aus Prag heraus konnte er erst am Ende schaffen, als er krank wurde. Seine Lungenwunde nahm er weinend und lachend zugleich hin, er sah sie als Folge seines Kampfes. Seinen Eltern riet er ab, ihn auf dem Sterbebett zu besuchen. Richard Mahlstock, ein ungarischer Arzt und Freund, war bei ihm. „Gehen Sie nicht fort“, sagte Josef zu ihm, der sich nur um eine Spritze kümmern wollte. Richard sagte ihm, dass er nicht fortgehen wollte. „Aber ich gehe fort“, sagte Josef.
Moritz war nicht anwesend. In all den Jahren sah er fortwährend den Kampf seines Freundes gegen sich selbst, gegen andere, um das Unzerstörbare in sich selbst zu finden.
Der Kampf wurde zu einem Krieg, dann aber gingen die Lichter aus.

Heute kam ein anderer Krieg.
Moritz lief nun über den Großen Ring, er wollte rechtzeitig seine Helfer treffen, die ihn begleiten würden. Hinter ihm verschwanden die Lichter vom Hradschin. Die Deutschen kamen. Moritz mußte Prag verlassen. Wohin gehen?
Moritz ging nach Osten. Er trug die Erinnerungen und Werke seines Freundes mit sich.
Er nahm Josef mit, endlich nach Palästina.

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Beitrag von Tharon » 12 Jan 2009, 13:45

Kampf gegen Underwood I

Er sah auf den offenen Platz, der hinter den geschlossenen Fenstern eine größere Ferne als die eigene erahnen ließ. Still war es am Abend. Wäre auf dem Platz oder in den angrenzenden Häusern jemand ermordet worden, so hätte man das sicher vernommen, dachte er. Alles würde beginnen mit einem lauten Schrei, dann vielleicht ein Sturz. Wie auch immer es geschehen wäre, man hätte es bemerkt.
Gestern noch lief er, verfolgt nur von den eigenen Schritten, über den Platz und entdeckte das leere Haus. Hinter allen Türen waren alle gegangen, die Treppen abgenutzt, die Wände und Decken lang schon schmutzig. Auf dem Dachboden lagen ein paar alte Tücher und Decken, sie bereiteten eine angenehme Nacht.
Heute war der Tag gerade angebrochen, da griff die Abendröte schon den Platz und schloss alle Häuser in sich ein. In der Tat schien es ihm so, als wenn schon im Morgengrauen die Abendsonne aufging, um möglichst viel Zeit zu sparen, denn bald schon würden sie kommen. Sicher würden sie eilig die Treppen hochsteigen, keine Zeit vergehen lassen, keine andere Tür als die zum Dachboden öffnen, um ihn zu töten, denn dagegen konnte sich niemand wehren.

Underwood würde seinen Henkern zeigen, wo er sich versteckte.

So schlief er aber trotzdem ein. Er wollte nicht schlafen, aber Wort und Zeile zwängten ihn in einen Schlafanzug, den er zuvor nicht trug, stellten ein Bett unter seinen Leib und spielten eine leise Melodie.

Wort und Zeile waren die Schergen von Underwood. Er allein warf sie auf das Papier, ungeachtet des manchmal verstellten Sinns der Geschichten. Und wenn so ein junger Mann, eigentlich nur geschaffen, um auf der Durchreise zu sein, immer ärger in Bedrängnis geraten würde, dann wäre es nicht im Sinne seines Lesers, aber Underwood nahm sich jedes Recht.

Am nächsten Morgen wachte er auf und fand ein angenehmes Frühstück vor sich bereitet. Frisches Brot, teuerste Butter, Wurst und Käse gesellten sich einladend neben einen großen Becher Tee.

Underwood hatte entgegen den Anweisungen jegliche Bedenken des jungen Mannes zerstreut, der so begann, in aller Ruhe unbeschwert zu essen und zu trinken. Kein Gedanke mehr an das Gestern, keine Sorgen trieben ihn. Nur den Hunger hatte Underwood ihm gelassen.
Heute ließ Underwood die Sonne noch schneller in den Abend gleiten. Als der junge Mann sich wieder ans Fenster begab, da bemerkte er zwar, dass kein anderes Haus mehr zu sehen war, aber das erweckte keinen Gedanken. Underwood indes wollte keine Zeugen für seinen Plan:

Plötzlich hörte der junge Mann vom Platz her Geräusche. Es waren die schweren Schritte seiner Henker, die sofort in das Haus stürzten und schnell den Weg auf den Dachboden fanden. Der junge Mann breitete lächelnd die Arme aus. Er umarmte seine Mörder, damit sie ganz sicher mit den Messern Kehle und Herz nicht verfehlen konnten.

An dieser Stelle wünschen wir uns, dass Underwood eingreift, denn er hätte ganz allein die Macht. Wir wünschen uns seine Gnade, damit der junge Mann doch erkennen möge, dass seine einzige Schuld darin bestand, vor seinen Henkern nicht geflohen zu sein. Aber der Kampf gegen Underwood ist aussichtslos. Immer ist der Name des Siegers Underwood. Er tut, was er will: Er lässt Sinn erscheinen, wo keiner ist und nimmt ihn, wo er war. Er unterwandert Wort und Zeile. Damit schafft er seine Welt, in der nur Underwood regiert. Wort und Zeile kommandiert er durch die weiße Welt und erschafft, tötet wahllos. Underwood ist eine Schreibmaschine.
Underwood hat vielleicht auch diesen Text geschrieben.

Kampf gegen Underwood II


Da Underwood –wie ich Ihnen bereits darstellte- nur eine Schreibmaschine ist, kann es eigentlich nicht sein, dass er verändert, streicht oder verheimlicht. Aber dennoch ist es geschehen, behauptet der Autor. Als Beweis führte er zu späterer Zeit einen Auszug einer eigentlich zusammenhängenden Erzählung an. Er deutete an, dass er sich natürlich nicht sicher sein könne, ob Underwood in diesem Fall sabotierte, denn würde Underwood von dieser Untersuchung erfahren, so würde er gewiß alle Worte und Zeilen sich selbst überlassen, um nicht entlarvt zu werden. Dies sind die Auszüge der Erzählung, von der Sie sich vielleicht ein besseres Urteil bilden können:

Wir sind gute Freunde.
Wir teilen alles miteinander.
Einsamkeit ist uns fremd,
Meiner Feder und mir.

