Vergangenheit - Hier
Ich winkte den Schiffen hinterher, die langsam am Horizont verschwanden. Das Meer glitzerte und nur kleine Wellen umspülten den Steg, an dem vor kurzem noch das Schiff meiner Freunde gelegen hatte. Tharon hatte ich eines meiner Insignien, die Tiara des Lethos mitgegeben, damit sie erhalten blieb. Während ich weiter auf das Meer blickte und meinen Freunden viel Glück bei ihrer Reise wünschte, kamen mir wieder Begrifflichkeiten über Zeit, Raum und alternative Realitäten in den Sinn: Erinnerungen an Gespräche mit Valverian und Maestlin und an das, was noch vor mir lag.
Stundenlang hatte ich mich mit dem Elaya Valverian über das Element Zeit unterhalten und mit ihm Hypothesen diskutiert, die ich sogar schon einmal in einem Buch als Pytharas niedergeschrieben hatte. Damals war es mir nur noch nicht bewusst gewesen. Es war schon seltsam, wie ein anderes Bewusstsein sich denselben Körper teilen konnte. Bewusstsein und Körper waren auch die Elemente über die ich mit Maestlin gesprochen hatte. Maestlin war ein Genie, wenn auch mit einem fragilen Geist, aber seine Ideen und Sichtweisen über die Zeit und Metawissenschaften waren außergewöhnlich. Während dieser Gespräche reifte in mir ein Plan, den ich mit Maestlin bei Wein und Brot lange Abende in der Küche der Abtei diskutierte. Es ging um Fixpunkte in der Zeit und die mögliche Überschneidung alternativer Realitäten. War es möglich, ein Abbild von sich zu erzeugen, wenn sich Realitäten überschnitten, um so bewusst die eigene Existenz weiterzuführen?
Bei Kerzenschein saßen wir zusammen, sogar noch, als die Glocken zur Frühmesse läuteten. Wir schrieben Formeln auf Pergamente und fertigten Zeichnungen an. Oft bat ich Ascanio als meinen Vertreter, dass er die Messe halten möge. Er und auch einige Mönche begannen sich, um mich zu sorgen, aber ich versicherte ihnen, dass dies ein vorübergehender Zustand sei. Alles würde sich ändern, wenn der Bau des Tempels abgeschlossen sei, wenn endlich Frieden entstehen könnte. Wenn endlich wieder ein Gleichgewicht im Kosmos herrschte. Unvergiftet vom Einfluss einer Maschine, die die Kraft und Möglichkeiten eines Gottes hatte, aber auf der Suche war nach dem Sinn seiner eigenen Existenz, seiner Seele.
Die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz war auch zentral für mich geworden, als ich weiter am Tempel plante. Die Begegnung mit meinem Sohn (?) ließ mich daran zweifeln, dass mit der Vollendung des Tempels auch mein Weg sein Ende finden würde.
Wie besessen arbeitete ich an einem neuen Weg, eine Abzweigung, um den Fluss der Zeit für mich nutzbar zu machen. Die Möglichkeit, die ich als Theorie in Betracht gezogen hatte, arbeitete mit der Annahme, dass es immer ein Abbild unserer eigenen Realität gab, ein Spiegelbild. „Nairyc“ hatte damals das Wesen auf der Brücke gesagt. Eines der Wesen, welches ich mit dem Seelenspiegel in Verbindung gebracht hatte. Der Seelenspiegel, der Tempel, die Elementarknoten, ich als Fixpunkt und die Zeit als Variable waren die Elemente für die Formel, die es zu entwickeln galt.
Aber mit wem sollte ich darüber sprechen? Valverian war verschwunden und Maestlin war zu Akasha gegangen, so wie er es sich immer gewünscht hatte. Ich war mit diesen Überlegungen allein mitten in einer Zeit, in der alles in Begriff war, sich zu verändern.
Wenn ich keine Berechnungen durchführte, begann ich, meine eigenen Aufzeichnungen, Bücher und Papiere zu kopieren. Mein Wissen wollte ich für mich selbst erhalten. Denn wie würde ich sein und mit welchem Wissen, wenn es funktionierte?