In der Taverne

Grauer Rauch und der Geruch von Tabak und Schnaps teilten sich die Luft in einer kleinen Taverne, die ich betrat. Vor dem Regen würde sie mich schützen, auch wenn ich nicht eine einzige Münze in meinen Händen hielt, die ein warmes Mahl ermöglicht hätte. Fast alle Plätze waren besetzt, ich hielt also auf die Theke zu. Doch bevor sich sie erreichen konnte, griff die feste Hand eines Gastes nach meinem Regenmantel. Ich sah in das alte Gesicht eines großen Mannes, der mein Gewicht leicht hätte verdreifachen können. Der Schemel unter ihm bohrte sich allmählich in das Gesäß. Sein Leib hing wie der eines Bären hinab und berührte schon den Boden. Das Gesäß indes faltete sich wie eine nasse Decke um den Schemel, den man bald nicht mehr sehen konnte. Die Ärmchen hingen dürr am riesigen Körper, die mich ergreifenden Hände waren wiederum einem Stück Wurst nicht allzu unähnlich. Mit den kleinen Füßen strampelte er an den Boden, denn die dünnen Beine waren kleiner als der aufgeblasene Oberkörper, welcher schon bebte vor dem ersten Satz, den er sprach: „Regnet es denn immer noch ?“ Ich betrachtete ihn immer noch und hätte fast seine Frage vergessen. „Ja, immer noch regnet es“, entgegnete ich. Er ließ mich los. Dann deutete er auf einen letzten freien Schemel an seinem Tisch. Wir lauschten der Musik und dann erzählte der Wirt eine seiner Geschichten.

Der Hund

Es war einmal ein Hund. In diesem Winter war es sehr kalt, der Hund fror und zitterte am ganzen Leib. Hätte der arme Hund ein Dach über dem Kopf, er wäre wohl an diesem Tag nicht vor die Türe gegangen. Nach einem langen Weg durch den Norden erreichte er endlich ein Dorf. Er klopfte bei den Pferden, aber die hörten ihn nicht. Er klopfte bei den Gänsen und Hühnern, aber die lachten nur. Er klopfte bei den Schweinen, aber die waren gerade zu sehr beschäftigt mit der Politik. Bei den Katzen hingegen klopfte er nicht. Lieber erfror er und starb. Dass eine Katze, die ihn fand, das bedauerte und ihn eingelassen hätte, hätte ihm ganz sicher nicht gefallen.

An der Mauer

Der dicke Mann hob seinen Leib und stand auf. Schemel und Tisch brachen zusammen. Er bezahlte für uns beide die Rechnung und führte mich hinaus in die warme Sonne. An einer Mauer blieb er stehen und zögerte.

An einer grauen Mauer stehen,
Glücklich sein.
Die Augen nicht zu sehen,
Die unaufhörlich starren.
Mit Glück genießen,
Sich im Elend baden.
Dies alles macht eine Mauer so bunt.

Dann schlug er mit seiner Faust gegen meinen Kopf. Ich prallte an der Mauer ab und griff ihn an. Der Kampf ging nicht lang, ich war siegreich und erdrückte den kleinen Wurm.

(Ein Kopf hat natürlich keine Antworten zu geben. Er hat auch keine Fragen zu stellen. Wozu wir einen Kopf haben, das zeigt sich daran, dass wir immer dann gegen ihn schlagen, wenn wir weder eine Antwort kennen noch eine Frage haben.)

Der Wurm

Es regnet. Ich liege auf einem nassen Feld. Nebel und Rauch haben sich langsam verzogen. Ich sehe in die Welt und finde dabei einen Regenwurm. In der Nähe eines Toten liegt er und stirbt. Ich bin ihm ähnlicher als einem Menschen in diesem Krieg. Ich bin ganz sicher selbst der Wurm. Dass die Sonne aufgeht und einen Regenbogen schimmern lässt, das bemerken wir alle nicht mehr.

(Ein nachdenklicher Mensch würde die Liebe anzweifeln. Sie ist schrecklich, wenn sie das letzte Heilmittel ist für den, der wegen der Liebe das Denken aufgegeben hat.)

Spaziergang

Nachdem er den kleinen Mann zerdrückt hatte, wälzte sich der Riese den Weg entlang und traf auf einen Wartenden. Der Wartende reichte ihm die Hand, denn hier wollten sie sich schon seit Stunden treffen. Gemeinsam spazierten sie in den Park. Dort reichten sie einander wieder die Hand. Mit der anderen Hand aber griff der Wartende einen Stock und schlug ihn dem Riesen auf den Kopf. Der Riese fiel in einen kleinen Bach, der ihn fort spülte.

(Aufgeregt und vollkommen verwirrt ist man, wenn man eine solche Nachricht bekommt. Noch aufgeregter wird man beim Öffnen des Umschlags, dessen Stempel verwischt ist und der ansonsten gar nicht beschriftet ist. Und weil man zu aufgeregt und verwirrt ist legt man sie ungelesen lieber auf die Seite –oder besser in den Müll- und wartet auf eine erfreulichere Nachricht.)


Ich habe mit dem Autor gesprochen, ob er zufrieden damit sei. Er sagte dann:

„Ein junger Mensch wird immer verraten werden.“ Dann klopfte er mit dem Zeigefinger auf den Tisch. Schließlich sah er rüber an den Schreibtisch. Dort stand besagter Underwood. Ich selbst konnte an dem Ding nicht entdecken, was eigenartig zu bemerken wäre.

Dann gab er mir noch einen Text, den er selbst nicht verstand, denn Underwood habe ihn geschrieben, versicherte er:

Ich

Ich ging den gewohnten Weg, begegnete den fremden Menschen, denen man gewöhnlich mit einem scharfen Blick sagt, sie sollen verschwinden. Er ging seinen gewohnten Weg, als Ich ihn aufforderte, zu verschwinden. Da gab Er Ich zu verstehen, dass er ja auch das Recht habe, hier seinen Weg zu gehen. Wir prügelte sich.
Als ich dann des Weges kam, da war er frei. Ich brauchte mich mit keinem der drei Herren messen.

Und die:

Verzweiflung

Natürlich war es falsch von diesem jungen Mann, sich einfach zu Tode zu stürzen.
Er aber öffnete das Fenster, trat ein paar Schritte vor, blickte hinab, beachtete die Schreie seiner Lieben, sah wieder hinab, zögerte nicht.
Natürlich hätte man ihn aufhalten können: Das Fenster hätte verschlossen sein können, die Lieben hätten ihn halten können.
Da es aber so geschah, öffnen wir lieber das Fenster, spüren den lichten Wind und werfen uns hinab. Wenn wir dann nur noch eine Kruste sind, dann sind wir der Anlaß für andere, verzweifelt zu sein.

Abschließend fand ich in der Schreibmaschine hängend noch dieses Fragment:

Das Nest

Wenn der Nebel sich ausbreitet, wenn der Weiher den Morgentau begrüßt, wenn die Enten fröhlich rufen, wenn seichter Wind aufkommt, dann sitzen wir gern auf einer Parkbank, dann atmen wir feuchte Luft, dann hören wir den Lauten, dann bemerken wir, wie ein kleines Vogelnest aus einem Baum fällt, den Weg hinab auf die Straße mit den Automobilen. Wenn wir die Vogelmutter sehen, die im kalten Dunst fliegt, den tiefen Tümpel umkreist, die quakenden Enten befragt, den schmerzenden Wind durchquert, dann ist unser einziger Wunsch deutlich und klar.

Die Angelegenheit um Underwood jedenfalls scheint geklärt. Da ich keine Beanstandungen zu machen habe, was die Schreibmaschine betrifft, habe ich sie dem Autor zu einem guten Preis abgekauft. Die Maschine tut bestens ihr Werk, und ich sehe keinerlei Anzeichen für Sabotage.

Und wieder gewinnt am Ende Underwood. Eine Seite wird aufgeschlagen und die Überschrift sollte diese sein: Verlorene Kriege gegen Underwood.

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Beitrag von Tharon » 12 Jan 2009, 13:46

Kinder


„Mit dieser Karte kann ich Ihnen das Medikament nicht ausstellen“, sagte die Verkäuferin mit einer Ruhe, die ihn noch mehr erblassen ließ. Ohnehin war er schon sehr fad im Gesicht geworden, und es mochte wohl nicht mehr lang dauern, bis man ihn nicht mehr erkennen würde. Man würde ihn nicht beachten, nicht unbedingt, weil man das so wollte, sondern wohl eher, weil man nicht anders konnte. Er würde einfach nicht auffallen, weder in einer Menge, noch unter wenigen.
Gestern war er schon in einer anderen Apotheke. „Nein, so kann ich Ihnen das Medikament nicht verkaufen“, sagte auch dort eine Verkäuferin, deren Gelassenheit bereits drohende Züge annahm. Auch dort rutschte er verschämt mit den Schuhen über den kahlen Boden. Auch dort atmete er unruhig. Auch dort sah er sich um, ob wohl jemand Mitleid haben wollte. Aber auch dort, so wie hier, zeigte niemand Erbarmen. Dort sagte er dann: „Warum nicht ?“ Das war eine Frage, die er hier wiederholte, die auch hier eine knappe Antwort bekam: „Weil dort unten keine Unterschrift des Arztes zu finden ist.“
Er atmete schneller. Seine Augenbrauen, die kaum noch sichtbar waren und in diesem Augenblick endgültig verschwanden, bäumten sich ein letztes Mal auf an die fliehende Stirn. Sie war in den letzten Tagen und Wochen immer größer geworden. Die Stirn runzelte nicht mehr. Sie neigte sich weit über den kahler werdenden Kopf nach hinten, um irgendwo im dürren Genick, das mal dicker war, sich zu verstecken. Kein Haar war mehr an seinem Platz, alles war verschoben oder fort. „Aber ich brauche es dringend“, sagte er mit leiser Stimme. Sie wäre wohl lauter gewesen, jedoch schien auch sie langsam aber sicher stiller und kaum noch erkennbar zu werden. Er räusperte sich und wartete die Antwort ab: „Das mag so sein. Hier fehlt aber die Unterschrift. Und ohne die kann ich nichts für Sie tun“, sagte die Verkäuferin ruhig. Es war aber nicht die ungewollte Ruhe wie in seinen Worten, sondern die Ruhe einer Person, die sicher war, nichts tun zu wollen, keine Spur von Bedauern zeigen zu wollen.
Wieder rutschten seine kleiner werdenden Füße über den Boden. Gestern noch kaufte er sich neue Schuhe, heute schon sind sie zu groß für die Füße. Auch die Hände waren nicht mehr so, wie sie einst auf die Welt kamen: Wie Fäustlinge, aber sehr klein und dürr, hakten die Hände an seine dünnen Hüften, die sich jeden Tag ein wenig mehr nach innen wandten, bis sie bald nicht mehr da waren. So geschah es vor kurzer Zeit nämlich mit seinem linken Arm. Der war morgens einfach fort. Die Hand blieb. Sie legte sich von selbst an die Schulter und harrte ihrem Entschwinden entgegen. Die Körperteile, die verschwanden, waren auch nicht mehr zu finden. Am Anfang, als es begann, da konnte er wenigstens sein rechtes Ohr aufbewahren, auch wenn es nicht mehr nutzbar war. Das entstandene Loch schloss sich zwar von selbst, aber kein Arzt der Welt könnte wohl ein Ohr annähen, das am nächsten Tag wieder abfallen würde. Aber dann begann das Verschwinden, und er konnte keine Reste mehr im Bett entdecken.
„Da, da ist doch die Unterschrift“, bemerkte er zitternd. „Nein, die meine ich nicht. Bei der Mengenangabe, da fehlt sie“, sagte die Frau mit verärgertem Tonfall. Wieder schwieg er eine Weile. Auch seine Gedanken ordneten sich nicht mehr so schnell wie früher. Alles verfing sich seit kurzer Zeit irgendwo im schrumpfenden Kopf, nur noch Restgedanken waren zu finden. Der Kopf hatte etwa die Größe einer Orange, mehr war nicht übrig. Auch das Hirn mochte wohl geschrumpft sein, so wie der Körper insgesamt. Sehr auffällig war die Wirbelsäule, an der bestimmt drei oder vier Wirbel fehlten, denn der Hals war auch schon gegangen. „Ich kann nicht sein ohne das Medikament“, sagte er verbittert. Keine Antwort.
Die Frau bediente den nächsten Kunden, der schon wartete. „Ich werde es dem Arzt schicken müssen“, sagte sie noch, ohne ihn anzusehen.
Die Worte vernahm er noch, dann war das andere Ohr fort. Er hatte es erwartet und war nicht überrascht. Sein Blick war der Blick einer Person, die den Verlust hatte kommen sehen. Er kniff die Augen zusammen und wartete ab. Als er sie öffnete, da sah er nur noch aus einem Auge, das andere war auch gegangen. Einfach so und immer schneller passierte es.
Vor einigen Tagen zum Beispiel fühlte er einen Drang, sich Badewasser einzulassen. Als er im angenehmen Wasser lag, geschah wieder etwas: Sein Darm entleerte sich ohne Ankündigung. Aber das, was er fand, das waren Teile seines Inneren, die zu beschreiben ihm im Augenblick nicht möglich sein würde. Immer leerer fühlte er sich. Morgens verlor er nach und nach seine Zähne. Anfangs platschten sie, vermengt mit Speichel und Blut, ins Waschbecken. Später lösten sie sich einfach auf. Zu Beginn konnte er sie auffangen, dann aber fing er immer ins Leere. Und Leere war genau das Gefühl, welches ihn umgab. Keine Gedanken, immer weniger Körper, nur noch stilles Auflösen war willens, ihn zu töten.
„Ich, ich brauche Hilfe“, weinte er in den Raum. Die anderen Menschen aber ignorierten seinen leisen Ruf. Wahrscheinlich war die Stimme bereits verschwunden, vermutete er.