Mein Rücken schmerzte als ich mich auf dem Steg umdrehte. Das Laufen war beschwerlich geworden. Mein Körper alterte um Jahre in Stunden und Minuten. Ich stützte mich auf meinen Stab, der ein klopfendes Geräusch auf den Holzplanken erzeugte, als ich mich mit seiner Hilfe vom Steg hoch zum Tempel bewegte. Meine Schritte wurden immer beschwerlicher, als ich die steinernen Treppenstufen erklomm. Oben angekommen sah ich inmitten des Tempels die Rose und das Licht, das mich zu sich rief. Der Zeitpunkt war da. Die Sonne stand richtig. Ich durfte die Konstellation nicht verpassen. Ich warf den Stab beiseite und begann, ohne ihn los zu humpeln, zu laufen, zu rennen, bis ich das Licht erreichte. Es umhüllte mich, blendend, wärmend und wie von weiter Ferne konnte ich ein klirrendes Geräusch vernehmen.
Vergangenheit - Dort
Unter uns tobte die Schlacht. Knochige und halb verweste Wesen, teils menschlich und teils dämonisch bildeten Schlachtreihe umd Schlachtreihe gegen die anstürmenden Horden des Feindes aus der Finsterschlucht. Erdtitanen so groß wie mehrere Häuser lieferten sich Zweikämpfe mit den Megalotheren der dunklen Alten. Die Nekromanten Lebans hatten viel zu tun, um die Gefallenen beider Seiten wieder zu reanimieren, um so unsere Reihen wieder aufzufüllen. Zusammen mit den Kriegsmagiern der Akademie bildeten wir Kleriker unser beider Religionen das Rückgrat der Allianz, denn wir konnten es uns nicht mehr leisten, unsere lebenden Soldaten in die Schlacht zu schicken. In den Jahren des Krieges hatten wir solche hohen Verluste erlitten, dass das Leben einen unschätzbar hohen Wert bekommen hatte. Die Kirche des Liras hatte ihre Priester dazu bewogen, den Weg des Zorns in den Mittelpunkt zu stellen und nicht mehr den der Heilung. Wer sollte auch geheilt werden? Der Krieg wurde nur noch mit Magie und göttlicher Kraft geführt. Immer wieder konnte keine Seite einen entscheidenden Vorteil erringen. Den einen Tag drängten wir die dunklen Alten zurück, den anderen Tag standen sie kurz vor Bretonia Immensis. Ein seltsames Gleichgewicht war über die Jahre entstanden.
Unterhalb Bretonias hatten wir seltsame Katakomben entdeckt, die mit Lava durchsetzt waren. Zusammen mit der hohen Luftfeuchtigkeit hatten es die Animisten der Kelten geschafft, hier Pilzkulturen zu etablieren, die nun unser Hauptnahrungsmittel bildeten. Oben war das Land karg und öde geworden. Schwarze Erde. Die Konsequenz davon war, dass die Menschen nach Bretonia flohen und Bretonia war gewachsen. Als Beispiel hierfür sei nur zu erwähnen, dass Burg Hohenfels ein Teil der neuen Stadtmauer geworden war, ein Wachturm und der große Fluss verlief nun mitten in der Stadt. Die Erdelementare der Theurgen hatten ganze Arbeit geleistet. Bretonia Immensis nannte manche unsere Stadt, in der nun nicht mehr nur Bretonen lebten.
Oft schon hatte ich mich gefragt, was das Ziel dieses Krieges eigentlich sei. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass unser Feind uns etwas mitteilen wollte. Aber das war momentan unwichtig.
Meine Greifenschwadron zog vom Schlachtfeld ab. Wir waren zu sechst mit unseren Greifen: Fünf Paladine des Liras und ich als anführender Kleriker. Die Schwadron sollte eine Schleife über der Ebene der Vergessenen fliegen, um Truppenbewegungen zu beobachten und um Quentar des Feindes abzufangen. Keine leichte Aufgabe, denn die Quentar des Feindes waren ebenso wachsam wie effektiv. Ich gab das Zeichen, dass wir die Greifen in höher gelegene Wolkenschichten leiten sollten. Plötzlich hörte ich hinter mir das Geräusch vom Schlagen ledriger Schwingen. Ich zog Aquilinius zurück und drei Quentar umkreisten uns. Die Wesen begannen zu kreischen, als Liras’ Kraft um mich herum aufblitzte. Noch nie war der Lichtlblitz so hell gewesen. Ich hatte Mühe mich auf Aquilinius zu halten. Dann zersplitterte etwas, irgendwo.