Als er sich umdrehte, um die Apotheke zu verlassen, erinnerte er sich an seinen Besuch beim Arzt:
Den Namen entdeckte er im Telefonbuch. Auf einer ansonsten unbeschriebenen Seite stand er geschrieben. Am gleichen Tag noch, als er den großen Zeh vermisste, stieg er in die Straßenbahn und fuhr bis in die Altstadt. Dort ging es einen Hügel hinauf. Abseits von allen Wegen fand er den Arzt. Ein Wartezimmer gab es nicht. Lediglich ein kleiner Flur führte auf den Dachboden. Dort standen Regale, darin viele Bücher, aber keines der Medizin. Nun, ein wahrer Genius braucht keine geschriebenen Weisheiten, dachte er in diesem Moment. Kurz darauf kam der Arzt, sah ihn an. Er solle sich ausziehen und hinlegen, deutete er an. Also legte er sich nackt auf den morschen Holzboden. Der Arzt rollte ein Maßband aus und untersuchte ihn. Ohne zu sprechen verschrieb er das Medikament, welches er wohl nicht mehr bekommen konnte, dachte er.

Draußen, vor der Apotheke, da war es kalt. Hätte er noch Haar, dann würde es mit ihm zittern. Als er über die Straße ging, da stolperte er. Beide Beine verschwanden. Mühsam kroch er wie ein Insekt auf die andere Seite und legte sich auf eine Bank im Park. Er hoffte, am nächsten Morgen endlich fort zu sein.
Das geschah nicht. Als er sich betrachtete, als die Morgensonne den Tau auf den Wiesen berührte, als der Nebel sich verzog, da war er nur noch ein Stumpf. Selbst der Kopf war gegangen.

Der Stumpf rollte sich von der Bank herunter und purzelte über die feuchten Wiesen. Er vergnügte sich am Anblick spielender Kinder, die das ganze Leben für ihn waren. Still wünschte er ihnen alles Gute, das es auf seiner Welt irgendwo geben würde. Im Angesicht der warmen Sonne waren die Kinder wie eine große Hoffnung für ihn.
Der Stumpf bewegte sich wie ein zertretener Ball auf den Bürgersteig. Die angrenzende Straße war stark befahren. Als die Straßenbahn kam, rollte sich der Stumpf auf die Schienen, um endlich zerstört zu werden.

In diesem Moment, bevor die Bahn ihn erfassen konnte, verschwand er endlich.
Die Sonne stand zu diesem Zeitpunkt bereits hoch am blauen Himmel, der erst sehr spät sich verdunkelte. Auch in der Nacht war es besonders hell, bemerkten die Kinder.

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Beitrag von Tharon » 08 Aug 2010, 12:05

Bakerstreet meets East India meets Sperm Whales and Iron Girls meeting Tipu Tiger

1

„Ihr wollt also tatsächlich gesehen haben, wie der Tiger ihn angefallen hat?“, fragte der Oberste Richter.
Sir William Horneby, ein erwiesener Nachfahre vom berühmten Seefahrer Nicolas John Steven Horneby-Splattering, dem man alles, nur keinen Orientierungssinn nachgesagt hatte, runzelte seine zerfurchte Stirn in immer tiefere Canyons. So tief, dass er selbst mühelos darin segeln könnte, wäre da nicht dieser schrecklich schlechte Sinn für alles, was mit Richtungen zu tun hatte, welchen ihn ebenso zweifellos mit Nicolas John Steven Horneby-Splattering in Verbindung brachte.
Man sagte Sir William Horneby nach, in seiner brustummantelten Innentasche sei sogar ein Bauplan des Gerichtsgebäudes der British East India Company angebracht, von seinem treuen Gehilfen Walter Holmesworthy-Kneebottom – dessen Familie war immer schon ein Musterbeispiel an Orientierungssinn gewesen, aus welchem Grunde er vor seiner Stelle als Gehilfe von Sir William Horneby Kapitän auf einem kleinen Handelsschiff der British East India Company, der ‚Dorian Blue‘, seinen Dienst getan hatte – bis ihn ein mächtig großer Pottwal angegriffen hatte, der sogleich sein linkes Bein unterhalb des Knies abgerissen hatte.

Dieser Wal, der von den Kapitänen der British East India Company nur ‚The Mighty Indian Brain Whale‘ genannt wurde, war noch immer das grässlichste Ungeheuer in den Gewässern des Indischen Ozeans; von Jom Kloppur bis Lalala Lampuk sprach man nur von The Mighty Indian Brain Whale, dessen Kopf dreimal größer war als bei jedem anderen Exemplar dieser ohnehin schon riesenhaften Gattung.
Man sprach auf den Schiffen der British East India Company sogar davon, dass The Mighty Indian Brain Whale weitaus gefährlicher war als der berühmte Pirat Small Sam Doodle, den man ob seines mächtig kleinen Gemächtes so nannte. Die geringe Größe seines besten Stücks kannte man aus den glaubhaften Berichten der Hure Very Best Bernadette.

Very Best Bernadette verkehrte, obwohl sie aus dem englischen Dorf Whorechester stammte, neuerlich (und das seit 6 Jahren) in den Hafenkneipen, die direkt der British East India Company zugehörig waren.
Sie war eine sehr dicke Frau, und ihre Brüste verglich man sogar mit den zwei Höckern, die oben an The Mighty India Brain Whale’s riesigem Schädel angebracht waren.
Noch heute sagte man sich, dass sich The Mighty Indian Brain Whale diesen eklatanten Dachschaden zugezogen habe, während er vergeblich versucht hatte, das legendäre eiserne Tauchboot des Erfinders Sir Balthasar Friendly zu rammen. Das Boot, die ‚Iron Girl‘, war von Sir Balthasar Friendly im Hafen von Saint Sorrow errichtet worden.

Saint Sorrow war ein grauslicher Ort, wo die Menschen Tag und Nacht nur lachten. Nicht nur weil der Name Saint Sorrow daher ziemlich unpassend schien, sondern weil alle Saint Sorrower eben diese schrecklich unnachlassende Freude hatten, verteufelte man den Ort seit jeher.
Der alte Seebär Algernon Alan A. Zzhrufrantinson sagte einmal:
„Wer diesen Ort gegründet hat, muss ein echter Trauerkloß gewesen sein. Wieso sonst hätte er wohl verfügen sollen, dass vom Tag der Gründung an nur noch gelacht werden darf. Es ist zum Erbrechen öde dort!“
Dem konnte jeder nur zustimmen.
Geschlafen wurde in Saint Sorrow niemals. Es wurde nur gelacht. Mahlzeiten dauerten meist Stunden, so dass man nach einem Gelage (durch das ständige Rumglucksen fiel ohnehin alles überall hin, nur nicht in den Mund) meist auf das folgende übergehen konnte. Wirtschaftlich stand Saint Sorrow vor seinem Ruin, weshalb auch Leute wie Algeron Alan A. Zzhrufrantinson oder Sir Balthasar Friendly den Ort eiligst verlassen hatten. Der eine in seiner ‚Iron Girl‘, der andere mit dem riesigen Handelsschiff ‚Euphemia‘.

„Das kann ich nur wiederholen, Sir“, antwortete der bekannte Händler für Untauschbares, Sir Scott Scott Meanwhile.


2

Während er sich eine Tabaksdose hervor holte, bekräftigte er mit einem Nicken seine Aussage.
Das tat er andauernd. Immer während er etwas tat, tat Sir Scott Scott Meanwhile noch etwas anderes.
Das irritierte hier jedoch keinen mehr, denn der Oberste Richter Sir William Horneby war scheinbar viel zu sehr damit beschäftigt, vor seinem geistigen Auge den Plan des Gerichtsgebäudes der British East India Company zu studieren – hatte er doch bereits vergessen, wie bei allen Klabautermännern er diesen Saal überhaupt verlassen würde.
Walter Holmesworthy-Kneebottom humpelte an den Richtertisch und flüsterte Sir William Horneby den Weg hinaus noch einmal zu. Über die Jahre hatte Walter Holmesworthy-Kneebottom seinen Arbeitgeber gut studiert, weshalb er genau wusste, wann was zu tun wäre. Sir William Horneby nickte bedächtig und konnte sich wieder sammeln.

„Und wie soll das geschehen sein?“, fragte Sir William Horneby den Zeugen Sir Scott Scott Meanwhile, während dieser die Dose indes wieder in die Tasche gesteckt hatte, um zu antworten, während er sich die Nase schnaufte, während er viel seltsames Zeug zu tun hatte.
„Ja, das war so: Mr. August Caesar Jefferson betrat den großen Saal, wo bereits der werte Tipu Sultan und sein Gefolge Platz genommen hatten. Alle Anwesenden, die wir hier sehen, waren auch dort zugegen. Ich spreche von Tipu Sultan, natürlich auch von Euch, Sir William Horneby, meiner Wenigkeit, sowie Walter Holmesworthy-Kneebottom, Mr. Sam Doodle, Very Best Bernadette, Sir Balthasar Friendly, Mr. Algeron A. Zzhrufratison. Sir Balthasar Friendly hat seine Erfindung, den Tipu Tiger, einen mechanischen Automaten, vorgestellt. Die Begeisterung aller, ich kann nicht verstehen, weshalb Ihr, Sir William Horneby, es nicht gesehen haben wollt, hielt sich natürlich in Grenzen. Nur Tipu Sultan, seine Herrlichkeit und Herrscher Mysores, waren angetan davon, dass der Tiger ein Modell eines Soldaten der British East India Company angreift“, sagte Sir Scott Scott Meanwhile, während er sah, wie Walter Holmesworthy-Kneebottom dem Obersten Richter Sir William Horneby etwas flüsterte.