Vergangenheit - Irgendwo
Er hat es also tatsächlich getan, dachte der Rotberobte und schaute in die Unendlichkeit der sich reflektierenden Spiegel. Er war einer derer, die die Zeit kannten, wie auch Valverian.
Zerbrach ein Spiegel war dies ein Zeichen dafür, dass ein Ereignis diese Realität veränderte. Die Splitter arrangierten, formten sich dann neu, ein neuer Spiegel entstand.
Nun waren zwei Spiegel gleichzeitig zerbrochen, auch das war noch nichts Außergewöhnliches. Außergewöhnlich war die Neuformation: Zwei kleine Splitter aus den beiden verschiedenen Spiegeln verschmolzen und formten sich in einem Spiegel neu. Es waren winzige Splitter, aber er erkannte mit einem seltsamen Lächeln das Gesicht Cyrians.
Dann sah er sich den neu entstandenen Spiegel genauer an: Der Rosentempel war zu sehen, der Exodus. Er formte eine Zeitlinie für diesen Spiegel und sah einen blutigen Erbfolgekrieg auf dem Kontinent und den Kampf gegen Lazarus auf Blyrtindur, wie dies auch in anderen Realitäten geschah. Trotzdem gab es ein kleines Detail: Cyrian von Vitrearius in Kettenrüstung und mit einem Greifen, ohne Robe des Lethos und jung an Jahren.
Frühe Vergangenheit - Hier
Lichter tanzten um mich herum, als ich die Augen aufschlug. Es war dunkel und ich konnte den Wind hören, wie er durch die Blätter rauschte. Ich lag auf dem Rücken inmitten einer Lichtung, wo Irrlichter tanzten. Dazwischen stand Aquilinius, der mich musterte und dann schnaubte. Ich richtete mich langsam auf und sah mich um: Bäume, Gras, Laub und Erde. Das konnte nicht wahr sein. Dies war jedenfalls nicht die Ebene der Vergessenen. Hier waren Pflanzen und Bäume. Hier roch es nach feuchter Erde und altem Laub. Gerüche, wie aus meinen Kindheitstagen. Aber trotzdem war mir dieser Ort irgendwie vertraut. Eine seltsame Unruhe umfing mich. Aquilinius schien mit dieser Situation zufrieden zu sein. Er tollte den Irrlichtern nach, so wie ich es bisher noch nie bei ihm gesehen hatte. Er war immerhin ein Kriegsgreif der Liras Kleriker.
Ich atmete tief durch und sog die frische Luft mit Genuss ein. Hier lag kein Gestank des Todes in der Luft. Hier war es so ruhig und friedlich. Die Irrlichter tanzten nun näher an mich heran und kreisten dann um einen Stein, der sich auf der Lichtung befand.
Dieser Ort war mir so seltsam vertraut. Ich ging auf diesen Stein zu. Erinnerungen erwachten in mir: Namen, Orte, Ereignisse. Vielleicht träumte ich ja bloß, aber dafür war das hier viel zu real.
Einer Eingebung folgend scharrte ich am Fuß des Steines im Boden und grub dort die Erde zur Seite. Ich grub immer schneller, als ob ich wusste, was ich dort finden würde. Eine Kiste aus Metall, eingeschlagen in Leder kam nach einer Weile zum Vorschein. Als ich das Metall berührte, sah ich mich mit einer Robe bekleidet, wie ich mich über die Kiste beugte, wie ich darin Bücher, Gegenstände und sogar Gold verstaute. Ich strich mit der Hand über die Kiste, die absolut eben gearbeitet war, keine Schlitze oder Öffnungen waren zu erkennen. Als ich die Kiste im schwachen Licht der Irrlichter ein wenig drehte, konnte ich ein Symbol erkennen: Eine Sonnenuhr. Das Wort „Semperum“ kam mir plötzlich in den Sinn und ich legte dieses Wort murmelnd meine Hand auf die Sonnenuhr. Das Symbol und der obere Teil der Kiste lösten sich auf. In Futterale gehüllt fand ich Bücher, Zeichnungen und Pergamente. Mein Kopf begann zu schmerzen, als immer mehr Bilder vor meinem Auge aufblitzten. Fragmente von Erinnerungen, die sich langsam zu einem Ganzen verbanden.