Wohl den Weg zum Ausgang oder die Erklärung, dass Sir William Horneby bei der Aufführung des Tipu Tigers geistig abwesend gewesen war, weil er sich erneut gefragt hatte, wo er bloß wäre.
Während Meanwhile seine Aussage machte, wurde einer im Raum immer nervöser. Denn nach der Aufführung des Tipu Tigers war Sir Balthasar Friendly, der nie Feinde hatte, ermordet worden, weshalb jetzt sein aufgebahrter Leichnam neben Tipu Sultan, Walter Holmesworthy-Kneebottom, Sam Doodle, Very Best Bernadette und Algernon A. Zzhrufrantinson stand.

Wer nervöser wurde, das war Walter Holmesworthy-Kneebottom, der aufgeregt hin und her lief, bis ihn Very Best Bernadette ansprach:
„Aber, aber, mein lieber Walter Holmesworthy-Kneebottom, was seid Ihr denn so nervös?“
„Ach, nichts“, log Walter Holmesworthy-Kneebottom, „es ist nichts.“
Das bekamen aber alle anderen zu hören.
„Teilt doch Eure Nervosität mit uns“, forderte Sir Scott Scott Meanwhile Walter Holmesworthy-Kneebottom auf, während er selbst gerade ein neues Brandzeichen für seine zahlreichen Makakoko-Pakuken entwarf (das waren affenähnliche in Bäumen lebende Rinder der Pantschuli-Atolle, die südnördlich von Saint Sorrow lagen).

Der Oberste Richter Sir William Horneby forderte seinen Gehilfen Walter Holmesworthy-Kneebottom ebenso auf, in den Zeugenstand des Gerichtsgebäudes zu treten, dessen Ausgänge Sir William Horneby wieder verloren gegangen waren.
„Ich habe die Lösung!“, skandierte Walter Holmesworthy-Kneebottom erfreut. Vom Leichnam des Erfinders, Sir Balthasar Friendly, ging kurz ein seltsames furzendes Lachen aus.
„Na los doch!“, rief schließlich Tipu Sultan, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. Nun wurde ein anderer sehr nervös, während Sir Scott Scott Meanwhile den Zeugenstand verlassen hatte, um Walter Holmesworthy-Kneebottom sprechen zu lassen:
„SIE waren schon immer eifersüchtig auf IHN! Weil ER nämlich SIE bekommen hat und DAS nach IHR benannt hat! Dann haben SIE IHN darüber informiert, weil ER nämlich wie ICH SIE verloren hat, aber DAS keinem zugestehen will. Als dann DAS gebaut wurde, waren alle irritiert, während ER dann IHM gesagt hat, dass DAS nicht DAS ist, aber sehr wohl DAS! Als dann ER mit UNS DAS gesehen hat, war IHM klar, dass ER es tun MUSSTE! Denn Nicolas John Steven Horneby-Splattering ist, wie er, nicht tot!“

Da schwiegen alle im Raum, denn Walter Holmesworthy-Kneebottom hatte soeben erklärt, wie die ‚Iron Girl‘, The Mighty Indian Brain Whale, zwei Scheintote und Very Best Bernadette der Schlüssel zu gesamten Lösung gewesen waren. Man ging auseinander, schweigend und bedrückt.

Was hatte er denn nun gesagt?

Es hat sich dies abgespielt, vermutet man heute:

Mr. Algernon A. Zzhrufrantinson, der Seemann, ist schon immer ziemlich neidisch, weil Sir Balthasar Friendly bei allen so beliebt ist.
Sein Boot, die „Iron Girl“, hat der Erfinder nämlich benannt nach den riesigen titanischen Brüsten von Very Best Bernadette. Denn die beiden haben sich vor einigen Wochen heimlich verlobt. Und zwar auf der Insel Saint Sorrow.
Der Begründer der fröhlichen Inselgemeinschaft ist kein anderer als Nicolas John Steven Horneby-Splattering (der den zweiten Nachnamen erhalten hat, weil er seine ganze Mannschaft abgeschlachtet hat, um sie zu verspeisen). Nach der Gründung hat er sich aber aus dem Staub gemacht, weil er dieses Gelächter nicht mehr ertragen hat – zumal er beinahe verhungert wäre, denn auch die Köche lachten den ganzen Tag (was der Grund ist, dass er seine Mannschaft gegessen hat).
Richter Horneby ist gar nicht so orientierungslos, sondern begeisterter Sportsegler. Er ist zur Zeit der Verlobung auf Saint Sorrow gewesen und hat alles gesehen.
Das hat er dann Mr. Zzhrufrantison auch erzählt (der lag sturzbesoffen auf der ‚Euphemia‘). Holmesworthy-Kneebottom hat auch davon gehört (durch den Richter), und er und Zzhrufrantison haben dann einen Plan ausgeheckt, Friendly zu töten:
Erst wollten sie The Mighty Indian Brain Whale auf Friendly hetzen, aber der wollte nicht, weil er sich den Schädel ja schon einmal an der ‚Iron Girl‘ gestoßen hatte.
Holmesworthy, der endlich ausgepackt hat, hat dann die Idee bekommen, Friendlys Tipu Tiger so zu manipulieren, dass er den Erfinder selbst tötet. Meanwhile aber, in Wahrheit Nicolas John Steven Horneby-Splattering, hat dann Mr. Zzhrufrantinson erklärt, dass die Erfindung nicht das Mordwerkzeug sei, wohl aber ein Scheinmotiv, um es aussehen zu lassen, als hätten die Anhänger der British East India Company Friendly wegen der majestätsbeleidigenden Erfindung ermordet.
Splattering hat die Tat dann selbst übernommen, indem er Friendly den tödlichen Lachsack in die Hosentasche geschmuggelt hat.
Der Pirat Small Sam Doodle aber hat alles belauscht. Beleidigt, weil Splattering ihn immer schon geärgert hatte, was sein Gemächt anging, hat er den Lachsack rechtzeitig entfernt und ihn in seine Hose gesteckt (er ist immun dagegen, weil er schon so viel Spott ertragen hat, dass so ein Lachsack ihm gar nichts mehr anhaben kann).
Gemeinsam haben sie den Plan ersonnen, Friendly möge sich tot stellen. Holmesworthy, der später eine große Sippe an Detektiven begründen sollte, war ganz allein darauf gekommen!