Ich legte den Inhalt der Kiste behutsam auf den Boden und begutachtete ihn. Ein versiegelter Brief befand sich darunter. Versiegelt mit dem Zeichen des Lethos: Sonne und Mond im Einklang. Ich war es gewesen, der den Brief geschrieben hatte, als Lethos Cyrian von Vitrearius. Ich bin Cyrian von Vitrearius, Greifenreiter und Kampfkleriker des Liras. Was ging hier nur vor?
Mit pochendem Herzen sammelte ich Holz und entzündete ein Lagerfeuer. Aquilinius kam zu mir und legte sich an meiner Seite auf den Boden. Er schien zu spüren, dass mich etwas beschäftigte. Ich setzte mich und nahm den Brief zur Hand. Als ich ihn geöffnet hatte, gab es kaum noch einen Zweifel daran, dass ich ihn geschrieben hatte, denn es war meine eigene Handschrift.
Was ich las war erstaunlich, aber nicht unverständlich. Vor dem großen Krieg war ich den Wissenschaften nahe gewesen und konnte mit diesem Wissen erschließen, was dieser Cyrian versuchte zu erklären. Im Brief stand etwas über alternative Realitäten, Spiegelbilder und Parallelwelten geschrieben. Er war von dieser Welt gegangen und der Leser, also ich, von meiner Welt. Dies wäre gleichzeitig in einem für den Fluss der Zeit wichtigen Moment geschehen. Durch die Fixpunkttheorie in der Zeit würde sich die Möglichkeit ergeben, diesen Zeitpunkt zu nutzen, um ein Fenster in eine andere Realität zu öffnen. Der Zeitpunkt wäre das Entscheidende. Die Aktvierung der Akasha Felder und der damit verbundene Aufbau der Energien in den Elementarknoten würden sich bis in das Mathricodon auswirken und dieses Fenster durch die Überlappung der Realitäten öffnen. Hätte diese Theorie nicht funktioniert, würde ich diesen Brief nicht lesen und hätte nicht diese Erinnerungen an ein anderes Leben. Cyrian, also ich, schloss mit den Worten, dass mein Wissen in diesen Büchern niedergeschrieben sei: Mein Leben und Mein Wirken, als Wegweiser für mich, der ich er sei. Mit jeder Zeile, die ich las, verschmolzen unsere Erinnerungen weiter. Wir begannen eins zu werden.
Gegenwart - Hier
Ein Jahr war nun vergangen. Ein Jahr voller Wunder, aber auch voller Wunden, die die Menschen durchlitten, hatte sich mir geboten. Der Krieg gegen die dunklen Alten war zwar beendet, aber von der Insel Blyrtindur, die eine neue Heimat nach dem Exodus bot, waren beunruhigende Nachrichten und Gerüchte gekommen. In Bretonia stritt man währenddessen um einen Thronerben. Ein Bürgerkrieg war heraufgezogen, aber auch dieser endete, irgendwann.
An vieles musste ich mich wieder erinnern, so dass mir dieses Jahr wie eine Pilgerfahrt vorkam, die ich unternahm, um mich selbst zu finden. Viele Orte hatte ich aufgesucht, die in den Tagebüchern erwähnt worden waren. Anfangs hatte ich noch meine Kapuze tief in das Gesicht gezogen, damit mich die Leute nicht erkannten. Mit der Zeit nahm ich die Identität eines Familienangehörigen derer von Vitrearius an. Als Nairyc Vitrearius bereiste ich den Kontinent und sprach mit Menschen, die auch den Lethos Cyrian gekannt hatten, sofern ich sie noch finden konnte. Alle diese Bruchstücke sammelte ich. Mit jedem Bruchstück ergab sich ein konkreteres Bild meiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Zukunft war es, die mich am meisten beschäftigte, denn die Zeit war im Fluss und ich war ein Teil dieses Flusses geworden. Auch, wenn mich eine Abzweigung hierher verschlagen hatte, so hatte ich auch ein zweites Leben bekommen, das ich nur noch mit echtem Leben füllen musste.Statistik:Verfasst von Durarr — 02 Jan 2011, 12:39
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