(Man sagt, fortan habe Small Sam Doodle, wenn jemand ihn ausgelacht hat, sein Gemächt ebenso schallend lachen lassen.)

(Man sagt auch, dass The Mighty Indian Brain Whale bald ein sehr erfolgreicher Erfinder von Bademoden für Mollige geworden ist.)

(Man sagt zudem, dass Very Best Bernadette seine very best Kundin geworden ist.)

(Man sagt überdies, dass Sir Balthasar Friendly bald schon den ELEKTRRRISCHEN DOSENÖFFNER erfunden hat.)

(Man sagt ohnehin, dass Walter Holmesworthy-Kneebottom sein bester Kunde geworden ist, weil er sich von Sir Scott Scott Meanwhile hat einreden lassen, wie er Tabak zu schnüffeln.)

(Man sagt, was ulkig ist, dass auch Meanwhile Friendlys bester Kunde geworden ist.)

(Man sagt, dass der Oberste Richter eine Regatta gewonnen hat, die ihn bis nach Eschnapur geführt hat - wo ein Tiger sein bester Kunde geworden ist.)

(Übrigens sagt man auch, dass Mr. Zzhrufrantinson seinen Namen in Schmitt geändert habe.)

(Was man aber auch sagt, ist, dass wikipedische Artikel schon immer für Verwirrung gesorgt haben.)

(Der Verfasser dieses Berichts ist sein eigener bester Kunde, sagt man sich.)

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Beitrag von Tharon » 04 Feb 2011, 15:36

Mal sinnloser:

Phylloscopus collybita - Der Gezalpte


Du grasmückenartiger Zirper!
Komm, oh komm!
ZzzilpZzzalp, ZzzilpZzzalp -
Nächtigst schon an meinen Ohren,
ehe ich herzbetrunken schneidend
in meine Venen gleitend schwimmend
die Tränen pulsen kann,
die du mir gereichet hast,
oh du jauchzend Vogel.

Langstreckengezogen zalptest du
schon Kinderbeine,
die juchzen und schluchzen,
derweil du nur sagst und rufst und wehst:
Zilptrrtzalptrrtzelptrrtzilptrrtzalphuiiid!

Wie dein treuer Laubgesang mich in
gevögelte Nachtträume schlawenzelt,
spüre ich – Oh Jammer! - es ist die Zeit
des Frühlings noch nicht da!
Wird dein gülden Federkleid im Frost nicht
stets ganz kalt?
Schreckgebeutelt fühl ich deinen zitternd
kühlen Bürzel – Oh Jammer! - 's ist ganz klein
gekältet!
Dem Schwänzlein Söckchen überstreifen tät ich wohl -
doch gleitet er geschwind,
mein Kind wohin, wohin,
ins süße warme Afrika.

Atemlos erleichtert schaue ich dir nach,
Zilpzalp,
wie du mit Schwingen kondorengleich geweitet
in wärmere Gefilde fliegst.
Bist doch nicht von der Art,
wie sie im Tatarenlande wohnt,
die wi-di wii-di wii-di wii widi wii tschiwi tschiwi tschiiwi'ierend
durch die Tundra tummeln.
Frierst doch hier, mein kleiner Freund!
Flieg, flieg, flieg, mein gülden Gott -
und komm im Frühjahr wieder.
------------------

Freitagseuphemie I


Wie wir gestern im Vokal sitzen,
schlägst du deine Endreime übereinander
und fast verschlucke ich ein scharfes S
(du weißt doch:
ich vertrage nur deine Schärfe).
Ich hyperbeliere dauernd,
wenn ich an deine warmen Symbole denke,
wie sie – einem Geschwür gleichend -
metaphersieren und meinen Oden straffen,
derweil die anderen Gäste sich wohl fragen:
Macht die jedem Enjambements?

Wie ich heute an dich denke,
scharre ich mit den Versen über das kalte Sonett.
Hab gestern viel getrunken;
die Frage vom japanischen Kellner,
ob wir noch ein Haiku wollen,
musste ich verneinen.
Vom Scharren wird mein Stab gereimt
und ich bete:
„Lass sie keine Allusion gewesen sein.“

Schnell greif ich das Kakophon,
wähle deine Nummer
und dann -
kotze ich Konsonanten.
Du hast mir was in den Drink gekippt,
du beschissene Katachrese!
Das zeugma von Gemeinheit!

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Beitrag von Tharon » 04 Feb 2011, 15:49

Mittwochsentropie I

Im hypoxischen Lebensraum
träumen die Molratten rückwärts.
Gleichwarm gruppenkuschelnd
erfahren sie wechselwarme Gefühlsbäder.

Elf magische Aminos fehlen ihnen,
aber ohne Substanz P
ist die Entropie erträglicher.
Besonders für sie.
Für die Königin.

Endemitisch vergraben in
lateritischer Roterde tummelt sie
ihre Befruchter um sich herum.
Genackt und gemullt hat sie nur ein Ziel:
mehr, mehr, mehr.

Aber wenn heute die Arbeiter streiken,
wird sie immer schmaler,
bis am Ende kein Stress mehr
zwischen Hormon und Arbeiterin ist:
Es wird gekämpft.
Es wird befruchtet.

Es geht weiter
mit der Nacktmullenentropie.

---

Donnerstagsbibliophilie I

Erst neulich hab ich
- ganz nüchtern -
ein Buch gelesen.
Wie die da erklären
- in nummerierten Zeilen -
was die ersten Menschen taten!
Schon bewegend.

Dann hab ich
- ganz unverwandt -
vom Homer was gelesen.
Wie der da erklärt,
- so griechisch einfach -
was die Sirenen so machen!
Schon fantastisch.

Dazwischen hab ich
- ganz dringend -
den Lokus ausprobiert.
Wie der ganz warm wird,
- so von selber -
während ich Joyce lese,
das ist schon schön.

--

Sonntagsphysiologie I

Wie ein schleichender
Furz,
der durch schmal
pressende Portale
- ergo: lautlos -
sich in die Vorhänge
infiltrierend flatuliert,
damit die Gäste
nicht mehr zum Kuchen bleiben,
hat sich doch
- ganz glatt wie die Substanz, die
dem Gasleck folgt -
der Sonntag zwischen den
Sekundenzeiger
geschissen,
während ich eigentlich
ein Gedicht über
den Samstag schreiben
wollte,
der von mir
- unbemerkt und eilig -
in den Kanal einer
vergangenen Woche
gespült worden ist.
---------------
Hier bitte abtrennen -
Papier ist für alle da.

--

Wenn mir sogar Pantoffeltierchen
ihre müden Schuhe um die
Ohren hauen,
immer wieder,
wiederholen,
wiederholen.

Wenn sogar Schlagersänger
nicht mehr können
als Oh Oh Oh Oh
und manche Zeilen wiederholen,
wiederholen,
manche Zeilen wiederholen,
wiederholen,
wiederholen,
tja dann:

Halten mich Kleinganoven
einzellig fest und klatschen
in amöbenhafte Scheinarme,
die sie gar nicht haben,
aber haben,
wiederholen,
wiederholen,
manche Zeilen wiederholen.

Stellen sich sakral und bemüht
Tierchen auf die Vorderbeine,
heben den Arsch an
und geißeln sich selbst,
immer wieder,
wiederholen,
wiederholen,
manche Zeilen wiederholen:
Mea maxima culpa.

Tja dann:
Kacken mir andere Einzeller
ins Gesicht.
Immer wieder wiederholen,
wiederholen,
kacken immer wieder
zu Wendlers Oh Oh Oh,
wiederholen,
wiederholen,
manche Zeilen wiederholen:
Weil ich mit der Fresse
in eine Pfütze gefallen bin.

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Beitrag von Tharon » 04 Feb 2011, 15:53

Zelt. Innen. Nacht. Gestalten im Zelt.

"Da war was."
"Was?"
"Na, da war was."
"Und was?"
"Geräusche."
"Da war nix."

"Schon wieder."
"Was?"
"Na, Geräusche."
"Da ist nix."
"Doch."
"Nein."

"Da sind Geräusche."
"Was?"
"Geräusche!"
"Nein, da sind keine Geräusche."
"Doch!"
"Nein!"

"Gut, ich hab es jetzt auch gehört."
"Was?"
"Die Geräusche."
"Siehst du!"
"Ja. Da ist was."
"Was?"
"Irgendwas."
"Aber was?"
"Keine Ahnung. Vielleicht ein Tier."
"Ein Tier?"
"Ja, ein Tier."
"Was will ein Tier hier?"
"Keine Ahnung. Jetzt ist es weg."

"Schon wieder. Du gehst jetzt gucken."
"Nein. Ich will schlafen."
"Hast du es auch gehört?"
"Ja. Ich will aber schlafen."
"Und wenn das Tier hier rein will?"
"Was soll es denn hier? Schlafen?"
"Es ist kalt."
"Soll ich es herein bitten?"
"Nein! Es soll abhauen!"
"Auf mich wird es nicht hören. Geh du doch."
"Nein! Jetzt ist es ja schon wieder weg."

"Und wenn es kein Tier ist?"
"Dann sind es eben Leute."
"Leute? Was wollen die denn?"
"Wahrscheinlich in ihr Zelt und schlafen."
"Wieso laufen die dann hier rum?"
"Geh sie doch fragen."
"Nein, du fragst!"
"Nein, ich will schlafen."
"Ich höre die Leute schon wieder!"
"Schön, aber ich schlafe jetzt."

"Bist du noch wach?"
"Ja."
"Ich auch."
"Schlaf doch einfach."
"Kann nicht. Da sind Leute."
"Soll ich sie fragen, was sie wollen?"
"Nein!"
"Eben sollte ich."
"Nein, ist egal. Wir schlafen jetzt."
"Gut."

"Du?"
"Ja?"
"Ich höre die schon wieder."
"Ja, ich auch."
"Gehst du mal fragen?"
"Eben sollte ich nicht."
"Ja, jetzt aber."
"Ich will aber schlafen."
"Bitte, geh' doch mal fragen!"
"Gibst du dann auch Ruhe?"
"Ja, versprochen!"

"Hallo? Ist da wer?"
"Was?"
"Na hallo, ist da wer?"
"Was ist denn?"
"Hallo."
"Ja, hallo. Was ist denn?"
"Alles klar?"
"Ja, und bei euch?"
"Ja, alles in Ordnung."
"Okay."

"Siehst du, alles ist in Ordnung."
"Gut. Was wollten die denn?"
"Keine Ahnung."
"Hast du denn nicht gefragt?"
"Hab gefragt, ob alles in Ordnung ist."
"Und?"
"Alles in Odnung."
"Okay."

"Die sind ja immer noch da."
"Ja, na und?"
"Warum machen die das?"
"Was?"
"Die Geräusche."
"Keine Ahnung. Ist mir auch egal."
"Mir aber nicht! Fragst du nochmal nach?"
"Nein!"
"Bitte!"
"Nein!"
"Och, bitte!"
"Nein! Ruhe jetzt!"

"Du?"
"Ja?"
"Bin schon wach."
"Was?"
"Schon hell."
"Echt?"
"Ja."
"Bin so müde."
"Die Leute sind immer noch da."
"Und was wollen die?"
"Keine Ahnung."
"Na, dann frag die doch mal. Ich hab nachts gefragt."
"Okay."

"Hallo?"
"Ja, hallo."
"Was macht ihr denn da?"
"Geräusche."

Antworten